Analyse für die Zeit vom 1. bis 15. Juni 1954
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Analyse für die Zeit vom 1. bis 15. Juni 1954 [Nr. 11/54]
Volksbefragung1
Diskussionen über die Volksbefragung sind jetzt in den Vordergrund gerückt. Am meisten wurde darüber in den Produktionsbetrieben von Arbeitern und Angestellten, weniger von der übrigen Bevölkerung und in der Landwirtschaft gesprochen. Aus der Landwirtschaft äußern sich vor allem Angehörige der MTS, LPG, VEG und fortschrittlich eingestellte Einzelbauern und von der übrigen Bevölkerung meist Hausfrauen. Der überwiegende Teil der Stimmen ist positiv. Meist bringt man zum Ausdruck, dass es doch für jeden deutschen Patrioten eine Selbstverständlichkeit sein müsste, für einen Friedensvertrag und gegen die EVG2 zu stimmen. Eine Arbeiterin vom Fischverarbeitungswerk Barth, [Kreis] Ribnitz, [Bezirk] Rostock: »Durch die Volksbefragung wird sich herausstellen, wie viele Menschen für den Frieden und wie viele Menschen für den EVG-Vertrag sind, doch ich will in Frieden leben und deshalb begrüße ich die Volksbefragung.«
Eine Hausfrau aus Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Ich habe im Krieg meinen Sohn verloren und hasse den Krieg. Alles will ich durchmachen, aber ja keinen Krieg wieder. Deshalb gebe ich mein ›Ja‹ für den Frieden zur Volksbefragung.« Ein LPG-Bauer aus Deliztsch, [Bezirk] Halle:3 »Das Deutschlandtreffen4 und die Volksbefragung sind harte Schläge für die Kriegsbrandstifter. Wir Genossenschaftsbauern begrüßen die Volksbefragung und werden mit allen Mitteln für die Erhaltung des Friedens kämpfen.«
Teilweise verbreitet man die Meinung, dass die Durchführung der Volksbefragung zwecklos sei, bzw. man könne sich dies sparen, da doch alle Menschen in der DDR für den Frieden sind. Andere Stimmen bringen zum Ausdruck, dass die Volksbefragung nichts nützt, da Adenauer5 sich von seinen Kriegsplänen sowieso nicht abbringen lässt. Die Kollegen einer Brigade aus dem LEW Hennigsdorf sind der Meinung, dass doch alle Menschen in der DDR für den Frieden sind und dass man sich eine Volksbefragung hätte sparen können. Sie sagten: »Für den Krieg kann doch wohl nur jemand sein, der daran verdient und so etwas gibt es doch bei uns nicht.«
Ein Angestellter des Rates des Kreises [sic!] äußerte sich: »Warum führt man jetzt bei uns die Volksbefragung durch? Es kommt ja doch nichts dabei heraus und kostet nur einen Haufen Geld. Ich bin der Meinung, wir sind alle für den Frieden und da ist eine Volksbefragung nicht mehr nötig.« Ein Angestellter der Straßenbahn Putbus, [Bezirk] Rostock: »Die Volksbefragung wird auch nichts nützen, denn Adenauer wird sich dadurch nicht von seinen Kriegsplänen abbringen lassen.«
Vereinzelt treten feindliche Argumente gegen die Volksbefragung auf. Bemerkenswert dabei ist, dass vonseiten der feindlichen Elemente keine einheitlichen Argumente gegen die Volksbefragung vorgebracht werden. Hierzu einige Beispiele:
Ein Textilarbeiter aus dem VEB Sporttuch Cottbus:6 »Die sollen mal lieber fragen, ob die Russen raussollen und ob wir zu Westdeutschland wollen, dann brauchen sie nicht erst Propaganda zu machen. Ich glaube, das würde dann ein voller Erfolg, aber natürlich nicht für die Kommunisten.«
Ein Arbeiter aus dem LEW Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam: »Wenn die Volksbefragung so aufgezogen wird, wie es zur Wahl im Oktober 1950 war, dann wird die Volksbefragung nicht geheim, sondern keiner konnte aus der Reihe tanzen, weil in den Orten die Wahlkabinen fehlten.«7
