Zur Beurteilung der Situation
3. September 1954
Informationsdienst Nr. 2304 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Tagesfragen wird im Allgemeinen wenig diskutiert. Im Mittelpunkt dieser wenigen politischen Diskussionen steht die Ablehnung des EVG-Vertrages durch die Nationalversammlung in Frankreich.1 Die Stellungnahmen sind überwiegend positiv, dabei bringt man zum Ausdruck, dass die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich ein weiterer Sieg des Weltfriedenslagers ist und dass dadurch besonders der Kriegspolitik Adenauers2 ein weiterer Schlag versetzt wurde. Ein Betriebsmaler vom VEB Baumwollspinnerei Erdmannsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das französische Volk wird es nicht zulassen, dass in Westdeutschland eine neue faschistische Wehrmacht aufgestellt wird, damit Frankreich und die anderen Völker erneut überfallen werden. Die Franzosen haben mit der Ablehnung des EVG-Vertrages ein gutes Beispiel gegeben, wie durch die Aktionseinheit der EVG-Vertrag verhindert wird.«
Mehrere Kumpel der 10. Abteilung des Steinkohlenwerkes »Martin Hoop« Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erklärten: »Die Ablehnung der EVG ist ein gewaltiger Schlag in das Herz der Kriegsvorbereitung der Amis. Mit dieser Ablehnung ist das Lager des Friedens wieder bedeutend stärker geworden, denn Frankreich ist in Westeuropa ein starkes Land, was im Friedenskampf nicht zu verkennen ist.«
Ein Arbeiter vom VEB Feinprüf Schmalkalden, [Bezirk] Suhl: »Die Ablehnung der EVG durch das französische Volk ist zugleich ein großer Sieg der Friedenskräfte in der Welt.«
Ein parteiloser Arbeiter aus der Stahlformgießerei des Stahlwerkes Riesa, [Bezirk] Dresden: »Durch die Ablehnung der EVG in Frankreich haben auch Adenauer und seine Amerikaner tüchtig zu kauen.«
Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden: »Ich bin der Meinung, dass sich durch die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich die internationale Lage entspannen muss und auch Westdeutschland jetzt nicht mehr länger für die EVG eintreten kann.«
Nur vereinzelt wird negativ zur Ablehnung des EVG-Vertrages diskutiert. Ein Arbeiter aus dem VEB Röhrenwerk Neuhaus, [Bezirk] Suhl: »In Frankreich wird die EVG deswegen nicht angenommen, weil Frankreich Angst vor Deutschland hat. Da Westdeutschland wieder aufrüstet, um gewappnet zu sein, wenn die Russen durchbrechen wollen.«
Einige technische Intelligenzler aus den volkseigenen Betrieben Meiningen, [Bezirk] Suhl, sind der Meinung, dass die Ablehnung der EVG ein geschickter Schachzug der USA sei und sie etwas anderes erfinden werden.
Zur Volkskammerwahl3 wird nur wenig diskutiert. Teilweise übernimmt man in den volkseigenen Betrieben Verpflichtungen. In negativen Diskussionen nimmt man gegen die Aufstellung einer einheitlichen Kandidatenliste der Nationalen Front4 Stellung und fordert Parteiwahlen.
Zu Ehren der Volkswahlen verpflichteten sich die Einrichter des VEB Röhrenwerkes Neuhaus, [Bezirk] Suhl, einen Schweißtakter zu bauen. Dadurch werden die Unkosten im Betrieb gesenkt.
Ein Angestellter aus dem VEB Kühlanlagenbau Dresden: »Man sollte keine gemeinsamen Stimmlisten aufstellen, denn dadurch ist es gar keine richtige Wahl mehr. Bei einer Wahl nach Parteien, wie es sich ja gehört, würde erst die richtige Einstellung der Bevölkerung zum Ausdruck kommen. Die SED würde dann gewaltig hintenanstehen und nur aus diesem Grunde stellt man die Parteien nicht einzeln auf.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Federnwerk Zittau: »Ich will ein klares Bild, wie stark jede Partei ist und fordere deshalb Listenwahlen.«
Aus dem Bezirk Rostock wurden uns Stimmen bekannt, die erkennen lassen, dass die Vorbereitungen zur Volkskammerwahl noch mangelhaft ist [sic!]. Ein Kantinenwirt aus Warnemünde, [Stadt] Rostock: »Es ist sonderbar, dass man diesmal fast gar nichts von der Vorbereitung der Wahl zu sehen und hören bekommt.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Seehafen Warnemünde: »Leider wird für die Vorbereitung der Wahl noch sehr schlecht gearbeitet, weil wir uns noch zu wenig dafür einsetzen. Berücksichtigen muss man hierbei allerdings, dass im Augenblick viele Kräfte bei der Einbringung der Ernte eingesetzt sind.« (Mitglied der SED)
Über die Streikbewegung in Westdeutschland5 und über den Schritt des CDU-Bundestagsabgeordneten Schmidt-Wittmack6 wird nur noch ganz vereinzelt diskutiert, meist positiv.
Im Vordergrund der Diskussionen der Werktätigen stehen wirtschaftliche und betriebliche Fragen. Im Bezirk Potsdam beklagen sich die Kollegen, dass sie keine billigen Zigarettensorten zu kaufen bekommen und bringen zum Ausdruck, dass sie als Arbeiter nicht in der Lage sind, Zigaretten zu 24 Pfenning zu kaufen.
Ein Arbeiter aus dem Kunstseidenwerk Premnitz diskutierte, dass es sich für die Entwicklung der DDR schädlich auswirken wird, wenn die maßgeblichen Stellen keine Erklärung geben, auf welche Ursachen die Knappheit mancher Artikel, wie z. B. Zigaretten, zurückzuführen ist.
