Direkt zum Seiteninhalt springen

Tagesbericht

9. Juli 1953
Information Nr. 1009

Stimmung der Bevölkerung

Am 8.7.1953, um 9.00 Uhr, fand im VEB Kombinat Böhlen in der Abteilung Bau A 34 (Werkstatt Benzin Ost) eine Gewerkschaftsversammlung statt. Zu dieser Versammlung nahmen mehr als zu dieser Abteilung gehörende Kollegen teil, d. h., dass alle aus der Produktion abkömmlichen vom Benzin-Werk Ost zu dieser Versammlung gingen und diese einen demonstrativen Charakter annahm. In dieser Versammlung wurde von den Kollegen scharfe Diskussion über die bestehenden Missverhältnisse in der Entlohnung (nach 3 Tarifen) im Kombinat geführt.

An dieser Versammlung nahmen Vertreter der BGL, der BPO und der Werksleitung teil. Der Hauptdirektor Kahnt machte selbst grundlegende Ausführungen dahingehend über dieses Verhältnis der Lohnzahlung und der Prämienverteilung. Dabei wurde der Hauptdirektor in provozierter Weise zeitweilig zum Schweigen gezwungen. Man stellte ihm persönlich die Frage, wieso er zu einer zu hohen Prämie zum »Tag des Bergmannes« komme.

Der Hauptdirektor erwiderte, dass es nicht seine Aufgabe wäre, über seine Prämie Rechenschaft abzulegen. In dem weiteren Verlauf dieser Versammlung sprach der Genosse Herrmann (zweiter BPO-Sekretär) zu den Versammelten und führte aus, dass die Kumpels aufgrund ihrer Standhaftigkeit und Arbeitsfreude am 17.6.1953 eine Prämie von 25,00 DM erhielten. Bei diesen Ausführungen ging Genosse Herrmann darauf ein, dass die Ereignisse am 17.6.1953 auf die Provokation durch bezahlte Elemente aus Westdeutschland zustande gekommen sind. Daraufhin entstand ein Gegröle seitens der Versammelten. Sie führten an, dass das Ereignis am 17.6.1953 keine Provokation der westlichen Agenten ist, sondern dass die Arbeiter demonstrierten, weil sie nichts zu fressen haben. Die Ereignisse vor den Haftanstalten sind darin begründet, dass die Frauen ihre Männer haben wollen. In diesem Zusammenhang stellten sie die Frage, ob die Zustände in Ungarn, Rumänien, der ČSR auch auf Agenten Adenauers1 zurückzuführen sind. Sie sind der Meinung, dass die Arbeiter genauso schlecht lebten wie wir als deutsche Arbeiter, und daher mussten diese Regierungen auch Abänderungen ihrer Programme vornehmen.

Weiterhin als Ergebnis dieser Versammlung wurde eine Delegation zusammengestellt von fünf Kollegen. Diese Delegation sowie ein Vertreter der Werksleitung sollen nach Berlin fahren, um die Lohnfrage zu klären. Es wurde beantragt, dass ein Kollege der BGL mit anwesend ist. Dies wurde von der Mehrzahl der Versammelten abgelehnt mit der Begründung, dass sie kein Vertrauen zur BGL haben.

Am 8.7.1953 fand gegen 15.10 Uhr eine Versammlung im SAG-Betrieb EHW Thale statt. Anwesend waren ca. 1 000 Personen. Das Referat hielt der Minister für Justiz und Mitglied des ZK der SED, Genosse Max Fechner. Sein Referat wurde ohne Unterbrechung oder Provokation angehört. Nach dem Referat erfolgte die Diskussion, die vom 1. Sekretär der BPO, Genossen Schaar, geleitet wurde, an der sich insgesamt 23 Diskussionsredner beteiligten.

In der Diskussion nahmen die Arbeiter besonders zur Normfrage Stellung, indem sie ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten. Sie zeigten auf, dass die Norm von 1952 finanzielle Vorteile brachte, die Norm vom März 19532 dagegen für die Kumpels einen großen finanziellen Verlust bedeutet. Die Unzufriedenheit der Arbeiter war der Werksleitung bekannt. Gleichfalls beschweren sich die Angestellten des Betriebes, dass eine Gehaltsregelung bis zum heutigen Tage noch nicht erfolgt ist, das Essen, statt verbessert, verschlechtert wurde.

Bestimmte Leute äußern sich dazu, dass die Beschlüsse der DDR für einen SAG-Betrieb nicht anwendbar sind. Außerdem wird von den Arbeitern Einstellung der Sonntagsarbeit gefordert.

So erklärte (um ein Beispiel herauszugreifen) der Arbeiter [Name 1]: »Die Norm von 1952 hat uns finanzielle Vorteile gebracht. Die Normerhöhung im März 1953 durch die TAN war jedoch ein finanzieller Verlust bei den Kumpels von der Walzstraße, der volle 100,00 DM betrug.« Bei Verhandlungen mit der AGL wurde folgende Antwort gegeben: »Der Russe zahlt für den Walzmeister nur 31,00 DM pro Schicht.«

Von verschiedenen Diskussionsrednern wurde zur Frage der Sozialrentner und Schwerbeschädigten Stellung genommen, die, wie zum Ausdruck gebracht wurde, mit ihrer geringen Rente nicht auskommen können. Schwerbeschädigte müssten ihren Fähigkeiten entsprechend im Verwaltungsdienst eingesetzt werden. Dazu äußerte z. B. der Pumpenwärter [Name 2]: »Ich erhalte eine Rente von 19,15 DM monatlich. Wie soll ich oder die anderen Rentner mit diesem Geld den Lebensunterhalt bestreiten.«

Eine rege Diskussion nahm auch die Wohnungsfrage ein, wobei aufgezeigt wurde, dass in Thale 200 Familien unter den menschenunwürdigsten Verhältnissen wohnen und ordnungsgemäße Wohnverhältnisse gefordert werden.