Ein Arbeiter aus Uhlsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es ist eine Schweinerei, schon die Jungen von 16 bis 18 Jahren mit in die Politik zu ziehen,8 die doch gar keine Ahnung von all diesen Dingen haben.«
Ein Bauer aus Arnsnesta,9 [Bezirk] Cottbus: »Heute ist alles Mist. Zu Hitlers Zeiten haben wir besser gelebt. Zur Volksbefragung gebe ich meine Stimme Adenauer, denn er ist der Hitler von heute.«
Ein Bauer aus Schadlitz,10 [Bezirk] Halle, beeinflusst die Bauern, indem er sagt: »Gebt nicht so viel Soll ab vor der Volksbefragung, wartet erst die Volksbefragung ab, denn dann brauchen wir nichts mehr abzugeben.«
Aus den bürgerlichen Parteien, besonders LDPD und CDU, wurden uns teilweise negative und zweifelnde Stimmen bekannt, wobei besonders in den CDU-Kreisen die Forderung nach »freien und geheimen« Wahlen auftauchte. Diese bürgerlichen Parteien beteiligen sich auch wenig an der Vorbereitung der Volksbefragung. Der Kreisverband der LDPD in Röbel, [Bezirk] Neubrandenburg, lehnt jede Mitarbeit zur Volksbefragung mit der Begründung ab, die Mitglieder wären zu alt. Unter den LDPD-Mitgliedern im Bezirk Halle gibt es zahlreiche negative Diskussionen, wobei hauptsächlich zwei Argumente auftreten: »Die Durchführung einer Volksbefragung sei überflüssig, da doch jeder für den Frieden und gegen eine langjährige Besatzung sei; die Fragestellung sei so geschickt formuliert, dass dazu gar keiner ›Nein‹ sagen kann.«
Die Sekretärin des Probstes, Mitglied der CDU, aus Magdeburg: »Die Volksbefragung ist ein schon vorher festgestellter Schwindel. Ich gehe sowieso nicht hin.« Im Kirchsteueramt Magdeburg bezeichnet man die Volksbefragung als »Volksbetrug«.
Ein Pfarrer aus Boddin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte zu Aufklärern der Nationalen Front:11 »Ich lehne konsequent ab, die Volksbefragung zu unterstützen. Ich kann das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, denn wenn ich mich für die Volksbefragung einsetzen würde, wäre die Spaltung Deutschlands noch größer. Ich bin der Meinung, dass die Regierung nicht gewählt, sondern lediglich von Moskau eingesetzt wurde. Ich habe für die Regierung der DDR nichts übrig, weil sie die Kirche bekämpft. Deshalb beteilige ich mich auch nicht an der Volksbefragung.«
II. Deutschlandtreffen
Die Stimmung unter den Teilnehmern am II. Deutschlandtreffen in Berlin war allgemein gut. Bei Höhepunkten, wie z. B. der Eröffnungskundgebung im Walter-Ulbricht-Stadion, bei den Sport- und Kulturveranstaltungen herrschte allgemein große Freude und Begeisterung. Auch die Disziplin der Teilnehmer bei der Demonstration und bei Veranstaltungen war allgemein gut.
Negative Erscheinungen und Meinungen traten verhältnismäßig in geringem Umfange auf. So war der Umfang der Jugendlichen, die nach Westberlin gingen, trotz der Überschwemmung mit Feindmaterial gering. Bis zum 7.6.1954 waren z. B. bei der VP (Bezirksbehörde) 1 098 Jugendliche bekannt geworden, die in Westberlin waren. Größtenteils wurden solche Jugendliche mit vollem Einverständnis der übrigen Freunde sofort in den Heimatort zurückgeschickt.
Durch Mängel bei den Quartieren oder bei der Verpflegung traten negative Diskussionen auf. Solche Fälle wurden nur wenige bekannt, wobei die schlechte Stimmung meist nur von kurzer Dauer war. Bei Eintreffen von Jugendlichen in der Leninstraße (Köpenick)12 waren die Quartiere noch nicht mit Stroh versorgt, wodurch eine geringe negative Stimmung bei den Jugendfreunden eintrat. In einer Kulturgruppe vom Saalkreis, [Bezirk] Halle, zeigte sich die Tendenz, zum Kulturprogramm nicht aufzutreten, da die Verpflegung zu spät angeliefert wurde. Nach Diskussionen mit den Jugendfreunden wurde diese Stimmung bereinigt.
Auch Versuche feindlicher Beeinflussung, durch Flugblätter und Agenten, stießen meist auf Ablehnung bei den FDJlern. Zwei Jugendfreunde aus den Buna-Werken wurden in einer Gaststätte an der Warschauer Brücke von einer Person mit einem SED-Abzeichen angesprochen und aufgefordert, nach Westberlin zu kommen. Als man ihn deswegen nach seinem Parteidokument fragte, verließ er das Lokal, wobei er von einem Jugendlichen verfolgt und der VP übergeben wurde.
Die sonstige Bevölkerung zeigte wenig Interesse für das II. Deutschlandtreffen. Hierzu einige Beispiele, die zum Ausdruck bringen, dass das II. Deutschlandtreffen den bestehenden HO-Fleischmangel und den vereinzelt bestehenden Mangel an Getränken in Berlin hervorgerufen haben soll. Ein Arbeiter vom Lokbau des Bahnhofs Seddin, [Kreis] Potsdam: »Es ist ganz schön, wenn die Jugend zusammenkommt, aber das geht doch nur auf Kosten der Arbeiter, deshalb verstehe ich nicht, dass jetzt schon wieder so etwas in Berlin stattfindet.« Eine Hausfrau aus Berlin-Mitte: »Es gibt kein Fleisch in der HO. Wenn die Bevölkerung darunter leiden soll, sollte man solche Sachen wie das Jugendtreffen in Berlin gar nicht erst organisieren.«
Im Ganzen gesehen waren die Begeisterung und die Stimmung unter den FDJlern sowie die Ausschmückung beim Deutschlandtreffen geringer als bei den III. Weltfestspielen,13 jedoch waren sie gut.
Produktionsschwierigkeiten
Die Produktionsschwierigkeiten sind in den meisten Fällen in unverändertem Umfang geblieben. In den Bezirken Halle, Erfurt und Dresden haben die Produktionsschwierigkeiten etwas zugenommen, wogegen in den Werften im Bezirk Rostock sie geringer geworden sind. Die Ursachen der Produktionsschwierigkeiten sind die gleichen geblieben und zwar Materialmangel, unregelmäßige Materialanlieferung durch die Zubringerbetriebe, schlechte Qualität besonders bei Gussteilen sowie Rohstoffmangel.
Über die HO-Fleischversorgung
Während der Berichtszeit ist die Versorgung mit HO-Fleischwaren durch die Bereitstellung von größeren Kontingenten allgemein etwas besser geworden, was sich günstig auf die Stimmung der Bevölkerung auswirkt. Die Bezirke Suhl, Gera und Leipzig berichten von einer wesentlichen Besserung.
Landwirtschaft
Im Vergleich zur vorhergehenden Berichtsperiode sind die Schwierigkeiten in der Futter- und Düngemittelversorgung weiterhin zu verzeichnen. Größtenteils berichten uns darüber die Bezirke Dresden, Leipzig, Cottbus, Rostock, Schwerin. Besonders krass wirkt sich der Futtermangel im Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, aus, wo Bauern dazu übergegangen sind, ihre Roggenflächen mitunter bis zu 95 Prozent abzumähen.
Weiterhin wird in der Düngemittelzuteilung bemängelt, dass sie nicht nur unzureichend ist, sondern oft zu spät erfolgt. Dazu äußerte ein Neubauer (SED) aus Putbus, [Bezirk] Rostock: »Jedes Jahr ist dieselbe Schweinerei, dass die BHG keinen Dünger herbekommt. Jetzt brauchen wir ihn unbedingt für das Sommergetreide, aber immer bekommen wir ihn erst, wenn es zu spät ist. Abliefern sollen wir und keiner fragt uns, woher wir das Getreide nehmen sollen, wenn dadurch die Ernte schlecht ausfällt.«
Feindtätigkeit
Die Zahl der verbreiteten Hetzschriften hat sich gegenüber der 2. Maihälfte verringert. Die Anzahl fiel von 1 380 000 Stück in der 2. Maihälfte auf 606 400 Stück in der 1. Junihälfte, dabei sind allerdings die Zahlen der anlässlich des II. Deutschlandtreffens verbreiteten Hetzschriften nicht enthalten, da dieselben sofort nach dem Abwurf vernichtet wurden. Schwerpunkte in der Verbreitung waren außer Berlin zum Deutschlandtreffen: Karl-Marx-Stadt 68 181, Potsdam 53 930, Magdeburg 36 700.