Unter der schaffenden Intelligenz und auch unter einigen Arbeitern im Weichenwerk7 Brandenburg-West bestehen Unzufriedenheiten wegen der Wohnraumfrage. 30 Arbeiter und technische Intelligenzler wurden im Januar 1953 von den Weichenwerken Karl-Marx-Stadt und Gotha nach Brandenburg-West versetzt. Bei der Versetzung wurde den Kollegen die Wohnraumbeschaffung zugesichert. Bis jetzt haben sie aber noch keine Wohnung erhalten und die Kollegen wollen sich wieder zurückversetzen lassen, wenn sie keine Wohnung bekommen, dadurch würde der Produktionsablauf im Weichenwerk Brandenburg-West ins Stocken kommen.
Aus dem Bezirk Potsdam wird berichtet, dass die Rangierer mit der Entlohnung nicht einverstanden sind und versuchen deshalb in den Stahlwerken Arbeit zu bekommen, weil sie dort ca. DM 100 mehr verdienen. Dort haben sie auch weniger Arbeit zu verrichten als auf den Bahnhöfen. Dieselbe Stimmung ist bei den Lokheizern zu verzeichnen.
Im Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Schwarza, [Bezirk] Gera, herrscht unter den Meistern Missstimmung, die aufgrund der Gehaltsfrage entstanden ist. So erhält z. B. ein Meister bei der Vierteljahresprämie ca. 75,00 DM, während ein Brigadier DM 500 erhält. Ein Brigadier erhält auch DM 100 mehr Gehalt als ein Meister. Die Meister vertreten die Meinung, dass diese Bezahlung ungerecht ist, da sie ja als Meister die Verantwortung haben, während das bei den Brigadieren nicht der Fall ist.
Im Bezirk Gera wird von den Reichsbahnangestellten und Arbeitern noch immer über das Lohngefüge der Reichsbahn diskutiert und man fordert, eine Aufbesserung der unteren Lohngruppen. Ein Rangierer brachte zum Ausdruck: »Wenn die Angelegenheit über die Lohnfrage bei der Reichsbahn nicht in Kürze eine Änderung erfährt, werfe ich die Handschuhe hin.«
Am 2.9.[1954] streikte die Belegschaft der Firma Krahl, Berlin-Lichtenberg.8 In der Firma sind 18 Kollegen beschäftigt, zum größten Teil Frauen. 15 Kollegen sind im FDGB organisiert. Der Streik dauerte von 6.00 bis etwa 9.00 Uhr. Grund hierfür ist die unregelmäßige Lohnzahlung seit zwei Jahren. Mit Unterstützung des FDGB-Bezirksvorstandes und des Gebietssekretärs der IG Metall Lichtenberg erhielten die Kollegen um 12.00 Uhr ihren Lohn.
Im VEB Fortschritt-Werk Friedrichshain-Berlin ist die Stimmung unter den Kolleginnen schlecht. Ursache hierfür ist die Normenfrage. Durch die TAN-Abteilung9 wird die Zeit erst dann abgenommen, wenn der entsprechende Posten schon ziemlich fertig ist. Die Kollegen fordern, dass schon nach einer gewissen Einarbeitung die Zeit abgestoppt wird und sind auch damit nicht einverstanden, dass die Zeitabnahme sehr ungenau durchgeführt wird zu Ungunsten der Kollegen. Seit voriger Woche haben viele Kolleginnen gekündigt. Darunter auch Lehrlinge, die erst vor 14 Tagen ihre Gesellenprüfung ablegten. Verschiedene Kolleginnen gehen nach Westberlin, wo sie als Maßschneiderinnen Beschäftigung finden.
Produktionsstörungen
Wegen Platzen eines Ausstoßrohres für die Trockenanlage im VEB Werk Goitzschen, [Bezirk] Halle, musste die Brikettfabrik angehalten werden. Produktionsausfall: 300 Tonnen Briketts (DM 4 500).
In der Abteilung Messing – Blechwalzwerk im VEB Hettstedt – fiel das Warmtrio 2 infolge einer Störung des Ofens aus. Produktionsausfall beträgt 112 Tonnen.
Produktionsschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben wegen Material und Arbeitskräftemangel.
Die für Anfang September geplante Inbetriebnahme des neuen Elektrizitätswerkes im Braunkohlenwerk Piskowitz, [Bezirk] Dresden, wird durch die noch nicht erfolgte Lieferung der Messgeräte vom Werk »J. W. Stalin«, Berlin-Treptow,10 und Armaturen und Messgeräte [vom] »Karl Marx« Magdeburg11 verzögert.
Im VEB IFA Phänomenwerk Zittau, [Bezirk] Dresden, herrscht Unzufriedenheit wegen der schlechten Qualität der Achsschenkel, die vom »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg12 geliefert werden.
In der Schuhfabrik Storkow, [Bezirk] Frankfurt, herrscht Arbeitskräftemangel.
Im Kreis Königs Wusterhausen bestehen Schwierigkeiten beim Krankentransport, da von neun Wagen fünf nicht einsatzfähig wegen Ersatzteilmangel sind. Es fehlt an Hinterachsen und Hauptbremszylinder und Vorderfedern für Framo F 9.13
Handel und Versorgung
Im Kontor Import und Lagerung Berlin lagern 780 000 Liter Rotwein. Trotz dieses Bestandes wird immer noch weiterer Rotwein importiert.
Verdorbene Waren
Am 31.8.[1954] wurde im Konsum Berlin-Rahnsdorf Hammelfleisch verkauft, das für die menschliche Ernährung unbrauchbar war. Eingesandte Wurstproben aus der Großfleischerei Rudolstadt, [Bezirk] Gera, an das Hygiene-Institut Jena ergaben, dass sich in dem Fleisch ein Bazillus (Fadenzieher) befindet, welcher durch Genuss in größeren Mengen beim Menschen den Tod zur Folge haben kann. Die Auslieferung dieser Warenproduktion wurde sofort gesperrt und Maßnahmen zur Bekämpfung des Bazillus angeordnet.