Dazu sagte der BGL-Vorsitzende Mewitz: »Ich war beim Finanzministerium vorstellig, habe aber trotz der vorhandenen 8 Mio. Investitionsmittel für Wohnungsbauten in Thale nicht die notwendige Auskunft erhalten, da man mir diese nicht geben konnte.« Mewitz rief aus, dass auch im Finanzministerium ein frischer Wind einziehen müsste.

Besonders stark wurde zur Arbeit unserer Partei und FDGB Stellung genommen, die, wie zum Ausdruck gebracht wurde, noch nichts für die Arbeiter getan hätten. Selbst von parteilosen Arbeitern wird das Verhalten verschiedener Mitglieder und Funktionäre verurteilt, die schnell das Parteiabzeichen abnahmen, nach Erscheinen der Freunde aber ein Großes ansteckten, oder aber, dass parteilose Arbeiter, die nicht streikten, von Gruppenorganisatoren unserer Partei als Streikbrecher bezeichnet wurden. All dies, so äußern sich die Arbeiter, trägt nicht dazu bei, das Vertrauen der Partei zu festigen.

So sagt der Arbeiter [Name 3]: »Man müsste die Schwerbeschädigten in den Verwaltungsdienst einsetzen sowie in den Apparat der FDJ, BGL und AGL, da die jetzigen Angestellten nur Konjunkturritter sind. In der BPO der SED hat sich ein Parteibonzentum entwickelt, dies sind aber gerade diese Angestellten, die ihr Parteiabzeichen abgenommen haben, als aber die Freunde erschienen, ein Großes ansteckten, um ihre Position nicht zu verlieren.«

Stimmung von Rückkehrern in das Gebiet der DDR

Dem Ministerratsbeschluss von 11.6.19533 folgend, sind auch am 8.6.1953 wieder insgesamt 182 Personen zurückgekehrt. Davon kommen 38 Personen aus Westdeutschland erstmalig in die DDR und baten um Aufnahme. Demgegenüber wurden 86 Personen republikflüchtig.

In Form einer zwanglosen Unterhaltung wurde mit einigen Rückkehrern über die Aufnahme des Ministerratsbeschlusses bei den Flüchtlingen und über ihre Eindrücke in der DDR gesprochen. Aufgrund dieser Angaben kann Folgendes berichtet werden:

1. Aufnahme des Ministerratsbeschlusses bei den Flüchtlingen in Westdeutschland und Westberlin

Die Befragung der Rückkehrer ergab auch weiterhin, dass der Beschluss von allen Rückkehrern freudig begrüßt wurde. Nach ihren Angaben wurde der Beschluss auch in den Lagern in Westdeutschland und Westberlin begrüßt. Der Wille zur Rückkehr ist auch vorhanden, aber viele der Flüchtlinge trauen diesem Beschluss noch nicht recht. Durch die Hetze von westlicher Seite aus wurden sie in ihrem Misstrauen gegenüber dem Beschluss noch bestärkt.

So sagte der Rückkehrer [Name 4, Vorname], geb. 1930 in Hamburg, wohnhaft in Neuhaus/Elbe, [Straße, Nr.], Folgendes: »Sofort nach Bekanntwerden des Ministerratsbeschlusses war der Wunsch der Rückkehr in mir vorhanden, da in der DDR bessere Arbeitsmöglichkeiten vorhanden sind.«

2. Stimmung der Flüchtlinge und Hemmungen bei ihrer Rückkehr

Die Stimmung der Flüchtlinge in den Lagern in Westberlin und Westdeutschland wird von den Befragten als nicht besonders gut bezeichnet. Sie haben dort keine Möglichkeit, eine Wohnung bzw. Arbeit zu bekommen. Es äußerte deshalb auch eine große Anzahl den Wunsch, wieder in die DDR zurückzukehren, allerdings wollen sie erst noch abwarten, da sie dem Ministerratsbeschluss noch nicht recht trauen.

Darüber äußerte der Rückkehrer [Name 4, Vorname] Folgendes: »Das Vertrauen der Flüchtlinge ist noch schwach, da diejenigen, die in jüngster Zeit flüchtig wurden, dort in Versammlungen sprechen, z. B. wer nicht abliefert, wird verhaftet,4 zu kaufen gibt es überhaupt nichts. Die Flüchtlinge wollen noch abwarten, was die in die DDR Zurückgekehrten schreiben werden.«

Ein Genosse berichtet, dass seine Ehefrau fast täglich am Flüchtlingslager vorbeigeht und dort schon einige Bekanntschaften angeknüpft hat. So befindet sich unter anderem ein Handwerksmeister aus Beeskow dort, von dem man einiges erfahren konnte. Am 6.7.1953 sagte derselbe: »Im Lager Falkenhagener Chaussee/Ecke Askanierring haben viele der Flüchtlinge die Absicht, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Sie wollen nur abwarten, bis sie die Gewissheit haben, dass die Maßnahmen der Regierung der DDR ehrlich gemeint sind. Alle warten auf Post von denen, die den Mut hatten und sich sofort bei Bekanntwerden der neuen Maßnahmen zurückmeldeten. Werden diese Nachrichten günstig ausfallen, so wird wohl die Hälfte des Lagers wieder in die DDR zurückgehen.«

Über das Lager selbst sagte er: »Glauben sie man, uns ist auch nicht wohl zumute. Man sitzt hier herum und kann nichts anfangen. Hoch im Kurs stehen zzt. die Eisenbahner. Wenn da einer im Lager ist, so ist sofort der Amerikaner da und holt ihn. Manchmal muss der Betreffende einen Tag zum Verhör, manchmal auch mehrere Tage hintereinander. Für jeden Tag beim Amerikaner bekommen sie gleich, wenn sie dort ankommen, 20,00 Westmark, die Taschen voll Zigaretten und gutes Essen. Wenn dann ihr Verhör dort beendet ist, erfolgt sofort ihr Abflug nach dem Westen. Wir müssen schön warten. Was der wohl mit den ganzen Eisenbahnern will.«

3. Agitation und Maßnahmen vonseiten der westlichen Behörden, um eine Rückkehr zu verhindern

Auch hier wurden keine neuen Maßnahmen des Gegners bekannt, außer den schon in den vorhergehenden Berichten angeführten, wie z. B. Hetze durch Presse und Funk, Beeinflussung der Flüchtlinge im Lager sowie an den Grenzübergängen von westlicher Seite aus, Verbreitung von Gerüchten über die DDR im Lager.

