Tagesbericht
24. Juni 1953
Tagesbericht Nr. 1 [Meldung Nr. 23/53]
[Titelzusatz:] zusammengestellt und ausgewertet aus den vorliegenden Unterlagen der Abteilungen und Bezirksverwaltungen
Die Lage in Berlin und der Deutschen Demokratischen Republik war am 24.6.1953 absolut ruhig. Irgendwelche Ereignisse, Streiks, Demonstrationen usw. sind nicht vorgekommen.
[Besondere Vorkommnisse]
In einigen Betrieben der Deutschen Demokratischen Republik fanden Belegschaftsversammlungen und teilweise auch Parteiversammlungen statt. Charakteristisch dafür sind einige Betriebsversammlungen, in denen Mitglieder des Politbüros wie der Genosse Walter Ulbricht im VEB »7. Oktober«, Otto Grotewohl [im] »TRO Karl Liebknecht« und Friedrich Ebert [bei] »Bergmann-Borsig« zu der Belegschaft sprachen.
Trotz des teilweise starken Beifalls war zu erkennen, dass unter den Arbeitern dieser Betriebe noch starke Neigung zur Abwartehaltung vorhanden ist. Obwohl der am stärksten negative Teil der Versammlungen fernblieb, war trotzdem uneingeschränktes Vertrauen zur Regierung und unserer Partei noch nicht erkennbar, doch kamen direkt feindliche Stimmungen nicht zum Ausdruck. Die Versammlungen verliefen ohne Zwischenrufe.1
Ein anderes Beispiel wird von der Bezirksverwaltung Erfurt gemeldet. Am 23.6.1953 fand im VEB EMW Eisenach, Bau B Nord, eine Belegschaftsversammlung statt. Teilnahme 40 Personen, die sich im Laufe der Versammlung auf 280 Personen erhöhte. Das Referat hielt der 1. Sekretär der Betriebsparteiorganisation, der laufend durch Zwischenrufe, Gejohle usw. unterbrochen wurde. Äußerungen wie: »Er hat uns besoffen gemacht«, »Hängt ihn auf, schlagt ihn tot« usw. wurden getan. Bei den provokatorischen Zwischenrufen handelt es sich um fünf Personen, die bereits am 17.6. und 18.6.1953 zum Streik aufforderten (werden operativ bearbeitet).
Im VEB Optima fand am 23.6.1953 eine Abteilungsversammlung der Abteilung Werkzeugbau statt. Von 500 Personen sind 40 erschienen. Diskutiert wurde über die hohen Preise, Qualität von Textilien und Normen. »Die Menschen in Deutschland sind Menschen 2. Grades, weil sie nur schlechte Waren bekommen, die guten aber werden exportiert.«
In der Thüringer Konservenfabrik Buttstädt wurde in der Belegschaftsversammlung, die von 97 % der Belegschaft besucht wurde, zum Ausdruck gebracht, dass die Regierung Maßnahmen treffen müsste, um die Grundgesetze mit der Bevölkerung besser zu diskutieren und besser zu erläutern.
Parteiversammlung im Karl-Liebknecht-Werk Magdeburg am 23.6.1953: Von 90 Mitgliedern waren 28 anwesend. Diese Mitgliederversammlung war nicht durch eine Leitungssitzung vorbereitet, dementsprechend auch nicht den Erfolg zeigte. Über die festgesetzten Maßnahmen der Regierung zur Verbesserung der Lebenslage wurde nicht diskutiert, jedoch über Schwächen und Mängel im Betrieb und der Regierung. Unter der Partei herrschte in den Streiktagen keine Klarheit und am Ende dieser Versammlung wurde erst Klarheit durch einen Angestellten des MfS über die gegenwärtigen Aufgaben der Partei geschaffen.
Aus allen Berichten über durchgeführte Parteiversammlungen ist aufgrund der Beteiligung und Diskussion zu ersehen, dass das Vertrauen seitens der Bevölkerung zur Partei und Regierung noch nicht voll hergestellt ist. Die Bevölkerung steht den Beschlüssen der Regierung abwartend gegenüber.
Zum Stand der Versorgung der Bevölkerung
Die Versorgung der Bevölkerung ist im Wesentlichen gesichert. Meldungen, dass Lebensmittel oder andere Gegenstände nicht vorhanden sind, liegen nicht vor. Diskussionen aus der Bevölkerung ergeben: Warum werden bevorzugt Konsumgeschäfte mit Waren, Butter, Zucker, Gemüse und dgl. beliefert, während [diese] in Privatgeschäften nicht vorhanden [sind] und die Hausfrauen an den Konsumgeschäften stundenlang stehen müssen.