In den meisten Fällen handelt es sich um Hetzschriften des SPD-Ostbüros14 (ca. 50 Prozent), der NTS,15 KgU,16 »Freien Jungen Welt«17 und einer unbekannten Zentrale mit der Überschrift »Deutsche der Bundesrepublik«. Die Flugblätter in tschechischer Sprache (ca. 50 Prozent) traten ausschließlich in den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt auf. Ein Teil der Flugblätter stammt noch aus früheren Abwürfen und hat den bereits bekannten Inhalt. Neue Flugblätter richten sich gegen das II. Deutschlandtreffen und standen unter dem Motto: 17. Juni. Die Flugblätter gegen das II. Deutschlandtreffen kamen vorwiegend vom SPD-Ostbüro, der KgU und der »Freien Jungen Welt« bzw. anderer westlicher Jugendorganisationen. Sie enthielten Verleumdung der Partei und Regierung und forderten zum Teil zum Besuch des Westsektors auf.
Von der NTS wurden während des II. Deutschlandtreffens mittels Ballons Flugblätter verteilt, die unter anderem die genaue Anleitung zum Anfertigen von Hetzmaterial enthalten.
Die Flugblätter zum 17. Juni enthielten Hetze und Verleumdung gegen DDR, Partei und Regierung und forderten in vielen Fällen zu Besonnenheit am 17. Juni 1954 auf. Von diesen Hetzschriften gelangte nur ein ganz geringer Teil in die Hände der Bevölkerung. Der größere Teil wurde sichergestellt.
Gefälschte Schreiben traten während des II. Deutschlandtreffens in größerer Anzahl und verschiedenster Art zur Desorganisation des Festivals auf.
Antidemokratische Tätigkeit trat in Form von Anmalen von Hetzparolen und Hakenkreuzen,18 Abreißen von Plakaten und Fahnen in allen Bezirken auf.
Terrorfälle wurden insgesamt sechs bekannt, die sich gegen drei SED-Funktionäre, einen FDJler, eine Pionierleiterin und einen Abschnittsbevollmächtigten der VP richteten.
Diversionshandlungen traten insgesamt acht, davon fünf in der Industrie und drei in der Landwirtschaft auf.
Viehvergiftungen traten in zwei Fällen auf.
Brandstiftungen insgesamt vier in der Landwirtschaft. Die Zahl der Waldbrände, die nur zu einem geringen Teil auf fahrlässige oder vorsätzliche Brandstiftung zurückzuführen sind, ist nicht bekannt.
Im Mittelpunkt der Hetze der Westpresse stand zu Beginn des Berichtszeitraumes weiterhin das II. Deutschlandtreffen der FDJ. Hauptziel war dabei die Verleumdung des II. Deutschlandtreffens als schlecht vorbereitet und als »Misserfolg« sowie die Werbung zum Besuch der Westsektoren. Die Westsender beschäftigten sich darüber hinaus noch mit folgenden Problemen, die die DDR betrafen.
Volksbefragung: nur vereinzelte Artikel, die sich besonders mit der Wahltechnik beschäftigten. Ziel: Verleumdung unserer Regierung als undemokratisch, Verwirrung der Bevölkerung.
Neuer Kurs:19 Die Sendungen zum Neuen Kurs waren alle auf eine Verleumdung unserer Regierung und Verächtlichmachung unserer Erfolge gerichtet. In der Industrie wurden dabei besonders behandelt: Volkswirtschaftsplan 1954, Normenerhöhungen und Lohnsenkungen, Entwicklung der Schwerindustrie, Produktion von Massenbedarfsgütern, Lage in Textil- und Fahrzeugindustrie. In der Landwirtschaft wurden folgende Fragen besonders behandelt: Arbeitspläne, Kartoffelversorgung und Hetze über »weitere Kollektivierung«.
FDJ: Verleumdung als »Parteijugendorganisation«.
Kampfgruppen:20 Verleumdung über Zusammensetzung und Ausbildung.