Der Rückkehrer [Name 5, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1931 in Rathom,5 wohnhaft in Pampow, Kreis Teterow, sagte Folgendes: »Aufgrund der Propaganda vonseiten des RIAS-Reporters wurde den Flüchtlingen erzählt, wenn sie wieder in die DDR zurückkehren werden, würde man sie erschießen. Aus diesem Grunde getrauen sich viele nicht, in die DDR zurückzukehren. Durch Agitation wird den Flüchtlingen erzählt, wie gut das Leben in Westdeutschland ist. Den Bauern wird versprochen, dass sie eine eigene Wirtschaft bekommen, allerdings bekommen sie diese nie. Ich selbst habe auch bei einem Großgutsbesitzer gearbeitet und diese warten nur darauf, die Flüchtlinge als Arbeitskräfte einzustellen.«

4. Durchführung der Maßnahmen des Ministerratsbeschlusses

Die befragten Personen äußerten sich alle sehr zufriedenstellend über ihre Aufnahme in die DDR. Schwierigkeiten wurden ihnen keine bereitet. Beschwerden vonseiten der Rückkehrer über eine ungerechte oder bürokratische Behandlung bei ihrer Rückkehr wurden nicht bekannt.

Die günstige Entwicklung im Verhältnis der Rückkehrer zu den Republikflüchtigen hat sich weiter fortgesetzt und erreichte am 8.7.1953 einen bisher nie dagewesenen Stand. Den am 8.7.1953 registrierten 86 Republikflüchtigen stehen 144 Rückkehrer gegenüber. Dazu kommen 38 Personen aus Westberlin und Westdeutschland, die sich in das Gebiet der DDR begeben haben und die Bitte äußern, hier bleiben zu dürfen.

Also gegenüber 86 Republikflüchtigen sind 182 Personen in das Gebiet der DDR zum dauernden Verbleib eingereist. Es beginnt sich hier bereits die Tatsache auszuwirken, dass die sich in Westberlin und Westdeutschland befindlichen Republikflüchtigen von den ersten Rückkehrern Mitteilung erhalten haben über ihre gute Behandlung und Aufnahme in der DDR. Sie gewinnen daraus die Überzeugung und Gewissheit, dass der Beschluss der Regierung in Bezug auf heimkehrende Republikflüchtige keine Falle ist, sondern ehrlich und gewissenhaft durchgeführt wird.

In dem Maße, wie die Verbesserung der Lebenshaltung der Bevölkerung in der Praxis sichtbar wird und die Verbreitung der tatsächlichen Verhältnisse in der DDR weiteren Kreisen der Republikflüchtigen bekannt wird, wird die Zahl der Rückkehrenden mit Sicherheit weiterhin progressiv ansteigen.

Besondere Vorkommnisse

Am 8.7.1953, in der Zeit von 7.00 bis 9.30 Uhr, legten 90 Arbeiter im VEB Installationsbetrieb Zittau die Arbeit nieder. Grund: Weil am 7.7.1953 nicht der volle Lohn ausgezahlt werden konnte. Die Bank war nicht in der Lage, am 7.7.1953 die volle Summe auszuzahlen, was am 8.7.1953 nachgeholt wurde.

In Großschönau haben 24 Näherinnen die Arbeit niedergelegt, weil die Normen in der Zeit von Januar bis März durchschnittlich um 30 % erhöht wurden. Der FDGB hat eine Klärung erreicht, die Norm wurde um 50 % herabgesetzt.

Zur Lage der Versorgung der Bevölkerung

Im Bezirk Neubrandenburg traten in einigen Kreisen Mängel in der Versorgung der Bevölkerung auf, indem ein Teil von Nahrungsmitteln dem Verderb preisgegeben wurde, weil eine schlechte Organisation der Verteilung und Transportschwierigkeiten vorhanden sind.

So äußerten sich z. B. der Fischer [Name 6] aus Kumerow, Kreis Malchin, Bezirk Neubrandenburg, dass ihm in den letzten 14 Tagen 15 Ztr. Edelfisch verdorben sind6, weil er nicht abgeholt wurde, da die HO angeblich kein Fahrzeug zur Verfügung hatte. Der Fischer fordert, dass die Annahme von Fischen in Zukunft vertraglich gesichert wird.

Im Konsum in Torgelow, Bezirk Neubrandenburg, verdarb ein Waggon mit 200 Köpfen Blumenkohl. Die Bevölkerung ist in der Stadt Torgelow sehr unzufrieden über die schlechte Belieferung mit Gemüse.

In Waren, Bezirk Neubrandenburg, war ebenfalls eine Gemüseschwemme zu verzeichnen. Auch hier befand sich das Gemüse in einem solchen Zustand, dass der Blumenkohl nicht mal für 0,70 DM abgesetzt werden konnte. So wurde der Preis auf 0,30 DM herabgesetzt, da zu befürchten war, dass der gesamte Blumenkohl verdirbt. Dies wurde dadurch hervorgerufen, weil das Gemüse einen zu langen Weg zurückzulegen hat, bis es zum Verbraucher gelangt.

Die Ursachen an der schlechten Organisierung der Verteilung und an Transportschwierigkeiten sehen wir z. B. in der Kreiskonsumgenossenschaft Torgelow im Kreis Ueckermünde, wo ein Teil der auf Lager liegenden Kirschen für den Verbrauch nicht mehr zu verwenden war, da es der Konsumgenossenschaft an Fahrzeugen fehlt.

Eine weitere Unzufriedenheit der Bevölkerung liegt darin, dass verschiedene Personen nicht die ihrer Arbeit entsprechenden Lebensmittelkarten erhalten. So sind die Landarbeiter in dem KLB Gielow, Kreis Malchin, unzufrieden, da man diesen seit dem 1.7.1953 die Lebensmittelkarte D ausgehändigt hat. Die Kollegen argumentieren dahingehend, dass sie ebenfalls eine schwere Arbeit zu verrichten haben, wie z. B. die Kollegen im Sägewerk, die zum Teil die Lebensmittelkarte C erhalten.

Im Bezirk Cottbus macht sich immer noch ein Fehlen von Zucker im HO bemerkbar. Es gewinnt den Eindruck, als wenn von vielen Bevölkerungsschichten Angstkäufe in dieser Hinsicht getätigt werden. So ist die Nachfrage nach HO-Zucker sehr groß und selbiger schnellstens vergriffen.

Anlage vom 9.7.1953 zur Information Nr. 1009 (1. Expl.)

Information Nr. 1009a: Lage in der LDP

Stimmung und Bestrebungen in der obersten Parteiführung

In der Parteileitung der LDP machte sich bereits vor dem Dresdner Parteitag besonders zu diesem, sowie nach den Ereignissen des 17. Juni 1953, folgende Tendenz bemerkbar:

Dieckmann7 versuchte um die Zeit des Dresdner Parteitages, sich an die Spitze der Partei stellen zu lassen, was jedoch verhindert wurde. Er ließ zu dieser Zeit in seinen Bemerkungen durchblicken, dass im Zuge des weiteren Aufbaus des Sozialismus eine Umbildung der Volkskammer bevorstehe. Er als bürgerlicher Vertreter in der Volkskammer habe dabei die Befürchtung, seine gegenwärtige Funktion in einer neuen Volksvertretung zu verlieren. Durch diese Befürchtungen legte Dieckmann die Bestrebungen an den Tag, sich an die Spitze der Partei zu drängen, um seinem Ehrgeiz entsprechend eine angesehene Funktion zu bekleiden.

Von diesen Tatsachen ausgehend, lassen sich Dieckmanns Äußerungen nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 verstehen. Aufschlussreich ist hierbei sein Verhalten, indem er wiederholt gegenüber Funktionären der Partei sowie den Bezirkssekretären im Unterton seiner Ausführungen durchblicken ließ: »Wir müssen diese uns jetzt bietende Gelegenheit ausnützen und danach handeln.« (In Kreisen der Partei versteht man damit, der Partei einen größeren politischen Einfluss zu sichern, wie stärkere Beteiligung an der Regierung, Liberalisierung des Handels und dgl. Forderungen mehr.)

Dieckmann stützt sich hierbei besonders auf die alten liberalen Kräfte, auch auf jene Kräfte, die bereits wegen ihres reaktionären Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen wurden. Beachtenswert ist hierzu, dass Dieckmann nach dem 17. Juni 1953 zu Dr. Loch8 äußerte, er solle in seinem Referat, welches auch von der demokratischen Presse veröffentlicht werden soll, zu dem Fall Hamann Stellung nehmen.9 Dieckmann versucht damit geschickt, verantwortliche Funktionäre als Sprecher für seine reaktionären Ansichten zu machen, um zu erreichen, dass eventuelle Forderungen bezüglich einer Freilassung Hamanns gestellt werden. Beachtenswert ist ferner, dass Dieckmann in geschickter und raffinierter Art durch sein Doppelzünglertum mit Erfolg versucht, die reaktionären Kräfte zu wecken und aufzurufen, da er die Zeit für gekommen sieht, um die LDPD an die Spitze des politischen Blickfeldes zu stellen. Dieckmann versteht es durch seine Gesprächsauslegungen, jedem das Seine zu geben, lässt auf geschickte Art seine Person in der Parteipresse herausstellen und ist gegenwärtig der populärste Mann in der Partei.

Diese Feststellung findet ihre Bestätigung in einer Reihe von Telegrammen und Resolutionen, die von den Kreisen und Bezirksleitungen eingesandt wurden, in welchem der sofortige Rücktritt des Parteivorstandes gefordert wird. In all diesen Schreiben des Vertrauensentzuges wird betont, dass im besonderen die Herren Dr. Loch, Täschner,10 Konzok11 und Frau Sasse12 zurücktreten sollen, aber in einem Falle wird der Rücktritt Dieckmanns gefordert. In diesen Resolutionen werden im selben Atemzuge solche reaktionären Forderungen gestellt wie Aufhebung des »Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums«,13 Gleichstellung der Privatindustrie mit den VEB- und SAG-Betrieben, weitgehende Liberalisierung des Handels, desgleichen Beteiligung an Regierungs- und Verwaltungsfunktionen sowie Annullierung der Leipziger Beschlüsse,14 die angeblich im Widerspruch zu der gegenwärtigen Situation stehen (diese beinhalten die Zustimmung zum Aufbau des Sozialismus).

Dieckmann wird als der kommende Mann in der Partei bezeichnet. Er stand in der am 5.7.1953 stattgefundenen Zentralvorstandssitzung mit seinen Ausführungen, in denen es an zweideutigen Auslegungen nicht fehlte,15 inhaltlich und durch die Art seines Vortragens im Mittelpunkt der Sitzung. Es entstand unter den Sitzungsteilnehmern – und das kam auch zum Ausdruck – der Eindruck, als ob Dr. Dieckmann der Vorsitzende und Initiator der Partei sei. Im Gegensatz zu seinen früheren Auffassungen über die Volkskammer ist Dieckmann gegenwärtig der Meinung, die Volkskammer müsste zu einem Organ der Kontrolle über die Regierung werden.

Der Vorsitzende der LDPD, Dr. Loch, hat selbst keine direkte politische Meinung, lässt sich von den reaktionären Forderungen breiter Teile der Mitgliedschaft und Funktionäre beeinflussen und neigt sich daher in seiner schwankenden Haltung Dieckmann zu. Im Weiteren ist Loch bestrebt, seine Stellung als stellvertretender Ministerpräsident zu halten. Er sieht in seinem Stellvertreter Konzok einen ständigen Anwärter für seinen stellvertretenden Ministerpräsidentenposten (der ihm politisch wie fachlich weit überlegen ist). Dieckmann versucht im Weiteren, seinen Schwager Thürmer16 in das politische Leben der LDP einzubauen, um damit seine Machtstellung in der Partei zu festigen.

Diese Politik Dieckmanns innerhalb der LDPD hat insgeheim zu einem rechten Flügel innerhalb des Parteivorstandes wie auch des mittleren Funktionärskörpers bis zur breiten Mitgliedschaft geführt. Diese Spaltung kommt zum Teil in Differenzen einerseits zwischen Dieckmann und andererseits zwischen Täschner und Konzok zum Ausdruck. Wie Dieckmann in Äußerungen zum Ausdruck brachte, empfindet er, dass Täschner und Konzok ihm und damit der Partei vonseiten der SED und den sowjetischen Freunden vor die Nase gesetzt sind und er versucht daher, im Besonderen den Generalsekretär Täschner kaltzustellen. Ein privates Vorkommnis, das am 7.7.1953 stattfand, zeigt wie weit diese Spannungen gediehen sind. Loch und Dieckmann gratulierten ihrem Generalsekretär der Partei, der am 7.7.1953 Geburtstag hatte, nicht. Täschner war über diese offensichtliche Missachtung seiner Person so entrüstet, dass er die weitere Arbeit niederlegen wollte.

Wie tief diese Spaltung innerhalb des Leitungsgremiums mit den versteckt reaktionären Ansichten Dieckmanns und der immerhin loyalen regierungsunterstützenden Linie Täschners und Konzoks sich über den mittleren Funktionärskörper und die Mitgliederschaft weiterhin auswirken wird, ist anhand des vorliegenden Materials nicht genau abzusehen.

Stimmung und Bestrebungen des mittleren Funktionärskörpers und der breiten Mitgliedschaft

Eingangs muss betont werden, dass zwischen dem mittleren Funktionärskörper und der breiten Mitgliedschaft nach den vorliegenden Berichten keine erwähnenswerten Differenzen bestehen, wie auch die Forderungen seitens der Funktionäre wie der Mitgliedschaft gegenüber der Parteiführung zeigen.

Die allgemeinen Forderungen der breiten Mitgliedschaft fanden ihren besonderen Niederschlag in den Resolutionen der Kreis- und Bezirksverbände für die Gestaltung einer neu zu bildenden Regierung und der weitgehendsten Liberalisierung des Handels. Misstrauenserklärungen bzw. Rücktrittsforderungen vonseiten der Mitglieder gegenüber mittleren Funktionären wie Kreisvorsitzenden hatten im Wesentlichen die Ursache, um hier mit Dieckmanns Worten zu sprechen, sie waren marxistischer als Marxisten, d. h. sie haben gewissen Überspitzungen in Bezug von Ablieferungspflichten, u. a. die wirtschaftlichen Interessen schädigende Maßnahmen, zugestimmt.

Die Mehrzahl der Funktionäre, wie aus den vorliegenden Berichten hervorgeht, verhält sich den Beschlüssen der Regierung gegenüber abwartend. Wie zahlreiche vorliegende Beispiele beweisen, haben bisherige »fortschrittliche« Funktionäre nach den Ereignissen des 17. Juni ihr wahres Gesicht gezeigt.

Nachstehend eine Reihe von Beispielen, die diese zum Teil vielfältigen und reaktionären Forderungen unter Beweis stellen:

So erklärte der LDP-Funktionär Toll aus Wernigerode auf einer Arbeitstagung des Bezirksverbandes Magdeburg Folgendes: »Ich bin enttäuscht, ich wäre lieber nicht hierher gekommen (gemeint ist die Tagung), denn wenn ich in Wernigerode geblieben wäre, dann hätte ich die Nachricht, dass die Arbeiter durch die ›Halbwüchsigen‹ zum Streik aufgefordert wurden, nicht zu hören brauchen. Ich glaube, die Zeit ist vorbei, wo man das deutsche Volk für dumm verkaufen wollte. Und wenn man jetzt sagt, dass alles durch bezahlte Agenten und Saboteure geschehen ist, so ist das eine Beleidigung des Arbeiterstandes.«

Weiter sagte Toll: »Eine Regierung kann Fehler machen, aber für diese Fehler soll sie dann auch zur Verantwortung gezogen werden, genau so, wie man es mit dem kleinen Mann tut. Hat man Dr. Hamann zur Verantwortung gezogen, so soll man jetzt auch diese Leute zur Verantwortung ziehen.«

Auf derselben Tagung äußerte sich Dr. [Name 1], Schönebeck, wie folgt: »Der Führungsanspruch des Politbüros besteht nach wie vor. Er wird aber von dieser Versammlung genauso wie von der breiten Bevölkerung der DDR nicht anerkannt. Ich habe vor drei Tagen mit einem höchstverantwortlichen des Ministeriums für Innen- und Außenhandel gesprochen, der sich durchaus auf die Linie stellte, wonach die SED binnen 24 Stunden ihre Linie 24 Mal wechseln kann. Wir sollten uns nicht täuschen, der Klassenkampf geht unvermindert weiter, wenn auch mit anderen taktischen Mitteln.«

Der Kreisvorstand Köthen fasste Folgendes in einem Beschluss zusammen: »Wir halten es für erforderlich, dass die gesamte Privatwirtschaft in jeder Beziehung mit den VEB-Betrieben und SAG-Betrieben gleichgestellt wird. Der Regierung wird empfohlen, sämtliche Rohstoffquellen der Wirtschaft zuzuführen.«

Im Bezirksverband Dresden wird die Auffassung vertreten, dass die getroffenen Maßnahmen den Rücktritt der Regierung zufolge haben müssten und dass eine Bestrafung der Hauptverantwortlichen in gleicher Weise erfolgen müsste, wie das in den Fällen Hamann und Baender17 geschehen ist. Man ist auch der Auffassung, dass die bisher betriebene Personalpolitik einen Hauptpunkt dafür darstellt, dass derartige umfangreiche Fehler vorgekommen sind.

Im Weiteren wird gefordert: Stärkere Einflussnahme der Volkskammer auf das Verordnungswesen der Regierung, Änderung im Gerichtswesen und in der Rechtsprechung, Herabsetzung der HO-Preise, Erhöhung der Löhne und Gehälter, Wiedereinführung der steuerfreien Beträge, umfassende Reform des Steuerwesens, Überprüfung des Beschlusses über die Überführung der Betriebsgruppen der Partei, Maßnahmen zur Vertiefung der Blockpolitik.

Der Kreisverband Nebra, Bezirk Halle, fasst in einzelnen Punkten folgende Forderungen der Mitgliedschaft und der Bevölkerung zusammen:

1) Die Soll-Festsetzungen und Differenzierungen müssen für alle Bauern nach gerechten und humanen Grundsätzen erfolgen. Es darf nicht vorkommen, dass bei gleicher Bodenbeschaffenheit für Groß- und Mittelbauern ein Soll von 15 Zentner Getreide pro Morgen festgesetzt wird, während die LPG-Bauern nur ein solches von 3,5 haben.

2) Die Steuergesetze müssen revidiert werden. Die Normativ-Besteuerung18 für das Handwerk ist ungerecht und begünstigt nur die Vielverdiener. Es muss eine für alle gerechte Besteuerung erfolgen. Alle Steuerrückstände müssen überprüft werden.

3) Alle Wirtschaftsgüter und Bedarfsartikel müssen gerecht verteilt werden. Es darf keine Bevorzugung von Konsum und HO gegenüber dem Privathandel geben. Das Gleiche gilt für die Verteilung von Düngemitteln an die Bauern.

4) Die neu festgesetzten Grundpreise für die Entnahme von elektrischem Strom sind für Handwerk und Gewerbe untragbar und müssen revidiert werden.

Weiterhin stellt der Kreisverband Nebra folgende Anregung fest: Der Interzonenpassverkehr muss wesentlich erleichtert werden, Ziel muss die Aufhebung der Zonengrenze sein. Diejenigen Funktionäre der FDJ, welche die Ausschreitungen gegen die Angehörigen der »Jungen Gemeinde« [begangen] oder angeordnet haben, sind zur Verantwortung zu ziehen.

Der Bezirksverband Suhl macht den Vorschlag, der demokratische Rundfunk soll bei seinen Nachrichtensendungen nicht immer nur betonen, dass das ZK der SED etwas vorgeschlagen hat, sondern durch eine wirkliche gute Zusammenarbeit muss die Grundlage dafür geschaffen werden, dass in kürzester Zeit im Interesse der gemeinsamen Aufgaben und Ziele gemeldet werden kann: Die Blockparteien haben vorgeschlagen und beschlossen.

Im Kreisverband Rochlitz wurden folgende Forderungen aufgestellt: Warum werden weiter sämtliche Beschlüsse und Vorschläge zur Verbesserung vonseiten des ZK der SED gemacht und nicht vom Block. Was hat unsere Partei unternommen, um bei der Beseitigung von Härten mitzuhelfen und wann erfährt die Bevölkerung etwas von diesen Vorschlägen und Erfolgen. Warum werden zur Durchführung von Sicherheitsmaßnahmen grundsätzlich nur Mitglieder der SED herangezogen. Warum bringt der Rundfunk die Stellungnahme der SED in Kommentaren wörtlich. Von den anderen Parteien wird kaum etwas erwähnt. Wir haben den Eindruck, dass die einseitige Beeinflussung in Zukunft weitergeht, da bis heute von einer Blockarbeit noch nicht gesprochen worden ist.

Der Kreisverband Annaberg stellt folgende Forderung: Man wünscht gerade jetzt Beweise echter Blockpolitik zu sehen. Das sind die Voraussetzungen zur Beseitigung der Spannung. Man erwartet Gleichberechtigung und Anerkennung unserer Mitglieder. Es sind schon jetzt Anzeichen vorhanden, dass seitens der SED politische Maßnahmen eingeleitet worden sind, die nach Ansicht des Kreisverbandes sehr wohl erst im Kreisblock hätten besprochen werden müssen, z. B. Einsetzen von Kommissaren mit Sonderausweisen in Schwerpunktbetrieben, Stadtbezirken und Gemeinden.

Der Kreisverband Plauen-Stadt stellt folgende Forderung: Parteifreunde haben sich an den Kreisverband gewandt mit der Bitte, dass die Handelskammern wieder eingerichtet werden, damit auch dadurch das private Wirtschaftsleben wesentlich verstärkt werden kann.

Im Kreisverband Aschersleben fordern sechs LDP-Verbände die Aufhebung der diktatorischen Arbeitsweise der SED bzw. deren Funktionäre. So wird z. B. der Bürgermeister Hirte (SED) aus der Gemeinde Giersleben vonseiten der Bevölkerung seit Monaten abgelehnt. Die Kreisleitung der SED lässt sich trotz mehrmaliger Hinweise des Kreisvorsitzenden der LDP Ehlert zu keiner Änderung bewegen.

Stellungnahme einiger Kreisverbände über die Mitarbeit in den Blockausschüssen:

Im Kreisverband Gotha lässt die Arbeit der Ortsblocks zu wünschen übrig, während der Kreisblock eine gute Arbeit leistet. Ferner wurde im Kreisblock Gotha die Frage eines Stadtratpostens in Ohrdruf behandelt. Hier ist unsere Partei (LDP) mit einer starken Ortsgruppe vertreten, hat aber keinerlei Position in der Stadtverwaltung zugeteilt erhalten. Von der Kreisleitung der SED wurde eine Überprüfung zugesagt, zumal ein Instrukteur der SED (Heller) die LDPD in Ohrdruf mit einer Bemerkung diffamiert habe, dass einer Partei, die einen Dr. Hamann in ihren Reihen gehabt hat, dass Recht auf einen Stadtratposten abzusprechen sei.

Im Kreisverband Langensalza ist festgestellt worden, wie vom Kreisverband berichtet wird, dass gegen die LDPD ständig gearbeitet wird. Dem Kreissekretär der LDPD, Parteifreund Becker, ist es trotz wiederholter Bemühungen nicht gelungen, den 1. Sekretär der Kreisleitung der SED, Tromsdorf, zur Bereinigung verschiedener Vorkommnisse zu sprechen.

Wie aus einem Bericht des Bezirksverbandes Erfurt hervorgeht, ist im Kreisverband Sömmerda die erhoffte Belebung der Arbeit der Ortsblocks nur zum Teil eingetreten, da die durch den Kreisblock ausgearbeiteten Richtlinien durch Fehlleitung noch nicht in den Besitz der Partei gelangten. Die Arbeit des Kreisblockes leide im Kreise Sömmerda an der Federführung durch die Organisationen (FDGB, DFD, FDJ). In den Blockakten besteht keine Übersicht mehr.

Der Kreisverband [sic!] Döbeln und Oschatz berichten von einer vorbildlichen Arbeit. Als besonders vorbildlich wird die Arbeit des Parteifreundes Dr. Peters hingestellt, der es fertiggebracht hat, bis jetzt mit seinem Briefzirkel insgesamt 2 784 Briefe nach Westdeutschland zu schreiben. Die Arbeit der Friedensbewegung hat in den letzten Monaten in bedenklicher Weise nachgelassen. Aus der Blockarbeit geht hervor, dass in allen durchgeführten Kreisblocksitzungen unsere Partei (LDP) vertreten war.

Nachstehend wird eine Reihe von Beispielen über Stellungnahmen einzelner LDP-Mitglieder zur gegenwärtigen Lage gebracht:

Der LDP-Funktionär Riechel aus Delitzsch brachte in seinem Diskussionsbeitrag Folgendes zum Ausdruck: »Die Ärzte können kein Attest über Medikamente ausstellen, die es im Westen gibt, vielmals hängt das Leben eines Patienten davon ab. Wir müssen das sofort beseitigen, damit unsere Ärzte nicht in Gewissenskonflikte kommen. Ich möchte euch einmal fragen, was ihr in den Sprechstunden alles an den Kopf geknallt bekommt und welche Maßnahmen der Regierung werden dann beraten? – Keine. Warum aber nicht? – Weil jeder Angst hat.«

In der weiteren Diskussion spricht Riechel über eine Paketöffnungsaktion und stellt in der Versammlung die Frage, warum immer noch Pakete geöffnet werden. Seiner Meinung nach ist es untragbar für die Würde eines Staates, das jetzt noch durchzuführen.

Das LDP-Mitglied, Frau [Name 2], fordert die weitere Erhöhung der Lebensmittelrationen. Sie stellt die Frage: »Warum bekommen A- und B-Karteninhaber19 volle Butter? Diese Maßnahme würde weiterhin verbittern. Für alle sollen gleiche Karten und danach entsprechend Zusätze ausgegeben werden.«

Das LDP-Mitglied, der Chemie-Ingenieur [Vorname Name 3] sagt: »Eine Umbesetzung der Regierung ist unbedingt erforderlich, man sollte einige Regierungsmitglieder auswechseln. Und zwar die, die für die innerpolitischen Fehler verantwortlich sind.«

Das LDP-Mitglied, der selbstständige Bäckermeister [Name 4, Vorname] ist der Meinung, dass die stattgefundene Demonstration berechtigt war. Man hätte die Gesetze nur erlassen, um die Menschen vorerst einmal beruhigen zu können. Beide Regierungen – Ost und West – müssten abtreten.

Der Parteifreund [Name 5] aus Rochlitz sagt Folgendes: »Er geht ein auf den Beschluss der SED vom 9.6.195320 und sagt, dass dieser auch für uns von weittragender Bedeutung ist. Auch unsere Mitglieder sind mit einem großen Teil von Maßnahmen, wie sie die Regierung in der letzten Zeit beschlossen hat, nicht einverstanden gewesen. Weiter sagt er, wir als Kreisverband Rochlitz können für uns in Anspruch nehmen, dass wir immer und immer wieder über den Bezirksverband durch Aufzeichnung von Beispielen auf diese Härtefälle hingewiesen haben. Wir haben es auch in den Versammlungen nicht unterlassen, unseren Mitgliedern zu sagen, dass auch wir für verschiedene Maßnahmen kein Verständnis aufbringen. Ich möchte sie aber an dieser Stelle gerade aufgrund des Beschlusses der SED davor warnen, dass unsere Parteifreunde sich des Glaubens [sic!] hingeben, dass wir in der Politik in unserer DDR wieder beginnen wie im Jahre 1945. Dieses ist und wird nicht der Fall sein. Die jetzt eingeleiteten Maßnahmen sind einzig und allein entstanden aufgrund der von der Bevölkerung berechtigt geübten Kritik und der nicht zuletzt auch von uns wahrheitsgetreuen Weitergabe von Situationsberichten. In einer Besprechung, zu der uns heute früh der 1. Kreissekretär der SED gebeten hatte, suchte dieser die Schuld beim Staatsapparat und besonders einigen Ministerien. Ich bin der Meinung, dass dieses nicht erschöpfend genug ist. Die führende Kraft war die Arbeiterklasse, also die SED, deren Beschlüsse der II. Parteikonferenz21 ausschlaggebend für diese falschen Maßnahmen waren. Ich bin jedoch der Meinung, dass auch unsere Partei zu diesem Beschluss Stellung nehmen muss, denn damit sind die wesentlichsten Punkte der Leipziger Beschlüsse überholt. Diese Leipziger Beschlüsse fußen auf die 2. Parteikonferenz der SED. Ich glaube aber auch, dass es nicht richtig ist, dass man den einzelnen Ministerien die Schuld geben kann, denn die Verordnungen und Maßnahmen sind ausschließlich im Ministerrat gefasst und beschlossen worden.«

Parteifreund [Name 6] aus Rochlitz stellt den Antrag, einen Beschluss zu fassen, der die Leipziger Beschlüsse, soweit sie diesen neuen Maßnahmen nicht mehr Rechnung tragen, durch die Parteileitung außer Kraft zu setzen. Er fordert weiter eine klare Stellungnahme, wieweit unser Programm nunmehr wieder Gültigkeit hat.

Das LDP-Mitglied [Name 7, Vorname] äußerte, dass er auf den Sturz der Regierung schon lange warte. Die VP ist nicht in der Lage, allein fertigzuwerden, sodass die »Russen« eingreifen müssen.