Große Verärgerung herrscht unter den Rentnern über die vorgestern herausgegebene Mitteilung, dass Freibankfleisch2 für Berlin nur in dem Bezirk Friedrichshain verkauft werden soll, ohne eine Kontrolle der ausgegebenen Menge. Von ihnen wurde der Vorschlag gemacht, den Verkauf von Freibankfleisch in allen Bezirken zu organisieren und Ausgabekarten mit dem Rentenempfang auszugeben, wonach der Verkauf aufgerufen wird (z. B. gibt es im Bezirk Weißensee über 1 000 Rentner, die unmöglich an einem Tage und einer Stelle abgefertigt werden können). Hausfrauen beschweren sich, dass es in der HO noch immer keinen Weißzucker gibt, da doch jetzt die Einkochzeit heran ist. Gleichfalls erzeugt das Nichtvorhandensein und die hohen Preise für Butter und Fettstoffe Missstimmung in der Bevölkerung. Aus Berichten von staatlichen Handelsorganen sind folgende Mängel zu ersehen: Die Versorgung von Fleisch ist zwar noch gesichert, jedoch tritt sie in eine sehr kritische Lage, da seit Anfang Juni die Erfassung und der Aufkauf von tierischen Erzeugnissen zurückging und in den letzten Tagen noch weiter unter dem vorgeschriebenen Plan lag. (Hierbei ist die abwartende Haltung vieler Bauern bei dem Verkauf von Schlachtvieh zu berücksichtigen.) Die vorgesehene Menge an Margarine für das 2. Quartal ist bisher nur zu einem Drittel bereitgestellt worden.
Die abwartende Haltung der Bauern kommt in folgendem Beispiel zum Ausdruck: Der parteilose Landwirt [Vorname Name 1], wohnhaft in Lübbenau, [Straße, Nr.], äußerte: »So wie die Sache jetzt aussieht, werden wir doch kein Vieh mehr liefern. Die Sache kommt doch anders, und dann kriegen wir eine andere Währung und das Geld geht uns verloren.« Er versuchte einen Ochsen, den sein Sohn bereits geliefert hatte, wieder aus der Viehaufkaufstelle zurückzuholen, was ihm jedoch nicht gelang.
Charakteristische Beispiele über die Stimmung der Bevölkerung
Kollege [Name 2] aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg sagte im Namen seiner Kumpel auf die Provokationen antwortend, dass sie ihren Planrückstand aufholen und die Provokateure entlarven helfen. Der Ofen VI erreichte bereits am 22.6.1953, gegen 11.00 Uhr, die Planauflage und erfüllte vorfristig den Halbjahrplan.
Am 22.6.1953 traten die Kumpel des Schmelzbetriebes an den Werksleiter mit der Bitte heran, die Voraussetzung zu schaffen, dass sie als Antwort auf die Provokationen des Klassengegners zu Ehren des Geburtstages von Walter Ulbricht die bisher höchste Tagesproduktion durch eine Stoßschicht erreichen können.
Die Rückkehr der Inhaftierten aus der Bootswerft in Gehlsdorf und ihre positive Diskussion, z. B. ihre gute Verpflegung beim MfS und das Einsehen ihrer Fehler, die Warnung an die Kollegen, dass sie den Inhaftierten nur helfen können, wenn sie ihrer Arbeit ordnungsgemäß nachgehen, wurde von allen Beschäftigten positiv unterstützt.3
[Vorname Name 3] vom Betriebsschutz Tuchfabrik, Am Haag, erklärte: »Wir müssen vorsichtig mit den Begriffen RIAS-Hörer und Provokateur umgehen. Die ganzen Fehler, unter deren Auswirkungen wir jetzt leiden, sind durch unsere Überspitzungen hervorgerufen worden. Walter Ulbricht hielt vor Kurzem in Fürstenberg ein großes Referat, wobei er auch über die sozialen Einrichtungen sprach. Wir ergriffen hierauf die Initiative, in unserem Betrieb eine Kinderkrippe einzurichten. Für ein Kind zahlt man 6,50 DM die Woche. Jetzt kam ein neues Gesetz von der Regierung heraus, in dem es heißt, dass Kinderkrippen von den Kollegen selbst finanziert werden müssen, daraufhin erhöhten wir den Betrag auf 12,50 DM die Woche. Dieses Gesetz ist meiner Ansicht nach grundfalsch. Eine soziale Einrichtung muss vom Betrieb finanziert werden, sonst ist es keine. Bedenken wir einmal, dass eine Mutter, welche 45,00 DM die Woche verdient und ein kleines Kind hat, 12,50 DM zahlen soll, damit das Kind untergebracht ist und sie dem Volke ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen kann. Das ruft natürlich unter den Kollegen großen Ärger hervor. Wir Funktionäre müssen jetzt die Regierung auf diese Fehler aufmerksam machen. Hat bisher jemand dagegen gesprochen hieß es: ›Du bist ein RIAS-Hörer, du liegst schief.‹ Das war in der Vergangenheit einer der größten Fehler, dass unsere Funktionäre bisher zu viel gemüllert haben.«
