Zur Beurteilung der Situation
4. September 1954
Informationsdienst Nr. 2305 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Tagesfragen wird im Allgemeinen wenig gesprochen. Bei diesen wenigen Diskussionen steht die Ablehnung des EVG-Vertrages durch die Nationalversammlung in Frankreich im Mittelpunkt der politischen Gespräche.1 Die meisten Diskussionen sind positiv. Darin bringt man die Freude über das Scheitern der Pläne der Kriegstreiber zum Ausdruck und zeigt weiter auf, dass der Adenauer-Regierung2 dadurch ein schwerer Schlag versetzt wurde. Häufig wird auch die Kampfbereitschaft des französischen Volkes hervorgehoben und als Beispiel für unseren Kampf hingestellt.
Eine Kindergärtnerin aus dem VEB Volltuchwerk Pößneck, [Bezirk] Gera: »Wir haben erkannt, dass mit dem Zusammenbruch der EVG den Kriegstreibern ein gewaltiger Schlag versetzt wurde. Als Mütter wissen wir, was die Ablehnung des EVG-Vertrages für unsere Kinder und für unsere Jugend bedeutet. Das französische Volk zeigt uns deutlich, wie diesen Kriegstreibern zu begegnen ist und sind uns mit ihrer Handlungsweise ein Vorbild geworden. Die Ablehnung in Frankreich soll für uns ein Ansporn sein zur noch aktiveren Teilnahme im Kampf um den Frieden.«
Ein parteiloser Meister aus dem VEB Schott in Jena, [Bezirk] Gera: »Die Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung ist ein großer Schlag gegen die Kriegstreiber und zeigt uns den Kampf des französischen Volkes auf.«
Ein Arbeiter aus dem Zentrallager der Wismut,3 [Kreis] Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wenn die Arbeiterklasse in Westdeutschland einig wäre, dann könnte Adenauer seine Militarisierungspläne nicht durchsetzen. Die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich ist ein Zeugnis, dass die Arbeiterklasse in Frankreich einig ist.«
Mehrere Kumpels des VEB Hüttenwerk Muldenhütten Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Ablehnung des EVG-Vertrages haben wir von ganzem Herzen begrüßt. Wir sind der Meinung, dass nicht das französische Parlament von sich heraus den EVG abgelehnt hat, sondern erst vom französischen Volk dazu gezwungen wurde.«
Ganz vereinzelt treten auch Diskussionen auf, dass Frankreich durch die Ablehnung der EVG in Schwierigkeiten mit den USA geraten könnte. Ein Elektriker des VEB Königsee,4 [Bezirk] Gera: »Der EVG-Vertrag bedeutet nichts Gutes für uns, und die Ablehnung durch Frankreich ist ein Schlag für den Ami. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Franzose wirtschaftlich gezwungen ist, sich an Amerika anzulehnen, sonst geht er ein. Seine Kolonien wird er bald loswerden und sich allein ernähren müssen, aber dazu ist er zu faul.«
Unter einigen Arbeitern des Kreises Meiningen, [Bezirk] Suhl, wird in der Form diskutiert, dass vonseiten der Amerikaner jetzt mit neuen Provokationen gerechnet werden müsste, da er seine Felle wegschwimmen sieht.
Zur Volkskammerwahl5 wird wenig diskutiert. Teilweise übernimmt man in den volkseigenen Betrieben Verpflichtungen. In Diskussionen bringt man verschiedentlich zum Ausdruck, dass die Wahlen doch zwecklos seien, da »die da oben doch machen, was sie wollen«.
Im VEB Landmaschinenbau Torgau, [Bezirk] Leipzig, gingen eine größere Anzahl Arbeiter die Verpflichtung ein, am Tage der Volkswahl ihre Stimme für die Kandidaten der Nationalen Front6 abzugeben. Im VEB TEWA Döbeln,7 [Bezirk] Leipzig, verpflichteten sich zwölf Kollegen, die Ausschussquote zu senken.
Ein Arbeiter aus dem VEB Deutzen,8 [Bezirk] Leipzig: »Was soll denn schon wieder gewählt werden. Das hat ja doch keinen Zweck. Die da oben machen doch sowieso was sie wollen.«
Aus den Betrieben des Kreises Zittau, [Bezirk] Dresden, wurden negative Diskussionen über die vorgesehene Ansprache des ehemaligen Generalfeldmarschalls Paulus9 bei dem Friedenstreffen am 5.9.1954 bekannt.10 Eine Arbeiterin aus dem VEB Kosa, Niederoderwitz, [Kreis] Zittau, [Bezirk] Dresden: »Wenn man so einen Lumpen und Kriegsverbrecher wie Paulus am Sonntag in Zittau sprechen lässt, dann sollte überhaupt kein Mensch zum Friedenstreffen gehen.«
Ein Arbeiter (parteilos) aus dem VEB IFA Phänomenwerk Zittau: »So ein Kriegsverbrecher wie Paulus gehört an den Galgen und hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.« Die gleiche Ansicht vertrat auch ein Arbeiter aus dem Braunkohlenwerk Hirschfelde.
Über den Schritt des CDU-Bundestagsabgeordneten Schmidt-Wittmack11 wird nur noch ganz vereinzelt diskutiert, meist positiv.