Die Schwierigkeiten in der Fleischversorgung sind in den Bezirken Cottbus, Erfurt, Potsdam, Halle und Karl-Marx-Stadt noch nicht behoben und führen immer wieder zu negativen Diskussionen wie z. B. in Brand-Erbisdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Regierung muss doch gar nicht wissen, was sie will. Einmal ist das Rindfleisch knapp und das andere Mal wieder Schweinefleisch. So etwas hat es bei den Kapitalisten früher nicht gegeben. Und die Auswahl der Wurstsorten! Hier gibt es auf Marken nur Schmierwurst.«
In den Kreisen Worbis und Langensalza, [Bezirk] Erfurt, klagt die Bevölkerung über den Mangel an Frischfleisch. Dort war in den letzten Wochen das HO-Fleisch sehr knapp und in diesen Wochen ist das Markenfleisch nicht ausreichend.
Zigarettenmangel besteht nach wie vor in den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin und Potsdam.
Im Kreis Schmalkalden ist die Nachfrage nach Fischwaren, Käse und Bohnenkaffee so groß, dass den Verkäufern der Verkauf peinlich wird, weil sie nicht wissen, was [sie] den Hausfrauen antworten sollen.
Mängel an der Brotversorgung machen sich in verschiedenen Gemeinden des Kreises Suhl bemerkbar. In Oberstadt und Schmeheim z. B. wurde das Brot vom Konsum erst in den späten Abendstunden angeliefert und führte zu großer Verärgerung unter der Bevölkerung.
Nährmittel, Fischwaren, Kartoffeln fehlen im Bezirk Schwerin. Die Verteilung der Kartoffeln wurde durch den Konsum in Schwerin planlos vorgenommen. Es kam zu großen Menschenanstauungen und viele gingen leer aus.
In einigen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt fehlen gleichfalls Kartoffeln.
Industriewaren-, besonders Textilienmangel ist in Magdeburg zu verzeichnen.
Ersatzteile und Reifen für Kraftfahrzeuge fehlen in den Bezirken Erfurt und Gera.
In der DHZ Rudolstadt, [Bezirk] Gera, fehlen 22er Felgen für Ikarus-Wagen, die in der DDR nicht mehr hergestellt werden. Wenn nicht bald die Reifen herbeigeschafft werden, müssen in kürzester Zeit alle Busse stillstehen. Ein Bus steht schön längere Zeit still.
Glühbirnen fehlen in der DHZ Elektro Görlitz, [Bezirk] Dresden, weil der VEB Berliner Glühlampenwerk seine Verträge nicht eingehalten und die Lieferung um 73 500 Glühbirnen gekürzt hat.
Landwirtschaft
Zu den Volkskammerwahlen und zur EVG wurde nur wenig, hauptsächlich in den MTS und LPG, jedoch überwiegend positiv diskutiert. Neu ist, dass durch die Ablehnung der EVG in Frankreich bei unseren Bauern teilweise eine bessere Stimmung zu verzeichnen ist. Diese Erscheinung, auch bei Großbauern, wurde von einem Erfasser der VEAB Zeitz, [Bezirk] Halle, festgestellt. Er sagte: »Als ich zu einem Großbauern [nach] Kretzschau, [Kreis] Zeitz, kam, bot er mir auf einmal alle Schweine zum freien Verkauf an und diskutierte so freundlich und positiv, dass ich direkt erstaunt war, wie er sich so schnell über Nacht umgestellt hat.«
Ebenso löste der Regierungsbeschluss und die gleich darauf eingesetzte Hilfe der Bauern eine allgemeine Freude in der Landbevölkerung aus und trägt zur Stärkung der Vertrauens zu unserer Regierung bei.14 So verpflichteten sich z. B. Einzelbauern der Gemeinde Delitz am Berge, [Bezirk] Halle, anlässlich des Regierungsbeschlusses einen Tag bei der LPG »Jonny Schehr« unentgeltlich einzufahren. Ein Großbauer dieser Gemeinde sagte: »Ich bin mit der Getreideernte fertig, darum helfe ich der LPG, um jedes Korn unserem Staate schnellstens zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde stelle ich der LPG ›Jonny Schehr‹ meinen Traktor mit zwei Anhängern einen Tag unentgeltlich zur Verfügung.«
Die Ernte selbst macht durch den Einsatz der Erntehelfer in allen Bezirken gute Fortschritte und es besteht alle Hoffnung, dass sie in Kürze beendet sein wird. Vor allem werden dabei die Helfer der KVP15 für ihre gute Leistung gelobt.
Im Bezirk Cottbus, wo 700 Angehörige der KVP eingesetzt sind, erfüllte der Kreis Forst am 1.9.1954 als zweiter Kreis der DDR sein Getreidesoll 100-prozentig.
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wird die Erntehilfe als Ausdruck des Bündnisses zwischen Stadt und Land wie folgt zum Ausdruck gebracht: Ein werktätiger Bauer aus Ellefeld: »Früher haben wir gegenüber der Stadt in der Bündnisfrage viel gesündigt und wollten nicht verstehen, dass dies von unserem Staat ernst gemeint ist. Aber jetzt sehen wir, dass auch wir mithelfen müssen, dieses Bündnis schnellstens zu festigen, denn die Industriearbeiter geben durch ihre praktische Hilfe ein reales Beispiel dafür.«
Mängel bei der Ernte treten nur vereinzelt auf, wie z. B. in Rathenow, [Bezirk] Potsdam, wo die Erntehelfer aus dem Kunstseidenwerk Premnitz die Bauern dadurch verärgerten, dass sie ihr Hauptaugenmerk auf das Essen und nicht auf die Arbeit legten. Gleich nach Arbeitsbeginn forderten sie Essen an. Nach dem Essen legte sich die eine Hälfte der Arbeitsgruppe in den Straßengraben und die andere Hälfte suchte die Gastwirtschaft auf.
Andererseits wurden Erntehelfer teilweise durch die schlechte Arbeitsmoral der Dorfbewohner enttäuscht, wie z. B. in dem VEG [Groß] Langerwisch, Kreis Pritzwalk, wo sich die Ehefrauen der VEG Arbeiter an der Ernte nicht beteiligten und eine davon sagte: »Die aus der Stadt sollen sich auch einmal die Hände schmutzig machen, sie wollen ja auch Brot essen.«
In einigen Gemeinden des Kreises Langensalza, [Bezirk] Erfurt, wie z. B. in Tüngeda, mussten die Erntehelfer teilweise bis zur Mittagszeit auf ihren Einsatz warten.
In den meisten LPG des Bezirkes Erfurt erhielten die zur Erntehilfe eingesetzten Arbeiter und Angestellten und die KVP den ganzen Tag nichts zu essen und zu trinken. Sie sind der Meinung, dass das Bündnis zwischen Stadt und Land nicht so ausgenützt werden darf.
Missstimmung16
Die werktätigen Bauern aus Harzgerode, Kreis Quedlinburg, sind über die Wildschweinschäden auf ihren Äckern missgestimmt und sagen: »Wenn nicht bald größere Jagdkommandos eingesetzt werden,17 wird die gesamte Kartoffelernte durch die Wildschweine vernichtet.«
In den Gemeinden des MTS-Bereiches Göhlen, [Bezirk] Schwerin, klagen die Bauern über die VEAB, dass sie ihnen nicht alle Kartoffeln abnimmt. Ein Bauer aus Glasin18 sagte hierzu: »Die Regierung sabotiert die Volksernährung, indem sie die VEAB anweist, keine weiteren Kartoffeln anzunehmen.«
Übrige Bevölkerung
Die Diskussionen über die politischen Probleme haben weiterhin einen geringen Umfang, sind aber überwiegend positiv. Die Ablehnung des EVG-Vertrages durch das französische Parlament hat in den verschiedensten Kreisen der Bevölkerung ein freudiges Echo ausgelöst. Es wird übereinstimmend zum Ausdruck gebracht, dass dieses Ereignis wesentlich zur Stärkung des Weltfriedenslagers beiträgt.
Ein Professor aus Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Über die Tragweite dieses Erfolges der Friedenskräfte sind wir bzw. können wir uns noch nicht klar sein, denn wir dürfen hier nicht nur Deutschland sehen, sondern man muss das Ereignis im internationalen Maßstab betrachten. Es ist jedoch so, dass das Weltfriedenslager eine gewaltige Stärkung erhalten hat und dem Adenauer bewiesen wurde, dass eine Wiederaufrüstung Deutschlands abgelehnt wird.«
Ein Wirtschaftsleiter (NDPD) auf dem VEG Nuchen,19 [Bezirk] Frankfurt: »Frankreich ist eines der größten Länder Westeuropas. Die Ablehnung der EVG ist für die DDR ein großer Fortschritt und Adenauer wurde damit eine empfindliche Schlappe zugefügt.«
Negativ äußerte sich ein Gastwirt aus Penig, Kreis Rochlitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Nun haben die Franzosen den EVG-Vertrag abgelehnt und der Pole schlägt ihnen einen Sicherheitspakt vor.20 Jetzt ist es doch ganz aus, dass es einmal anders wird.«
Bei den Äußerungen zur Volkswahl handelt es sich größtenteils um die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste, was von der Mehrheit begrüßt wird mit der Begründung, dass die Vergangenheit gezeigt hat, wo der Wahlkampf der einzelnen Parteien hingeführt hat.
Am meisten tritt die Forderung – nach Parteiwahlen – immer wieder in den Reihen der bürgerlichen Parteien auf. Begründet wird es damit, dass es keine demokratischen Wahlen sind und nur wenn jede Partei eine eigene Liste aufstellt, kann festgestellt werden, wer die stärkste Partei ist. So sagte z. B. ein NDPD-Mitglied aus Erla, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Bei einer Parteiwahl möchte ich nur gerne einmal wissen, wie die SED abschneiden würde. Die NDPD hätte bestimmt ein Wort mitzusprechen.«
Ein CDU-Mitglied aus dem Kreis Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin dafür, dass jede Partei ihre Kandidaten aufstellt, nicht auf einer gemeinsamen Liste, sondern jede Partei soll ihre eigenen Wählerlisten haben. Über diese Wähler muss geheim abgestimmt werden, denn dann wird sich zeigen, welche Partei die stärkste ist. Wir als Mitglieder der CDU werden ja jetzt überall hintenangesetzt, ob das bei Besetzen von Betriebsstellen in Wirtschaft oder Staatsfunktionen ist.«
Bei einer Rechenschaftslegung21 eines Angeordneten der CDU in Dingelstadt, [Bezirk] Erfurt, wurde in der Diskussion hauptsächlich über die schlechte örtliche Warenstreuung gesprochen. Die dort anwesenden Vertreter der HO und des Bezirkes nahmen ziemlich formal zu dieser Frage Stellung, sodass die Anwesenden nicht recht damit zufrieden waren.
Bei der Rechenschaftslegung in Pauscha, Kreis Naumburg, [Bezirk] Halle, kam es in der Diskussion zu folgenden Argumenten, dass es Schwindel sei, wenn behauptet wird, bei uns wäre es besser geworden. Des Weiteren, dass ein Arbeiter mit der gleichen Beschäftigung in der HO mehr verdient. Auch würde in der DDR ein Hemd noch genauso viel kosten als vor vier Jahren, nämlich DM 40,00. Man könne sich nur Margarine leisten und müsste, wenn die Marken aufgehoben werden, verhungern.
In der Diskussion über wirtschaftliche Dinge tritt eine Unzufriedenheit über die Lebenslage in letzter Zeit etwas mehr in Erscheinung. Unter einigen Einwohnern Zella-Mehlis’, [Bezirk] Suhl, wurde darüber diskutiert, dass die Reisenden aus Westdeutschland so eine hohe Lebensmittelkarte erhalten. So sagte z. B. ein Einwohner: »Ja, da kann man gut leben, im Gegensatz zu uns. Wir bekommen die E-Karte22 und die sieht etwas anders aus. Wenn die Westdeutschen diese Karte bekommen würden, bekämen sie ein anderes Bild von der DDR.«
Im Kreis Rathenow, [Bezirk] Potsdam, wird verschiedentlich darüber diskutiert, dass bei vielen Waren die Preise höher geworden sind. Zum Beispiel soll der Reis erst DM 1,80 und jetzt DM 2,20 kosten.