[Vorname Name 4], Großbauer in Rauschwitz: »Nun haben wir den Mist, das ist aber die Politik der SED, immer vorn dran stehen und große Fresse haben. Jetzt sieht man ihre Kunst, unsere Zeit ist aber wieder gekommen, denn ohne uns geht es ja doch nicht. Vielleicht geht es bald noch einmal los, denn da sind die Arbeiter noch nicht beruhigt. Wir halten unsere Schnauze auch nicht.«
[Name 5], Bau-Union Maxhütte: »Der Aufruhr, der bis jetzt gewesen ist, ist noch lange nichts. Erst nächste Woche geht der Generalstreik richtig los. Der Spitzbart, der muss weg (gemeint ist Walter Ulbricht) und überhaupt noch fünf Mann von der Regierung.«
[Name 6], Uffz. Kommando Nostorf: »Wenn ich ledig wäre, wäre ich schon längst abgehauen.«
Neu eingegangenes Material über Entstehung der Bewegung, Organisatoren usw.
Auf der Baustelle vom Staatlichen Rundfunkkomitee wurde von 15.05 Uhr bis 15.10 Uhr von den Bauarbeitern ein Sitzstreik in Verbindung mit der Kundgebung in Westberlin durchgeführt.
Im wissenschaftlichen Institut, Berlin O 112, Neue Bahnhofstraße,4 haben ca. 100 Personen in der Zeit von 15.45 bis 15.50 Uhr in Verbindung mit der Kundgebung in Westberlin die Arbeit niedergelegt.
In dem wissenschaftlich-technischen Büro, SAG Weißensee, wurde am 23.6.1953, 15.30 Uhr, für einige Minuten nicht gearbeitet. Einem Betriebsangehörigen, welcher den Werkmeister fragte, warum nicht gearbeitet würde, wurde zur Antwort gegeben: »Frag doch die Kollegen selbst und überbring’s, wenn ich nicht tragbar bin für diesen Betrieb, dann kann ich ja das Haus verlassen, aber dann weißt du ja selbst was los ist.«
Gegen 11.00 Uhr wurde im RAW Grunewald bekannt, dass gegen 15.30 bis 15.35 Uhr Arbeitsruhe eintreten soll wegen der Demonstration in Westberlin. Wer dies aufbrachte, ist nicht bekannt. Die gesamte Parteileitung wurde sofort in Kenntnis gesetzt und leitete Maßnahmen ein, da ein Teil der Belegschaft für die Pause war. In den Diskussionen mit den Arbeitern wurde Folgendes gesprochen: »Die Pause ist eine Fortführung des Putsches und von faschistischen Elementen angezettelt, um somit einen Schritt weiter zum 3. Weltkrieg zu kommen. Wer für den Frieden ist, soll während dieser Zeit arbeiten.« Daraufhin trat während dieser Zeit keine Arbeitspause ein.
Gesamtzahl der Verhafteten, Stand vom 23.6.1953, morgens 6.00 Uhr
Von den am Morgen des 23.6.1953 insgesamt einsitzenden 6 325 Personen wurden im Laufe des 23.6.1953 den Gerichten übergeben: 464 und entlassen: 850.
Es verbleiben somit zum 24.6.53, 6.00 Uhr: 5 011. Von diesen befinden sich
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bei der VP: 1 101,5
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bei der Berliner VP: 865,
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bei der Trapo: 25,
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in den Bezirksverwaltungen des MfS: 1 947,
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im Ministerium für Staatssicherheit selbst: 1 173.
Summe: 5 011.
Die Angaben über neu Verhaftete, Verurteilte, Haftbefehl Erwirkte sowie Entlassene werden von jetzt an täglich im Verhältnis zur Gesamtzahl gemeldet. Neues interessantes Material aus der Untersuchung war im Laufe des heutigen Tages noch nicht zu beschaffen.
