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Tagesbericht

24. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 2002 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Aufgrund des Beschlusses über die Senkung der Lohnsteuern1 mehren sich die Beispiele, wo die Arbeiter ihre Zustimmung durch Normenerhöhungen und Abschluss von Wettbewerben zum Ausdruck bringen. In einem Schacht der Wismut AG bei Oberschlema erhöhten zwei Brigaden freiwillig ihre Norm um 10 %. Ein Kollege aus der Brikettfabrik des Kombinates Espenhain sagt: »Mithilfe des Wettbewerbes werde ich mich besonders einsetzen, damit der neue Kurs noch sichtbarer wird.« Der Chefkonstrukteur des VEB IFA Phänomen Zittau sagt: »Ich glaubte am Anfang nicht an den neuen Kurs der Regierung, aber jetzt bin ich vollkommen von der Richtigkeit überzeugt.«

Einzelne Diskussionen werden noch darüber geführt, dass es nicht allein auf die Erhöhung der Löhne, sondern auf die Senkung der Preise ankommt. Einige Kollegen der Staatswerft Rothensee/Magdeburg: »Wir brauchten gar nicht so viel Geld, sondern die Kaufkraft des Geldes müsste größer sein.«

Unklarheiten über den Inhalt des neuen Kurses und die Steuersenkung sind in Einzelfällen auf mangelhafte Agitationsarbeit zurückzuführen. Im Georgi-Dimitroff-Werk Magdeburg wurde am 20.10.1953 durch den FDGB in Verbindung mit der BGL eine Belegschaftsversammlung mit dem Thema »Der neue Kurs und die neue Steuersenkung« durchgeführt. Anwesend waren 1 000 Kollegen. Ein Kollege des Gebietsvorstandes der IG Metall war für den Einsatz des Referenten verantwortlich. Bei Beginn der Versammlung stellte man fest, dass dieser jedoch keinen Referenten eingeladen hatte. Daraufhin sprach der nicht darauf vorbereitete 1. Sekretär der BPO und verwies die anwesenden Kollegen darauf, dass sie über die Fragen in der Zeitung nachlesen sollen. Darüber waren die Kollegen sehr missgestimmt.

Verbesserungen in der Planerfüllung der Betriebe, besonders durch Abschluss von Wettbewerben und durch die Verbreitung des Beispiels von Frida Hockauf,2 sind verstärkt zu verzeichnen. Der Aufruf des Kunstfaserwerkes »Wilhelm Pieck«3 wurde von den Kollegen des RAW Malchin/Neubrandenburg benutzt, um im innerbetrieblichen Wettbewerb besonders auf die Erzeugung von Qualitätsarbeit großen Wert zu legen. Vier Arbeiter der Leipziger Eisen- und Stahlwerke verpflichteten sich, täglich drei Kästen mehr zu formen.

Demgegenüber bestehen teilweise immer noch große Schwierigkeiten bei der Waggongestellung, Kohlenversorgung und Ersatzteilbeschaffung. Dem Betrieb Fliesenwerke Boizenburg/Schwerin fehlten innerhalb von drei Tagen 16 angeforderte Waggons. Der Kohlenbestand des VEB »Plasta« Erkner/Frankfurt ist trotz der Unterstützung eines VEB am 24.10.1953 erschöpft. Wenn bis dahin keine neuen Lieferungen eintreffen, muss die Produktion stillgelegt werden. Verantwortlich für die Belieferung mit Kohle: Staatssekretariat für Chemie, Hauptverwaltung Kunststoffe, Berlin. Im Kraftwerk Deuben, Kreis Zeitz/Halle, sind von sechs vorhandenen Kesseln noch zwei zzt. in Betrieb. Die vorgesetzte Verwaltung hat davon Kenntnis, trotzdem ist keine Unterstützung für die Reparatur der Kessel vorhanden.

Unzufriedenheit in einzelnen Fällen ist über mangelhafte Arbeitsorganisation und über die Auszeichnung am 13. Oktober vorhanden. Einige Schlosser der Warnow-Werft Warnemünde wollen wegen schlechter Arbeitsorganisation im Betrieb ihr Arbeitsverhältnis lösen und zur Neptun-Werft gehen. Ähnliche Beispiele gibt es ebenfalls in der Peene-Werft Wolgast. So müssen z. B. die Schweißer der Warnow-Werft mehrere Stellen im Betrieb ablaufen, ehe sie die von einem Arbeitsauftrag übrigen Elektroden wieder abgeben können. Vorschläge von den Arbeitern zur Verbesserung des Arbeitsablaufes wurden von der Leitung abgelehnt.

Im VEB »7. Oktober« Berlin wurden in der Abteilung Montage fast alle AGL-Mitglieder als Aktivisten ausgezeichnet. Im Gegensatz dazu wurde ein Kollege der Abteilung Großmechanik, der als guter Facharbeiter bekannt ist, als erster seine Norm nach dem 17.6.1953 freiwillig erhöhte und sich an der gewerkschaftlichen Arbeit beteiligt, von der BGL abgelehnt.

Am 22.10.1953, 14.45 Uhr, fiel der SAG-Betrieb Synthesewerk Schwarzheide aufgrund eines Kurzschlusses im Erdkabel aus. Der Betrieb wurde auf das Landesnetz umgeschaltet. Der Produktionsausfall ist zzt. noch nicht bekannt.

b) Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Versorgung mit Einkellerungskartoffeln werden heute aus den Bezirken Frankfurt/Oder und Karl-Marx-Stadt gemeldet, obwohl im letztgenannten Bezirk eine Besserung eingetreten ist. In den Bezirken Neubrandenburg und Gera besteht Mangel an verschiedenen Lebensmitteln (Fisch, HO-Butter, Pudding, Stärkeerzeugnisse für Kleinstkinder, Reis u. a.). Im Bezirk Schwerin besteht ein Mangel an Kinderschuhen in den Größen 18–26 und Wintermänteln, während 30 000 Paar Arbeitsschuhe nicht abgesetzt werden können. Im Bezirk Leipzig trat in einigen Kreisbetrieben der HO und im Konsum eine Verschlechterung der Warenbereitstellung ein. So erhält die Kreiskonsumgenossenschaft Döbeln laufend Mitteilung über Reduzierung des Kontingents zugunsten des privaten Einzelhandels, Terminverschiebungen usw.

Im Bezirk Karl-Marx-Stadt ist in der Fleischversorgung eine weitere Verschlechterung eingetreten. So musste jetzt auch in den Kreisen Zwickau und Oelsnitz der Verkauf von HO-Fleisch eingestellt werden. Für die Markenbelieferung des Kreises Zwickau fehlen für Oktober noch 100 t Fleisch. Ursache ist fehlende Lieferung von Lebendvieh aus Thüringen. Demgegenüber ist der Schlachthof Pritzwalk/Potsdam durch den großen Anfall notgeschlachteter Schweine (Schweinepest) nicht in der Lage alles Fleisch zu verarbeiten. Es besteht die Gefahr, dass dies verdirbt.

c) Landwirtschaft

Zurückhaltung in politischen Fragen ist unter der Landbevölkerung weiterhin vorhanden.

Der Stand in der Hackfruchternte ist sehr unterschiedlich. Gute Arbeit wurde von verschiedenen LPG bei der Hackfruchternte geleistet. So haben die LPG Nieden und »Frieden«/Neubrandenburg die gesamte Hackfruchternte beendet. Beim Abtransport der Hackfrüchte macht sich der Waggonmangel besonders bemerkbar. Verschiedentlich wird von den Bauern auch darüber Klage geführt, dass Fabriken zzt. keine Zuckerrüben mehr annehmen, da ihre Aufnahmefähigkeit gegenwärtig zu gering ist. In einigen Fällen wird von der Landbevölkerung Unzufriedenheit über die Arbeitsmoral der freiwilligen Erntehelfer, indem diese Forderungen stellen, die nicht zu erfüllen sind, geäußert.

Die LPG Görzig4/Frankfurt/Oder konnte bereitgestellte Kartoffeln nicht verladen, da sie die zugesagten Waggons von der Reichsbahn nicht erhielt. Die Zuckerfabrik Prenzlau/Neubrandenburg nimmt vorläufig keine Zuckerrüben auf, da alle Lagerräume überfüllt sind. Der Bürgermeister aus Wolfshagen sagt: »Was nützt es, wenn die Bauern so schnell wie möglich die Zuckerrüben einbringen? Sie liegen doch monatelang auf der Straße und verfaulen.«

In der Gemeinde Sadenbeck/Suhl5 forderten Erntehelfer Federbetten, Garderobenschränke u. a. Das Essen bezeichneten sie als Saufraß. Nachmittags spielten sie in ihren Unterkünften Karten, während die LPG-Mitglieder noch auf dem Felde waren. Der Bürgermeister dieser Gemeinde und LPG-Vorsitzender verzweifelte darüber und nahm sich am 22.10.1953 das Leben durch Erhängen.

Großbäuerliche Elemente treten mit der Forderung nach »freier Wirtschaft« auf und versuchen die Ablieferung zu hintertreiben. Großbauer aus Burow6/Schwerin: »Wenn die Futtergrundlage nicht gesichert ist, liefere ich nichts ab. Mit dieser Wirtschaft gehen wir alle kaputt. Nur durch eine ›freie Wirtschaft‹ können wir existieren.«

Während in verschiedenen LPG wieder eine Festigung eingetreten ist, sind in anderen noch Auflösungserscheinungen zu bemerken. Der Grund ist häufig mangelnde Unterstützung vom Rat des Kreises, Uneinigkeit der LPG-Mitglieder untereinander u. a. In der LPG »Frischer Wind« Niederoderwitz/Dresden traten nach dem 17.6.1953 Zerfallserscheinungen auf. Austrittsgesuche wurden jetzt zurückgezogen und man äußerte, dass man für die Festigung der LPG sich aktiv einsetzen will. In der LPG Peenemünde/Rostock traten vor ca. vier Wochen fünf Mitglieder aus. Am 16.10.1953 wurde auf einer Versammlung beschlossen, die LPG aufzulösen. Der Vertreter des Rates des Kreises war anwesend. Der Parteisekretär der LPG und ein Mitglied waren dagegen. Nach Angaben des Parteisekretärs wurde die LPG vom Rat des Kreises stark vernachlässigt und sie haben den Auflösungserscheinungen nicht entgegengearbeitet.

Unzufriedenheit besteht unter den Bauern über das Fehlen landwirtschaftlicher Maschinen (Rostock) und Düngemittel (Erfurt). Bauer aus Hanshagen/Rostock: »Von der MTS werden Verträge über Kartoffelrodung abgeschlossen, doch sie halten sie nicht ein, weil Maschinen fehlen. Man soll doch endlich mehr und bessere Maschinen liefern.« Bauer aus Sondershausen/Erfurt: »Das ist wohl der neue Kurs, immer weniger bekommen wir Einzelbauern Düngemittel, wir können ja kaputtgehen.«

Stimmung der übrigen Bevölkerung

In der Bevölkerung ist weiterhin eine Zurückhaltung in politischen Fragen zu verspüren.

Durch gute Agitation gelang es, Stromabschaltungen in Boizenburg/Schwerin einzustellen. Mit der Bevölkerung wurde vereinbart, in der Zeit von 17.00 bis 21.00 Uhr pro Haushalt nur eine Birne zu brennen [sic!]. Diesem Aufruf leistete man auch Folge. Die Stimmung hat sich etwas gebessert. Dies sind jedoch nur Einzelbeispiele und im Übrigen bilden die Stromabschaltungen noch immer das Hauptdiskussionsthema der gesamten Bevölkerung, verstärkt bei der Landbevölkerung. Am 16.10.1953 und 19.10.1953 begaben sich Delegationen von 16 bis 20 Kumpel der Wismut AG zum Bürgermeister in Geyer/Karl-Marx-Stadt, um im Namen der dort wohnenden 500 Kumpel Protest wegen der laufenden Stromabschaltungen einzulegen.

Negative Diskussionen werden unter der Bevölkerung über die zu hohen Preise, die nur 1,5 % betragende Rückvergütung des Konsums und der teilweise mangelhaften Kartoffelversorgung in den Bezirken Gera, Karl-Marx-Stadt, Erfurt, Frankfurt/Oder, Cottbus und Schwerin geführt: Rentnerin aus Hartenstein/Karl-Marx-Stadt: »Die Auswahl in HO und Konsum ist gut und auch die Steuersenkung, aber wir Rentner können uns nichts leisten, wir haben doch auch einmal gearbeitet.« Hausfrau aus Gotha/Erfurt: »Der Konsum ist hier nicht einmal in der Lage, 1 % Rückvergütung zu zahlen, da muss doch Betrug dabei sein. Der Umsatz ist doch gegenüber 1952 gestiegen.« In Neuenhagen/Frankfurt/Oder soll die Bevölkerung am 25.10.1953 beabsichtigen, eine Protestdemonstration durchzuführen, wenn bis dahin die Einkellerungskartoffeln nicht geliefert werden (nicht überprüft).

In den Bezirken Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam ist eine starke Beunruhigung unter der Bevölkerung über die Tätigkeit der faschistischen Terroristengruppe zu verzeichnen.7 Über diese Großfahndung und deren Ursache werden verschiedene Gerüchte verbreitet. So z. B. soll es sich hierbei um ein groß angelegtes Manöver der VP handeln, bei den Terroristen soll es sich um Partisanenverbände in der DDR, um Widerstandsgruppen und Banden aus der ČSR handeln.

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Verbreitung von Flugblättern in den Bezirken Potsdam, Cottbus und Berlin, vereinzelt in den Bezirken Dresden, Rostock, Leipzig, Erfurt, Frankfurt/Oder, Gera, Karl-Marx-Stadt, Halle. Hauptsächlich Flugblätter der NTS8 und KgU.9

Verstärkte Hetze von kirchlichen Würdenträgern gegen die DDR, SU und Volkspolen wird in den Bezirken Dresden, Leipzig und Magdeburg festgestellt. Der Bischof von Scheven10 aus Greifswald sagte in der Kirche Dippoldiswalde: »Östlich der Oder in Stettin und anderen Orten leben mehr als 2 000 evangelische Deutsche. In Briefen, die ich von diesen bekam, wird geschildert, unter welchen Umständen sie dort leben müssen.« Der Pfarrer Werner11 aus Schenkenberg/Leipzig: »Der 17. Juni hat bewiesen, dass die Völker ihr Schicksal nicht lenken können. Nach 1945 verlor das Volk alle Rechte … jetzt ist es Zeit, dass wir uns aus der Not und Unterdrückung befreien.«

Die Westberliner Zeitschrift »Der Tag« vom 24.10.1953 teilt mit, dass am 26.10.1953 ein Berlinhilfeprogramm des amerikanischen Befreiungskomitees über 1 Mio. Pfund Butter an 290 000 Erwerbslose und Ostflüchtlinge und 184 000 Hilfebedürftige beginnt. Der Rest wird an Bewohner des Sowjetsektors und der Berliner Randgebiete nach besonderem Aufruf nach Abschluss der Aktion verteilt.12

»Neue Zeitung« vom 24.10.1953: Zu einer neuen Hilfsaktion für die Bevölkerung des sowjetischen Besatzungsgebietes wurde von der evangelischen Kirche von Hessen und Nassau und des angeschlossenen evangelischen Hilfswerkes aufgerufen.13 Am 1.11. wird eine Geldsammlung und am 2.11. eine Sammlung von Sachspenden als Weihnachtsgabe für die katholische Diaspora in der Sowjetzone veranstaltet.14

Einschätzung der Situation

Stark beeinflusst durch die Steuersenkung nimmt die positive Entwicklung, besonders in vielen Betrieben, ihren Fortgang. Dies zeigen die umfangreicher werdenden freiwilligen Normerhöhungen und Wettbewerbe, besonders nach dem Aufruf zum Massenwettbewerb durch das Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck«. Ähnliche Anzeichen im geringen Umfange beginnen sich auf dem Lande bemerkbar zu machen.

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