Im Kreis Kalbe, [Bezirk] Magdeburg, herrscht unter den Konsummitgliedern Unzufriedenheit, weil der Konsum ihnen keine Rückvergütung zahlt.23 Begründet wird das vom Konsum damit, dass der Konsum zu unrentabel gearbeitet hat. Die Mitglieder brachten in einer Weise zum Ausdruck: »Dass man den Konsum auflösen soll, da ja doch nur ein kleiner Teil Funktionäre und der Staat sich daran bereichert.«
Eine Krankenschwester aus Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Bei uns im Krankenhaus herrscht ein großer Schwesternmangel. Fast jeden Tag arbeiten wir 10 bis 12 Stunden. Das ganze Krankenhaus ist mit Patienten überfüllt. Wir sind gar keine Schwestern mehr im eigentlichen Sinne, sondern Personen, die für eine Massenabfertigung zu sorgen haben.« (Ähnlich verhält es sich in der Tbc- und Diabetiker-Heilstätte Schielo/Ostharz.)24
Im Postamt Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, besteht ein großer Mangel an Arbeitskräften. Die Ursache liegt vor allem darin, dass der Kindergarten in Pritzwalk keine Kinder mehr aufnehmen kann und aus dem Grunde können viele Frauen nicht arbeiten gehen.
Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:25 Cottbus 50, Potsdam 8, Dresden und Gera einige.
NTS:26 Suhl 2 400, Frankfurt/Oder 2 000, Gera 1 000, Potsdam 35, Dresden 15, Halle 5.
In tschechischer Spr[ache]: Dresden 38.
»Der Tag«:27 Potsdam 120, Berlin 100, Neubrandenburg und Halle einige.
»Freie Junge Welt«:28 Cottbus 40, Potsdam 22.
In Schwerin wurden 3 000 mit Hetze über den 17. Juni 1953 gefunden.
Die Mehrzahl der Flugblätter wurde sichergestellt.
»Telegraf« vom 2.9.1954: Am 5.9.1954 findet auf dem Gelände der Trabrennbahn Ruhleben der diesjährige »Pommerntag« statt.29 Bundesminister Dr. Tillmanns30 und der Vorsitzende der pommerschen Landsmannschaft,31 Dr. Eggert,32 werden die Ansprachen halten. Die Veranstaltung beginnt um 10.00 Uhr mit der Eröffnung einer Veranstaltung im Teehaus der Rennbahn Ruhleben. Vor der Eröffnung um 14.00 Uhr finden Gottesdienste beider Konfessionen statt.
Vermutliche Feindtätigkeit
Im VEB Papierfabrik Heidenau, [Bezirk] Dresden, brach am 2.9.1954 ein Kesselhaus- und ein Dachstuhlbrand aus. Ursache und Schadenhöhe noch nicht bekannt.
In der Gemeinde Damm, Kreis Parchim, [Bezirk] Schwerin, brannte eine Strohmiete mit 40 Zentnern Stroh nieder. In der Trockenanlage der VEAB in Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, entstand ein Brand. Die Stallungen eines Bauern aus Gadebusch, [Bezirk] Schwerin, brannten bis auf die Grundmauern nieder.
Die Ursachen der Brände konnten in allen Fällen noch nicht festgestellt werden.
Anlage 1 vom 2. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2304
Mängel in Handel und Versorgung
In den Leuna-Werken beklagen sich die Kollegen von Naumburg über die schlechte Belieferung der Konsumverkaufsstellen im Gegensatz zu den Privatgeschäften. Die Privatgeschäfte haben genügend Graupen, Haferflocken und Erbsen, die man im Konsum nicht erhält. Außerdem kosten die Kartoffeln in den Privatgeschäften das Pfund 9 Pfennige und im Konsum dagegen 12 Pfennige.
Im Betrieb »Clara Zetkin« in Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt, herrscht unter den Werktätigen Unzufriedenheit über die unzureichende Warenbereitstellung durch die HO, besonders Sommer- und Staubmäntel sind nicht zu haben.
Der Konsum im Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, beabsichtigt, in diesem Jahr wegen Unterbilanz keine Rückvergütung auszuzahlen. Die Bevölkerung ist damit nicht einverstanden und will ihren Austritt erklären, da sie sich für die Unterbilanz nicht mitverantwortlich fühlen [sic!].
In Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, wird darüber diskutiert, dass die Artikel des Sommerschlussverkaufes in HO und Konsum in anderen Orten bei gleicher Qualität billiger wären.33
Vom Branchenleiter der HO Berlin wird das Ergebnis des Sommerschlussverkaufes als ungenügend bezeichnet. Die Ursache hierzu ist der späte Zeitpunkt der Durchführung und der eine Zeit lang vorher in Westberlin durchgeführte Schlussverkauf, wodurch viele Bewohner des demokratischen Sektors ihren Bedarf besonders an Druckstoffen in Westberlin gedeckt haben.
Eine vom Rat des Bezirkes Köpenick durchgeführte Bestandsaufnahme ergab, dass in einem HO-Geschäft in Oberschöneweide Kleidungsstücke seit 1949 lagern. Wegen des hohen Preises und des unmodernen Schnittes konnten sie bis jetzt nicht abgesetzt werden. Das Verkaufspersonal vertritt die Meinung, dass die Preise schon längst hätten bedeutend herabgesetzt werden müssen.
Die DHZ Textil Berlin teilt mit, dass zzt. ernste Schwierigkeiten in der Versorgung mit Möbelstoffen und guten Einlegestoffen für Maßanfertigung bestehen.
Anlage 2 vom 2. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2304
Auswertung von Hetzschriften zur Volkskammerwahl
KgU34
In Hetzbriefen der »KgU« an die ländliche Bevölkerung und an die Verwaltungsfunktionäre wurde die einheitliche Kandidatenliste als Angstmaßnahme der Regierung vor der Entscheidung der Bevölkerung hingestellt, die »zu 90 Prozent gegen das System ist«.
Die bestehenden Mängel in der Konsum- und Verbrauchsgüterversorgung werden als Katastrophe bezeichnet. Ihre Ursache führt man auf das Bestehen der LPG und auf die Planwirtschaft zurück.
Die Landbevölkerung wird aufgefordert, die zur Vorbereitung der Volkswahl eingesetzten Agitatoren besonders auf diese wirtschaftlichen Mängel hinzuweisen. Zur Wahl selbst rät man der Landbevölkerung, daran teilzunehmen, um kein »Opfer der SSD-Demokratie« zu werden. Jedoch sollen recht viele ungültige Stimmen abgegeben werden. Damit »bejaht ihr nach außen hin das System, aber seid innerlich sein Feind«. Über eine derartige Handlungsweise soll selbst dem engsten Nachbarn gegenüber geschwiegen werden, weil Vorsicht an erster Stelle steht.
SPD-Ostbüro
In einem neuen Flugblatt des SPD-Ostbüros ist eine »Resolution des SPD-Parteitages (Juli 54) an die Bevölkerung der Sowjetzone« abgedruckt.35 Darin wird der Sozialdemokratismus als »geistige Kraft, die den Freiheitswillen und den Widerstand der Sowjetzone gegen das System des politischen und sozialen Unrechts wachhalten« und der 17. Juni 1953 in altbekannter Weise als »Erhebung der Arbeiterschaft der Sowjetzone« verherrlicht.
Bezüglich der Volkskammerwahl wendet man sich gegen die einheitliche Kandidatenliste des demokratischen Blocks und hetzt, dass sie ein »neuer Beweis für die Krise« unserer Regierung sei. Man fordert »Freie Wahlen« nach westlichem Muster.
In einem Hetzbrief an die Christlich-Demokratische Union Berlin-Ost, lediglich mit dem Poststempel »München« versehen, wird in gemeinster Weise die Politik der CDU und LDP in der DDR als verräterisch bezeichnet. Eingehend auf die Oktoberwahlen sagt man, dass das Ergebnis schon jetzt feststände und die Wahlen ein »unverschämter Betrug« seien.
Gefälschtes Schreiben
In einem Schreiben mit dem gedruckten Kopf »Staatssekretariat für Erfassung und Aufkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Der Staatssekretär«36 wird der Rat des Bezirkes Schwerin aufgefordert, »zur Sicherung der Zelluloseproduktion und zur Vermeidung von Importen kurzfristig alle Strohreserven zu erfassen«. Für vorfristige Ablieferungen werden angeblich bis zu bestimmten Terminen Vergünstigungen gewährt, wie z. B.
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bis 1.9.[1954] je 100 kg Stroh = 130 kg Anrechnung,
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bis 30.9.[1954] je 100 kg Stroh = 125 kg Anrechnung usw.
Außerdem soll in diesem Jahr für Getreidestroh auch Rapsstroh angenommen werden, und zwar für je 100 kg Getreidestroh 200 Rapsstroh.
Anlage 3 vom 3. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2304
Äußerungen über die Lebensbedingungen in der DDR
In den positiven Stellungnahmen, meist von Arbeitern und Hausfrauen, wird zum Ausdruck gebracht, dass es eine Tatsache ist, dass sich die Lebenslage ständig gebessert hat. Wenn es auch noch an Verschiedenem fehlt, so muss man doch sehen, was die Regierung alles tut, um das Leben der Werktätigen laufend zu verbessern. So sagte z. B. ein Arbeiter aus Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Dieser Tage habe ich mir ein Motorrad gekauft, nun haben wir fast alles, was wir uns wünschen. Man muss wirklich sagen, dass es bei uns immer besser wird, das ist nur möglich, weil die Kapitalisten nichts mehr zu bestellen haben. Alles was wir schaffen, kommt uns zugute. Wir haben eine schöne Neubauwohnung und bezahlen nur 25,00 DM Miete.«
Ein Arbeiter aus Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg: »Jedenfalls ist es auch etwas wert, mit daran beteiligt zu sein, aus eigener Kraft die Nachwehen des Krieges zu beseitigen. In Westdeutschland gibt es so viele Arbeitslose und bei uns fehlt es an genügend Arbeitskräften. Was könnten wir schaffen und erreichen, wenn diese verfluchten Grenzen nicht wären.«
Eine Hausfrau aus Zwenzow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die sozialen Einrichtungen bei uns in der DDR sind wirklich vorbildlich, besser als im Westen. Eine Bekannte von mir ist in einem Feierabendheim37 schon seit Jahren, sie fühlt sich außerordentlich wohl dort. Es wird für alles gesorgt und sie bekommt noch monatlich 28,00 DM Taschengeld. Es wurde noch nie so viel für soziale Zwecke getan wie durch unsere Regierung.«
Ein Arbeiter aus dem demokratischen Sektor von Berlin: »Was in den letzten Jahren an Fürsorge aller Art geleistet wurde, ist schon ganz ordentlich und doch erst der bescheidene Anfang. In der großen Politik hat sich auch so einiges geändert und es wird den Amerikanern und ihren Anhängern nicht mehr so leicht, die Menschen mit einer schönen Fassade zu blenden.«
In den nachfolgenden Äußerungen, überwiegend von Hausfrauen und Rentnern, drückt sich eine Unzufriedenheit über ihre Lage aus, da sie mit den Lebensmittelkarten nicht im ganzen Monat reichen und sich in der HO nicht viel zusätzlich kaufen können. Eine Hausfrau aus Karl-Marx-Stadt: »Vor kurzem standen wieder einmal Vergleiche in der Zeitung über die Preise bei uns und in Westdeutschland. Es stimmt schon, dass bei uns die Lebensmittel billiger sind, als in Westdeutschland, aber zum anderen ist es so, dass die 300-Gramm-Butter im Monat, die es auf die Marken gibt, nicht reichen, dann muss man HO-Butter kaufen und die ist bedeutend teurer als drüben.«
Ein Rentner aus Stralsund: »Es ist kein Leben, mit der Rente auszukommen, weil alles zu teuer ist, ich bin noch nicht zu alt, um auf alles zu verzichten, denn die Rente reicht nur für die Lebensmittel. Jede Mark, die man außerdem ausgibt, macht einem Kopfzerbrechen. Ich muss mir ein Paar Schuhe anfertigen lassen, da ich keine anderen tragen kann mit meinen verkrüppelten Füßen. Dafür bekomme ich aber als Rentner nichts von der Sozialversicherung.«