Ein Justiz-Inspektor aus Schönberg, [Kreis] Grevesmühlen, erzählte, dass unter den Arbeitern der Leuna-Werke die Parole im Umlauf sei, dass der 17. Juni 1953 »Polterabend« gewesen sei und der »Hochzeitstag am 17. Oktober 195412 nachfolgen würde«.13
Im Vordergrund der Diskussionen der Werktätigen stehen wirtschaftliche und betriebliche Fragen. Ein Schießmeister von einem [Wismut-]Schacht in Oberschlema ist nicht damit einverstanden, dass man allen Rückkehrern oder Zugereisten aus dem Westen unserer Heimat sofort Wohnungen verschafft, während er und auch andere Kollegen, die die DDR nicht verlassen hätten, heute noch auf eine vernünftige Wohnung warten. Er kann es auch nicht verstehen, »dass solche Leute mit Pauken und Trompeten« wieder aufgenommen werden.
In einer Betriebsversammlung des VEB Schamotte Colditz, [Bezirk] Leipzig, wurde von einigen Arbeitern geäußert, dass die Preise in der HO zu hoch sind und in keinem Verhältnis zu ihrem Verdienst stehen.
Ein Geräteverwalter vom Bahnhof Weißenfels: »Es ist nichts da. Die armen Hunde haben nichts. Mit ihrer Planwirtschaft sollen sie sich einpacken lassen. Die Hauptsache, die Bonzen bekommen ihr Geld.«
Ein Fahrdienstleiter vom Werkbahnhof Weißenfels: »Es ist eine Schande, wie man uns als Fahrdienstleiter entlohnt. In Westdeutschland ist es bedeutend besser.«
Ein Arbeiter aus dem Zementwerk Göschwitz, [Bezirk] Gera, berichtet, dass die Arbeiter in diesem Werk Forderungen stellen. Zum Beispiel ein Arbeiter fordert die Normengruppe V für die Schmierer und die Klinkerkranfahrer fordern Staubzulage sowie Gefahrenzulage.
Von 33 Belegschaftsmitgliedern der Bahnmeisterei, [Kreis] Greiz, [Bezirk] Gera, bezahlen nur drei Kollegen die Gewerkschaftsbeiträge, die anderen 30 lehnen die Bezahlung mit der Begründung ab, weil sie bei der Hochwasserkatastrophe Überstunden geleistet hätten und diese nicht vergütet worden sind.14
Im Kraftwerk des VEB Kombinates Espenhein, [Bezirk] Leipzig, herrschen unter den Arbeitern nur Diskussionen über Lohnzahlungen vor. Der Grund besteht darin, dass die Arbeiter des Kombinates einen höheren Verdienst haben als die Arbeiter im Kraftwerk. Einige Arbeiter haben bereits gekündigt und dadurch sind einige Abteilungen unterbesetzt.
Produktionsschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben wegen Materialmangel.
Im RAW Schlauroth, [Stadt] Görlitz, [Bezirk] Dresden, fehlt es an Elektroden. TI 13–3–4 mm, dadurch wird beim Arbeitsgang die 5-fache Zeit benötigt.
In den Privatbetrieben Frenzel Groß Saubernitz,15 [Bezirk] Dresden, welche Export-Aufträge zu erfüllen haben, ist ein Kohlenmangel zu verzeichnen.
Im VEB Nagelwerk Arenshausen, [Bezirk] Erfurt, muss die Nagelproduktion Ende dieser Woche eingestellt werden, da das Ziehwerk Brotterode und die DHZ keinen Draht liefern können.
In dem VEB Schiffselektrik auf der Schiffbau- und Reparatur-Werft Stralsund fehlen Schrauben der Größe 6 bis 10, 6 × 15, und 6 × 20 zum Verlegen der Kabel, je Schiff werden 15 000 Stück Schrauben benötigt.
Produktionsstörungen
Durch Blitzschlag fiel das Kraftwerk »Cäsar« Westeregeln, [Kreis] Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg, aus. Dadurch sind die Gruben »Irmgard« und »Cäsar« durch Wassereinbruch gefährdet, da die Pumpen ausgefallen sind.
In der Brikettfabrik »Jonny Schehr«16 ereignete sich am 1.9.1954 eine Kohlstaub-Verpuffung im neuen Kesselhaus der Anlage 2. Dabei wurden ca. 1½ qm Mauerwerk herausgedrückt. Dauer der Reparatur: ca. 200 Stunden.
Handel und Versorgung
Im VEG Diepensee, Kreis Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, lagern 500 Ztr. Kartoffeln. Der Lagerraum wird dringend für die Lagerung von 1 000 Ztr. Spätkartoffeln benötigt und der kommunale Großhandel weigert sich, die 500 Ztr. Frühkartoffeln abzunehmen, da ihm angeblich Lagermöglichkeiten fehlen. Des Weiteren ist der kommunale Großhandel vom Kreisrat angewiesen, 320 Ztr. Frühkartoffeln vom VEG Dentock,17 [Kreis Königs] Wusterhausen, abzuholen und an die Handelsgeschäfte auszuliefern. Es wird behauptet, dass es für die Kartoffeln keine Absatzmöglichkeiten gibt, obwohl die Hausfrauen in langen Schlangen nach Kartoffeln anstehen und in Potsdam Kartoffeln zurzeit nur auf Marken abgegeben werden.
Mängel in der Kartoffel-Versorgung haben außerdem die Bezirke Halle, Gera und Karl-Marx-Stadt. Im Bezirk Halle hauptsächlich dadurch verursacht, dass ein Teil die Kartoffeln zentnerweise einkauft. Deshalb ist man jetzt dazu übergegangen, die Kartoffeln nur 5-kg-weise auf Lebensmittelabschnitte abzugeben. In der Kreisstadt Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, reicht der Kartoffelvorrat nur noch für einen Tag. Im Kreis Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlen Kartoffeln in vielen Betriebsküchen.
Die Schwierigkeiten in der Fleischversorgung sind in den Bezirken Frankfurt, Halle, Dresden und Erfurt, in der Zigarettenversorgung in Halle noch nicht behoben. