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Tagesbericht

26. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 2003 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Im Vordergrund der Diskussionen in den Betrieben steht die von der Regierung beschlossene Preissenkung1 und Steuerermäßigung.2 Ihre Zustimmung zu diesen Maßnahmen bringen die Arbeiter in größerer Anzahl durch Produktionsverpflichtungen zum Ausdruck. Ein parteiloser Arbeiter aus dem Kreis Löbau: »Ich muss sagen, dass die Regierung bestimmt den neuen Kurs gut verwirklicht. Ich hätte nicht erwartet, dass jetzt schon eine HO-Preissenkung kommt.« Die gesamte Belegschaft des VEB Textilwerk Geyer, Kreis Annaberg, verpflichtete sich, aufgrund der Preissenkung 100 000 Paar Strümpfe und Socken in bester Qualität über den Plan hinaus zu produzieren.

In einer Belegschaftsversammlung der Tuchfabrik Wittstock wurde anlässlich der in Kraft tretenden Steuerermäßigung von allen Belegschaftsmitgliedern einstimmig beschlossen, das Jahressoll bis zum 15.12.1953 zu erfüllen und außerdem 2 000 qm Ulsterstoff herzustellen. Einzelbeispiele sind solche, wie das eines Pförtners aus dem Stahl- und Walzwerk Riesa, er sagt: »Wenn ein Pfund Margarine immer noch 3,00 DM kostet, so können wir als Pförtner uns doch nicht mehr kaufen. Unser Verdienst liegt so niedrig, dass wir trotz Steuerermäßigung und Preissenkung noch keine größeren Posten kaufen können.«

Weitere Produktionssteigerungen sind in einem Teil der Betriebe durch Wettbewerbsabschlüsse, besonders aufgrund des Aufrufes vom Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck«,3 zu verzeichnen. Die Kollegen des VEB Glaswerkes Großbreitenbach, Kreis Ilmenau, verpflichteten sich, aufgrund des Aufrufes, ihren Produktionsplan 1953 bis zum 15.12.1953 zu erfüllen. Zusätzlich wollen sie bis 31.12.1953 400 000 Stück Industriekonservengläser, 100 000 Stück Bierflaschen und 300 000 Stück Spirituosenflaschen herstellen. Außerdem verpflichtete sich die Werksleitung, gemeinsam mit den Kollegen des Betriebes bis 15.11.1953 die Voraussetzung zu schaffen, dass der Ort Großbreitenbach während der Stromabschaltung vom Werk mit Strom versorgt wird. In der Farbenfabrik Wolfen wurde ein Wettbewerb abgeschlossen, der dem Werk 250 000 DM einspart.

Besonders mangelhaft ist teilweise immer noch die Waggongestellung für die Betriebe. Die Grube Großdeuben, Kreis Weißwasser/Cottbus, kann ihr Plansoll nicht erfüllen, da nur 50 % der benötigten Waggons von der RBD gestellt werden. Der Otto-Brosowski-Schacht, Bezirk Halle, benötigte am 22.10.1953 zum Abfahren der Schiefer 24 Waggons, gestellt wurden ihm jedoch nur vier Waggons.

Verschiedentlich ist noch ein Zurückweichen vor feindlichen Kräften vorhanden. In einer Betriebsversammlung der Mathias-Thesen-Werft Wismar sollte ein Provokateur entlarvt werden. Durch ungenügende Vorbereitung der Versammlung, nur ein Genosse charakterisierte das feindliche Verhalten des Provokateurs, die Mehrzahl der Arbeiter stellte sich auf die Seite des Provokateurs, musste die Versammlung ohne Ergebnis abgeschlossen werden.

Größere Produktionsstörungen wurden nicht gemeldet.

b) Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Belieferung mit Einkellerungskartoffeln werden aus den Bezirken Neubrandenburg, Frankfurt, Suhl, Karl-Marx-Stadt, Gera, Potsdam und Berlin berichtet. So werden z. B. in Karl-Marx-Stadt selbst noch 30 000 t Kartoffeln benötigt. Um einen reibungslosen Ablauf der Kartoffelversorgung zu gewährleisten, müssten täglich ca. 100 Waggons angeliefert werden. In den letzten 14 Tagen sind aber täglich nur fünf bis sechs Waggons eingetroffen. Es wird befürchtet, dass die Kartoffeln nicht mehr in einwandfreiem Zustand zur Auslieferung kommen können.

Aus Erfurt werden negative Diskussionen über die Rückvergütung der Konsumgenossenschaft bekannt. Von Mitgliedern wird zum Ausdruck gebracht, dass die Rückvergütung von 1,6 % ein Betrug sei, da ihnen bei Eintritt in die Konsumgenossenschaft 3 % Rückvergütung versprochen wurden. Die von der Leitung vorgebrachten Begründungen werden nicht anerkannt.

c) Landwirtschaft

Durch gute Arbeitsorganisation und Unterstützung des Patenbetriebes wurde die LPG »Einheit« Schkortleben/Halle Kreissieger im Wettbewerb. Dadurch wurde die Hackfruchternte vorzeitig beendet. Im Wettbewerb mit der LPG »Thomas Müntzer« Burgwerben konnte das VEG Storkau/Halle als Sieger hervorgehen. Die Zuckerrübenernte wurde beendet.

Im Kreis Parchim/Schwerin wirkt sich der Ersatzteilmangel der MTS negativ auf die Einbringung der Hackfruchternte aus, da nicht alle Maschinen einsatzfähig sind. Es fehlen z. B. Lichtmaschinen, Batterien, Kettenglieder von Raupenschleppern und dgl. Innerhalb von zehn Tagen haben 15 Traktoristen der MTS Ravensberg4/Rostock gekündigt und Arbeit in der Zuckerfabrik in Wismar angenommen. Grund dafür ist, dass die Zuckerfabrik höhere Löhne zahlt. Durch die fehlenden Traktoristen können nicht mehr alle Maschinen besetzt werden.

Aus Leipzig wird bekannt, dass der Anbauplan verschiedentlich abgelehnt wird. Vor allem wollen die Bauern kein Gemüse mehr anbauen, da sie dieses Jahr nicht alles verkaufen konnten und dem Vieh verfüttern mussten. So äußerte sich z. B. ein Bauer: »Mögen sie uns alle einsperren, aber Gemüse wird nicht mehr angebaut.«

Im Kreis Heiligenstadt/Erfurt wird stark über die mangelnde Düngemittellieferung diskutiert. So wird z. B. Kalistickstoff dringend gebraucht, der aber durch den bestehenden Waggonmangel nicht geliefert werden kann.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Aus den uns bisher bekannt gewordenen Diskussionen der Bevölkerung ist zu ersehen, dass die von der Regierung beschlossene Preissenkung allgemein freudige Zustimmung findet und Vertrauen zum neuen Kurs der Partei und Regierung geäußert wird. Nur vereinzelt sind negative Diskussionen zu verzeichnen. Nachfolgend einige Beispiele:

Eine Hausfrau aus Meißen: »Ich war ganz platt als ich gestern im Radio von der Preissenkung gehört habe. Ich kann es noch gar nicht fassen. Erst hat die Regierung die Lohnsteuer gesenkt und jetzt die Preissenkung, dass wird aber dem Adenauer die Luft verschlagen. Ich bin gespannt, was die wieder erfinden, um dies zu sabotieren. Wie Otto Grotewohl sagte, liegt es an uns, die Errungenschaften zu schützen, damit bald weitere Preissenkungen folgen können.«

Eine Hausfrau aus Wittenberge/Schwerin: »Die neue Preissenkung ist der Ausdruck des neuen Kurses der Partei und Regierung. Jedem einzelnen wird dadurch klar, dass unsere Regierung nicht nur mit Worten spricht, sondern das den Worten Taten folgen.«

Eine Hausfrau aus Dresden: »Jetzt haben wir auch eine günstige Gelegenheit uns Möbel und ein Radio zu kaufen. Die Sache mit dem Kredit, der jetzt zwei Jahre gewährt wird, ist einfach großartig.«

Ein Rentner aus Flöha/Karl-Marx-Stadt: »Auch uns Rentner hat die Regierung nicht vergessen. Erst wurde die Rente erhöht, jetzt bekommen wir durch die Gewerkschaft noch 10,00 DM und nun noch die Preissenkung, dadurch können wir uns manches kaufen, was uns bisher kaum möglich war.«

Ein Besitzer eines Kurzwarengeschäftes aus Oelsnitz im Vogtland: »Diese Preissenkung bringt uns gewaltige Arbeit, aber das wollen wir gern in Kauf nehmen. Mit diesem Schritt wird sich ein wirtschaftlicher Aufschwung für die ganze Bevölkerung bemerkbar machen.«

Eine Hausfrau aus Erfurt: »Das wir wieder eine Preissenkung haben ist ja ganz schön. Die Margarine kostet jetzt noch 3,00 DM. Aber das ist noch zu teuer, man hätte sie ruhig um 50 % senken können. Im Westen ist alles viel billiger.« Der Inhaber einer Autoschlosserei aus Königsbrück: »Die Textilien hat man unter der Hand erhöht, deshalb kann man jetzt so großzügig sein und die Preise herabsetzen.«

Negative Diskussionen über durchgeführte Stromabschaltungen werden aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig und Potsdam berichtet. Auf einer Versammlung in Laußnitz/Dresden kam es z. B. zu heftigen Diskussionen, wobei unter anderem von Bauern geäußert wurde, dass durch den Streik am 17.6.1953 sehr viel erreicht wurde. Man sollte einfach keine Milch mehr abliefern, um in der Frage der Stromversorgung eine Änderung zu erreichen. Eine Genossin aus der Produktionsleitung des Schwerpunktbetriebes EKM Meerane/Karl-Marx-Stadt äußerte: »Ihr könnt mich ruhig vom Parteilehrjahr streichen, weil fast jeden Abend sehr lange und außerplanmäßige Stromsperren sind, wo ich meine häuslichen Arbeiten nicht verrichten kann.«

Aus Rostock wird Missstimmung unter den ausländischen und westdeutschen Seeleuten berichtet, da diese nur bis 23.00 Uhr an Land gehen dürfen. So äußerte sich z. B. ein Kapitän aus Lübeck: »Man müsste den Seeleuten in der DDR mehr Verständnis entgegenbringen. In der ganzen Welt gibt es keine solche Anordnung, wonach jeder nach 23.00 Uhr wieder an Bord sein muss.« Der Kapitän vom holländischen Dampfer »Mypuck« stieg nach 23.00 Uhr über den Zaun des Hafens und sagte bei seiner Festnahme: »Es ist traurig, dass man sich lächerlich machen muss.«

Durch Schwierigkeiten in der Wohnraumbeschaffung für neu engagierte Künstler an der Deutschen Staatsoper in Berlin besteht die Gefahr, dass diese ihre Verträge lösen und nach Westberlin abwandern. So wurde, um ein Beispiel zu nennen, der 1. Klarinettist Himmler an die Staatskapelle verpflichtet. In seinem Einzelvertrag wurde eine Wohnung versprochen, was aber bisher nicht realisiert werden konnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass H. zugunsten der Staatsoper ein Angebot als Professor an der Hochschule in Würzburg mit entsprechendem Wohnraum ausgeschlagen hat (ähnliche Beispiele sind noch mehr vorhanden).

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Verbreitung von Flugblättern der NTS5 wurden aus den Bezirken Schwerin, Gera, Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Cottbus und Suhl berichtet, vereinzelt aus den Bezirken Frankfurt/Oder und Halle. Im Bezirk Erfurt wurden 3 000 Flugblätter der KgU6 »Die Lehre des Moskauer Aufstandes« abgeworfen. Des Weiteren wurden im Bezirk Potsdam ca. 50 Flugblätter des »Komitees zur Feststellung der Verräter und sonstiger schuldiger Deutscher in der SBZ« gefunden.

Eine weitere Aktivität feindlicher Kräfte innerhalb der Kirche wurde aus den Bezirken Gera und Rostock gemeldet. So wurde beispielsweise in der Gemeinde Gahma, Kreis Lobenstein/Gera, eine Predigt für vermisste und noch nicht zurückgekehrte Kriegsgefangene abgehalten. Der gleiche Pfarrer hat vor dem 17.6.1953 eine Aufstellung sämtlicher Rentner des Ortes nach Westdeutschland geschickt, worauf diese von dort Pakete bekamen. Eine Predigt mit ähnlichem Inhalt fand in der Nikolaikirche in Greifswald/Rostock statt.

Aus den Bezirken Erfurt, Halle, Dresden wird bekannt, dass durch die KgU Hetzschriften an Einzelpersonen versandt werden.

In einer Hetzsendung des RIAS vom 23.10.1953 wird vor den Werbern der VP gewarnt. Die Hörer werden [darauf] aufmerksam gemacht, bei der Wahl der ablehnenden Argumente vorsichtig zu sein und jetzt schon die Antworten zu überlegen wie z. B. westliche Gefangenschaft.

Vermutlich organisierte Feindtätigkeit

Am 23.10.1953 brannte bei einem Bauern in Schönau, Kreis Gotha, die Scheune ab. Sachschaden beträgt ca. 12 000 DM. Brandursache ist noch nicht geklärt.

Einschätzung der Situation

Die große Preissenkung findet allgemein freudige Zustimmung. Der schon mit der Steuersenkung unter den Arbeitern begonnene Umschwung zeigt sich jetzt in größeren Kreisen der Bevölkerung. Das Vertrauen zur Politik der Partei und Regierung festigt sich immer mehr und zeigt sich besonders in den zunehmenden Produktionsverpflichtungen.

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    26. Oktober 1953
    Sonderinformation [Information Nr. 5/53]

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