Nachstehend eine Reihe von Beispielen, die die Teilnahme der LDP-Mitglieder und Funktionäre an den Ereignissen des 16. und 17. Juni 1953 aufzeigt:

Das LDP-Mitglied des Kreisvorstandes und Gemeindevertreter der Stadt Weida, Stefan Baluch, war einer der Initiatoren der Unruhen in Weida, er hat selbst auf dem Marktplatz Hetzreden gehalten. Bei den durch ihn inszenierten Ausschreitungen ist ein Todesopfer zu verzeichnen.

Das LDP-Kreisvorstandsmitglied Gert aus Gera hat sich an den Ausschreitungen mit beteiligt. Das LDP-Mitglied [Name 8, Vorname] aus Jena beteiligte sich beim Ausräumen der Kreisleitung der SED.

Die LDP-Mitglieder Schaal und Banzel haben als Rädelsführer der Demonstration in Pötzschau bei Borna an der Erstürmung des Gemeindehauses und der Zerstörung der Telefonleitungen und der Absetzung des Bürgermeisters teilgenommen.

In Roßwein bei Döbeln beteiligte sich das LDP-Mitglied Beling, welches Leiter des Postamtes ist, an der Demonstration.

Das LDP-Mitglied [Vorname Name 9] aus Berlin-Friedrichsfelde hatte bei der Demonstration zur Zerstörung von Bildern des Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten aufgefordert.

Ebenfalls beteiligte sich das LDP-Mitglied [Name 10] an der Zerstörung von Bildern führender Persönlichkeiten der DDR.

In Bitterfeld haben leitende Wirtschaftsfunktionäre, die Mitglieder der LDP sind, an der Demonstration als Rädelsführer teilgenommen.

Zusammenfassend ist über die Lage der LDP Folgendes zu sagen:

In der Parteiführung wie auch im mittleren Funktionärskörper sowie in breiten Teilen der Mitgliedschaft hat sich eine rechte Tendenz bemerkbar gemacht. Diese entspringt der Auffassung, durch das Eingeständnis der Fehler seitens der SED und der Regierung wäre eine Schwäche oder Unfähigkeit eingestanden worden und dass jetzt die LDP zum Zuge käme, ihre liberalen Forderungen durchzusetzen. Diese zum Teil reaktionären Forderungen wurden von den Kreisverbänden und einzelnen Parteimitgliedern zum Ausdruck gebracht, wie Regierungsumbildung, Einflussnahme auf die Personalpolitik in den Verwaltungen usw.

Diese rechte Tendenz wird in der Parteiführung in der Personifizierung von Dieckmann gesehen und als schwankenden Anhang von Loch. Im mittleren Funktionärskörper und der Mitgliedschaft von jenem Teil vertreten, der am 17.6.1953 sein wahres Gesicht zeigte und jetzt die Zeit für gekommen hält und Morgenluft wittert.

Selbst Mitglieder des Parteivorstandes, die sich bisher als fortschrittlich gebärdeten, wie Frau Sasse und Müller,22 haben eine Wendung um 180° genommen.

Von den in der LDP in der letzten Zeit vorhanden gewesenen Verfallserscheinungen ist nach den neuen Regierungsbeschlüssen und dem Putschversuch am 17. Juni nichts mehr festzustellen. Breite Teile der mittleren Funktionäre und der Mitgliedschaft waren resigniert über die Parteiführung, weil diese zu stark den Regierungskurs vertreten hat und sie ihre wirtschaftlichen Forderungen durch die Partei nicht vertreten sahen. Die allgemeine politische Belebung in der Partei kommt darin zum Ausdruck, dass bisherige politisch passive Mitglieder wieder aktiv werden und in den neuen Regierungsbeschlüssen ein erweitertes politisches Betätigungsfeld erblicken. Selbst Mitgliederzugänge zeugen von einer erhöhten politischen Aktivität der LDP. Hier sei auf den Ausspruch Dieckmanns verwiesen: »Wir müssen die uns jetzt bietende Gelegenheit ausnützen und danach handeln.«

So meldet der Kreisverband Sangerhausen zwei Neuaufnahmen aus dem Kreis der Bergarbeiterschaft. Die Anmeldung erfolgte gerade in den kritischen Tagen. Es handelt sich um die Ehefrau des bereits der LDP angehörenden Aktivisten [Name 11] und dem Bergarbeiter [Vorname Name 12]. Beide erklären übereinstimmend, sie treten der LDP in der Erwartung bei, dass diese Partei dafür sorgt, dass vernünftige Arbeitsbedingungen, erstrebenswerte wirtschaftliche Verhältnisse und politische Freiheit gewährleistet werden. »Wir wollen in der Lage sein, unsere Meinung zum Ausdruck zu bringen, ohne befürchten zu müssen, von der Polizei gemaßregelt zu werden, weil unsere Ausführungen ehrlicher Art [sind], aber politisch gesehen nicht richtig zum Ausdruck kommen.«

In den Reihen des Vorstandes sowie in Kreisen der Mitgliedschaft besteht die Tendenz, durch ein Konformgehen mit der CDU in wirtschaftlichen Forderungen diesen gegenüber der SED mehr Nachdruck zu verleihen (Eisenacher Koalitionsprogramm).23 So wurde z. B. der von der CDU der Regierung überreichte Vorschlag zur Wiedereinrichtung der Industrie- und Handelskammer in zentraler Form vonseiten der LDP ein gleicher Vorschlag – lediglich mit detailhaften Änderungen – nachgereicht. Nach den bisher vorliegenden Unterlagen ist eine offizielle Änderung grundsätzlicher Art in der Linie der Parteipolitik nicht festzustellen.

In der am 5.7.1953 stattgefundenen Zentralvorstandssitzung wurde weder in den Ausführungen von Loch, Dieckmann und Konzok – die die Hauptreferate hielten – eine grundsätzliche Änderung der Parteipolitik hervorgehoben, abgesehen von zweideutigen Ausführungen Dieckmanns.

  1. Zum nächsten Dokument Tagesbericht

    10. Juli 1953
    Information Nr. 1010

  2. Zum vorherigen Dokument Tagesbericht

    8. Juli 1953
    Information Nr. 1008