Material über Absichten des Feindes
Aus Material der Abteilung V von der Agentenzentrale »Junge Deutsche Aktion«6 wurde bekannt, dass am 25.6.1953 in Westberlin eine Führerbesprechung stattfinden soll. Hier sollen Maßnahmen und Pläne besprochen werden, wie man sich verhält im Falle, dass die Sowjettruppen Berlin wieder verlassen. Der Hauptagent [Name 7] erklärte, dass man seitens der Organisation keine Ruhe geben will, sondern es wird vielmehr versucht werden, Gruppen von Jugendlichen in den demokratischen Sektor einzuschleusen, um erneute Unruhen hervorzurufen.
Im gesamten Kreisgebiet Seehausen, Bezirk Magdeburg, geht das Gerücht herum, dass es am 26.6. bis 28.6.1953 blutige Tage geben wird und in diesen Tagen der Amerikaner das Gebiet besetzen soll. Dieses Gerücht hat breite Schichten der Bevölkerung erfasst.
(Abt. VIII,7 24.6.1953) In der S-Bahn diskutieren die Fahrgäste, dass am 13.8. und 14.8.1953 die Einheit Berlins erreicht sei, aber nicht so, wie es sich die SED denkt. Man soll solange aushalten.
(GM8 »Murks«, 23.6.1953) [Vorname Name 8] erzählt, dass ihm ein Funktionär der SPD vom demokratischen Sektor (Friedrichshain) erzählt habe, dass sie vom Westen aus mit Waffen versorgt worden sind, Umfang und Art nicht bekannt.
Der SPD-Mann [Name 9] sagte: »Grotewohl und Ulbricht sollen gestürzt werden. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir die Macht und werden mit den Russen auf unsere Art verhandeln.« (Abt. V,9 23.6.1953)
(Abt. XIII,10 »Alfred«) [Name 10] (Unternehmer aus Westberlin) diskutiert in der Form, dass dieser Einsatz (16.6.–18.6.1953) falsch gestartet worden ist. Man hätte alle VP-Angehörigen ergreifen und vernichten müssen. Zum Schluss meinte [Name 10], dass der nächste Angriff besser vorbereitet wird und dann noch mehr Mittel in aller Beziehung zur Verfügung gestellt werden.
Gerüchte, die in der Bevölkerung kursieren
Aufgrund der Überführung von der Schwerindustrie zur Leichtindustrie werden im EKS Frankfurt Stimmen laut, dass ca. 5 000 Arbeiter zuviel sind und dass man die Arbeiter auf die Straße setzen wird.
[Name 11], Großbauer aus Ritze bei Salzwedel: »Aus der VP müssen viele entlassen werden, weil die VP aufgrund einer Abmachung der Regierung schwächer werden soll. In der Gemeinde kursiert das Gerücht, dass eine neue Regierung gebildet wird und zwar aus Funktionären der CDU und LDP.« Dieses Gerücht wird hauptsächlich von den Großbauern in Umlauf gebracht.
Nachsatz zu Maßnahmen des Feindes
Ein Bauarbeiter der VEB Bau-Union Berlin teilt mit, dass die Bauarbeiter am Donnerstag, dem 25.6.1953, in einen Sitzstreik zu treten beabsichtigen, wenn die verhafteten Bauarbeiter (50 oder 80 Mann) bis Mittwochabend nicht frei sind oder eine stichhaltige Erklärung über den Grund ihrer Inhaftierung abgegeben wird. Dieses Gerücht kommt von der Stalinallee.
Seine Meinung ist, dass obwohl auf seiner Baustelle keine Neigung zu einem erneuten Streik besteht, sich aber trotzdem unbedingt alle Bauarbeiter anschließen würden, falls auf irgendeiner Stelle ein solcher Streik in Kraft treten würde.
Die Verschärfung der Lage hat nicht nur bei kleinmütigen Menschen unserer Partei Mutlosigkeit hervorgerufen, sondern führte auch zu einigen Fällen der Desertion aus den Reihen unserer Grenzpolizei wie z. B. der Gefreite [Name 12] sowie der Soldat [Name 13] vom Grenzkommando Mahlow, die sich nach Westberlin absetzten. Die Waffen (MPi und Karabiner) ließen sie im Gebiet der DDR zurück. Der Soldat [Name 13] ließ ebenfalls seine Uniformjacke zurück. Zu bemerken ist, dass der Vater des Soldaten [Name 13] Mitarbeiter des MfS der Dienststelle Bitterfeld ist.
Zur besseren Übersicht wird ein Teil der eingegangenen Stimmungsberichte der Abteilung VI11 beigelegt.
[handschriftlicher Vermerk:] Anlage: Information Nr. 1002a12