Ein Rentner aus Borstendorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich habe mir meinen Lebensabend anders erträumt. Als Rentner leben wir sehr schlecht, weil wir in der HO nichts kaufen können. Aber das Klagen hat auch keinen Zweck, man muss sich eben damit abfinden.«
Ein Rentner aus Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg: »Mir ist das Leben über, denn sie machen es einem ja so schwer. Mir wurde meine Rente gestrichen und ich soll durch leichte Arbeit meinen Lebensunterhalt allein verdienen. Ich wurde 50 Prozent arbeitsfähig geschrieben und da kann ich nichts machen. Die Herren, die das machen, bekommen Tausende, die wissen gar nicht, wie es einem armen Menschen zumute ist.«
In den negativen bzw. feindlichen Äußerungen werden die Verhältnisse bei uns in der DDR als unerträglich hingestellt und »man sehnt sich nach der Freiheit und dem Leben in der Bundesrepublik.« Eine Hausfrau aus Stralsund: »Dieses Leben hier zermürbt und zerdrückt einen. Wir sehnen uns alle nach der Freiheit und dem Frieden, in dem unsere Brüder und Schwestern in Westdeutschland leben. Wann werden wir endlich von dem Russenjoch befreit. Hier ist der ganze Lebensunterhalt ein Kampf. Gewiss, es gibt viele Importwaren, auch Lebensmittel, aber der kleine Arbeiter und wir Rentner können es nicht kaufen. Wir sollen vom Ansehen satt werden. Gewiss, [die] die über 500 und bald 1 000 Mark Gehalt haben, leben herrlich und in Freuden, aber an das arme Volk wird nicht gedacht.«
Eine Hausfrau aus Mittweida, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Hier müssen die Frauen alle mitarbeiten gehen, damit sie leben können, denn es ist alles teurer als früher. Tag und Nacht muss gearbeitet werden, alles für den Russen. Die Kinder müssen in Kinderheime und fast alle Geschäfte sind HO. Dadurch gehen die Geschäftsleute kaputt.«
Ein Arbeiter aus Erfurt: »Es ist doch ein anderes Leben drüben in Westdeutschland. Unsere Verwaltung sagt immer, es gibt nichts. Im HO ist auch ganz wenig Auswahl, da heißt es immer, wir bekommen einen Lebensstandard wie noch nie, aber vielleicht erst in 20 Jahren. Die Leute munkeln von einer Preissenkung vor der Wahl, da soll uns Gott davor bewahren, denn eine Woche später wäre ja alles wieder teurer.«
Eine Bankangestellte aus Planitz, [Bezirk] Dresden: »Die Banken in der Ostzone arbeiten unter ganz anderen Bedingungen als die in der Westzone. Wir werden bis auf das Blut ausgenutzt; um das Pensum überhaupt zu schaffen, sind viele Überstunden täglich erforderlich. Bis in die späten Abendstunden haben wir meistens gearbeitet, nun bin ich auch am Ende meiner Kraft.«
Ein Rentner aus Coswig, [Bezirk] Dresden: »Das ist auch ein Problem, wenn der Mensch als Rentner nicht mehr arbeiten kann, dann ist er abgetan und zählt nichts mehr. Das sind die Lehren des heute herrschenden materialistischen Sozialismus. Die Intelligenz erhält 60 bzw. 80 Prozent ihres früheren Gehaltes. Es fällt mir schwer, das unter Sozialismus einzureihen. Die Kritik, die ich hier übe, ist nicht nur meine eigene Anschauung, sondern die des größten Teils der Arbeiterschaft. Weiß das unsere Regierung nicht?«
Anlage 4 vom 3. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2304
Stimmen zum Übertritt Dr. Johns38 und des CDU-Abgeordneten Schmidt-Wittmack in die DDR
Die Äußerungen zum Fall John und Schmidt-Wittmack sind stark zurückgegangen. Die bekannt gewordenen Stimmen stammen von Personen der verschiedensten Kreise und sind überwiegend positiv. Es wird die Bedeutung des Schrittes Dr. Johns und Schmidt-Wittmacks erkannt und betont, dass es für Bonn eine große Schlappe ist, wenn so führende Persönlichkeiten der Bundesrepublik den Rücken kehren. So sagte zum Beispiel ein Arzt aus Quedlinburg, [Bezirk] Halle: »Der Übertritt Dr. Johns und des Bundestagsabgeordneten Schmidt-Wittmack sind für die Bonner Regierung ein Schlag, der den Zusammenhalt erschüttert. Dazu kommt noch das Scheitern der Brüsseler Konferenz39 und die Ablehnung des EVG-Vertrages durch die französische Nationalversammlung, das hat die Lage in Bonn sehr bedenklich gemacht. Früher oder später wird auch Westdeutschland mit in die Ostblockstaaten einbezogen werden.«
Ein Apotheker aus Ringleben, [Bezirk] Halle: »Ich bin der Ansicht, dass Dr. John und Schmidt-Wittmack aus dem Grunde in die DDR gekommen sind, weil sie es einfach mit ihrem Gewissen nicht länger vereinbaren konnten, dass das deutsche Volk wegen einer Handvoll profitgieriger Menschen in einen neuen Krieg gestürzt werden soll.«
Ein Angestellter aus den Rathenower Optischen Werken: »Die Flucht der beiden Persönlichkeiten zeigt, dass führende Politiker in Bonn erkennen, wohin die verräterische Politik Adenauers führt. Es ist zum anderen ein Zeichen dafür, dass es auch in Westdeutschland ehrliche Politiker gibt, die die Politik der friedliebenden DDR vorziehen.«
Ein Produktionsleiter (parteilos) aus dem VEB Bleierzgruben »Albert Funk« in Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das Gesicht von Adenauer hätte ich sehen mögen, als er die Nachricht vom Übertritt Dr. Johns und Schmidt-Wittmacks erhielt. Es wurde auch langsam Zeit, dass auch höhere Funktionäre der Bundesrepublik einsehen, wo der amerikanische Kurs Adenauers hinführt.«
Innerhalb eines Lehrerkollegiums einer Westberliner Schule wurde in einer Diskussion Folgendes zum Ausdruck gebracht: »Wer wird der Nächste sein?« Oder: »So etwas wagte man uns zur Wahl als Kandidat (Schmidt-Wittmack) vorzustellen. Für mich kommt keine CDU mehr infrage!« Dieser Lehrer brachte weiter zum Ausdruck, dass er jetzt nicht mehr weiß, welche Partei er wählen soll, da sich bis jetzt jede Partei durch Skandalaffären mehr oder weniger diskriminiert hätte.
Verschiedene Stummpolizisten40 drückten in einer Unterhaltung die Meinung aus, dass Schmidt-Wittmack nicht der Letzte ist, der abgehauen ist. »Es bröckelt immer mehr, wer wird wohl der Nächste sein?«
Vereinzelt wurden Äußerungen bekannt, die sich abfällig über den Fall John und Schmidt-Wittmack aussprechen. So sagte zum Beispiel ein Angestellter der Reichsbahn Berlin: »Was ist schon dabei, wenn die beiden abgehauen sind, da sind wieder Stellen frei geworden. Von uns sind schon genug nach drüben gegangen.«
Ein Angestellter vom Rat des Kreises Angermünde, [Bezirk] Frankfurt: »Ich bin der Meinung, dass Schmidt-Wittmack schon längere Zeit mit der DDR in Verbindung gestanden hat und sich den Zeitpunkt ausgesucht hat, rüberzukommen, als diesen Schritt schon Dr. John getan hat. Er will hier nur groß auf die Pauke hauen.«
Anlage 5 vom 3. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2304
Auswertung der westlichen Rundfunksendungen
Der Sender RIAS und der Sender Freies Berlin beabsichtigen durch ihre Propaganda gegen die Volkskammerwahl, die Bevölkerung abzuhalten von der Beteiligung an den Vorbereitungen zur Wahl und wollen die Bevölkerung selbst an der Durchführung der Wahl desinteressieren. Dabei argumentieren sie, dass die Wahl »nicht demokratisch« sei, dass den Wählern durch die gemeinsame Liste »keine Wahl« bliebe, dass eine »einheitliche Zwangsstimmenabgabe« wie bei den Nazis stattfinden würde. Gegen die Volkskammer wird argumentiert, sie sei »kein Parlament«, sie habe »keinen Einfluss« auf die Politik der Regierung und sei »nicht das höchste Organ im Staate«. Auch die Wähler hätten »keinen Einfluss auf die Ernennung und Abberufung der Abgeordneten«. Dazu sagte Arno Scholz41 im SFB, er lehne die Beteiligung der SPD an der Wahl im demokratischen Sektor Berlins ab,42 »dieser Art Wahl kann er keine Legitimation geben«. Die Beteiligung der SPD »kann sich das System gar nicht gestatten … der Versuch würde irgendwo zum Scheitern gebracht«.
RIAS bezeichnet die gemeinsame Liste als »Wahlbetrug« und fordert sogenannte Freie Wahlen, wobei er sich auf die Forderungen der Putschisten vom 17. Juni [1953] beruft.
Besonders interessiert zeigen sich die Westsender an den Rechenschaftslegungen, sie wollen verhindern, dass sich die Bevölkerung daran stärker beteiligt. RIAS spricht von »Enttäuschung« der Bevölkerung, denn die Volksvertreter »drehen den Spieß um und fordern von den Arbeitern Rechenschaft über die Erfüllung der Betriebspläne … Zwingen Verpflichtungen auf … Planrückstände aufzuholen«. In diesem Zusammenhang hetzt RIAS gegen Wettbewerbe und Produktionssteigerung zu Ehren der Volkswahl und kündigt generelle Normenerhöhungen nach der Wahl an.
Durch lügnerische Darstellung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten versucht der RIAS die Hörer zu überzeugen, dass die »Wirtschaft krankt in der DDR«. Dabei wird argumentiert mit Planschulden in der Schwerindustrie, nicht erfüllten Plänen in der Energieerzeugung, Braunkohle und Leichtindustrie sowie Materialmangel. Man versucht der Bevölkerung einzureden, dass die notwendige Produktionssteigerung in der DDR nur durch »mehr arbeiten« erzielt werden könnte, denn dies sei die »einzige Reserve«. Daraus konstruiert der Gegner den »Widerspruch« zu der Aufforderung, Industriearbeiter auf das Land zu schicken.
Weiterhin unternehmen RIAS und SFB den Versuch, die Landbevölkerung gegen den Ministerratsbeschluss zur schnellen Einbringung der Ernte aufzubringen.43 Diese Hilfe wird als »neue schwere Belastung« hingestellt. Man argumentiert mit »rigoroser« Erfassung, Sonntagsarbeit und dem »berüchtigten« Anforderungsgesetz.44 Der vom Gegner gewünschte Widerstand soll sich besonders gegen die beauftragten Funktionäre richten, deshalb spricht RIAS: »Wissen die Bauern, was im Dorf los ist, wenn ortsfremde Funktionäre, die von Landwirtschaft nichts verstehen, das Kommando übernehmen.« »Landbevölkerung benötigt Hilfe, sieht diejenigen der Regierung, die sie jetzt schickt, lieber gehen als kommen.«
In weiteren Sendungen wird versucht, die Landbevölkerung gegen die fortschrittliche Entwicklung auf dem Lande zu beeinflussen. Zum Beispiel gegen Neuerermethoden, die »keine praktische Bedeutung« hätten, gegen Bevorzugung der Genossenschaftsbauern bei der »Entschuldung«, gegen die Landjugendkonferenz,45 wobei »1,2 Millionen verwirtschaftet« würden. Außerdem wird die Verschiebung der Ablieferungstermine wegen der »verspäteten Getreideernte« gefordert und die Patenschaftsverträge als »Selbstzweck und Propaganda« verleumdet.46