Schreiben der NDPD zur Lage in der DDR
17. September 1989
Hinweis auf ein vom Vorsitzenden des Bezirksvorstandes der NDPD Gera vorbereitetes und zur Verteilung vorgesehenes Schreiben zu Problemen der Entwicklung der DDR [Bericht K 3/106]
Nach vorliegenden internen Hinweisen hat der Vorsitzende des Bezirksvorstandes der NDPD Gera, Ruddigkeit,1 ein Schreiben verfasst, das er – in Gegenwart der Vorsitzenden der anderen Bezirksvorstände der NDPD – am 20. September 1989 dem stellvertretenden Vorsitzenden der NDPD, Hartmann,2 mündlich vorzutragen und anschließend zu übergeben beabsichtige.
Den Hinweisen zufolge treffe Ruddigkeit in seinem Schreiben die Feststellung, dass er es für erforderlich halte, über Fragestellungen aus der Mitgliedschaft zu herangereiften Entwicklungsproblemen zu informieren. Diese Probleme würden an Umfang, Intensität und Schärfe zunehmen und wachsende Tendenzen der Verdrossenheit, der Gleichgültigkeit und auch der Hilflosigkeit erkennbar werden lassen. Es heißt dann weiter: »Diese Haltungen haben zur Folge, dass eine wachsende Zahl von Parteifreunden, darunter auch langjährige Mitglieder, den Schulterschluss zur Partei lockern oder verlieren, dass sich die Austritte und Ausschlüsse nach Republikflucht mehren und gegenwärtig die Neuaufnahmen die Abgänge nicht mehr kompensieren. Eine an Umfang gewinnende Irritation greift um sich.
Die Parteifreunde erwarten nahezu einhellig auf aktuelle Fragen unserer Gesellschaftsentwicklung Antworten, denen sich weder das ZK der SED noch der Ministerrat stellen, zu denen sich auch unsere Parteiführung nur verschwommen äußert und mit denen die Bezirks- und Kreisverbände allein gelassen werden.
Dieses mangelnde Vertrauen zu den Bürgern unseres Staates, die Herabwürdigung ihrer Mündigkeit, die zunehmenden Versuche, die sozialistische Demokratie zu überlisten, das belastet zunehmend das Verhältnis und die Einheit von Volk, Partei und Staat.
In der nicht zur Kenntnis genommenen aktuellen Situation in der DDR und der ausbleibenden ehrlichen Analyse und im Verzicht auf die Gefolgschaft breiter Teile der Werktätigen liegen nach Auffassung vieler Parteifreunde die letztendlichen Ursachen für die Flucht von Tausenden DDR-Bürgern über Ungarn in die BRD und die seit Jahren nicht abreißende Ausreisewelle.3
Wenn die zweifellos vorhandenen permanenten Aktivitäten zur Diskriminierung der DDR durch die BRD und die hemmungslose Benutzung der Flucht von DDR-Bürgern für die Durchsetzung des politischen Grundkonzeptes der BRD-Politik lediglich genutzt werden, um die Ursache-Wirkung-Dialektik außer Kraft zu setzen, dann mehrt das den Vertrauensschwund in der Bevölkerung.
Eine solche Bewertung und die daraus resultierende Pressekampagne von ADN, die übrigens aus dem Arsenal des kalten Krieges und der 50er und 60er Jahre stammend empfunden wird, findet wenig Resonanz und mündet in kritiklose Inanspruchnahme westlicher Medien.
Eine grundhafte Veränderung des politischen Klimas in der DDR und seine produktive Verwendung lassen sich nicht erzielen, indem die FDJ-Erfolge der 50er Jahre – womöglich noch mit den gleichen Methoden – beschworen werden.
Unsere Zeit, so meinen Parteifreunde, braucht eine schonungslose Analyse der Lage, die offene und ehrliche Beantwortung auch unbequemer Fragen ohne Tabus.
Unsere Zeit braucht innenpolitisch neues Denken und vor allem Handlungen, Veränderungen, die in Kurzzeiträume greifen und nicht auf kommende Jahrzehnte vertrösten.
Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung könnten ein solcher Anlass sein, um eine solche umfassende und ehrliche Bestandsaufnahme zu machen.
Ich habe diese Auffassungen eines wachsenden Teiles der Mitgliedschaft zusammengefasst, weil mir und vielen Parteifreunden diese Entwicklung Sorge bereitet, weil sie unseren gemeinsamen Wahlen entgegensteht und die Ergebnisse von 40-jähriger Entwicklung in der DDR diskreditiert.
Ich habe diese Auffassung aber auch formuliert, weil zunehmend mehr Parteifreunde erwarten, dass wir als NDPD zur Festigung der führenden Rolle der SED unseren Anteil an der Machtausübung in der DDR rasch nutzen sollten, um dort Achtungszeichen zu setzen, wo anstelle von Kontinuität Erneuerung notwendig wird.«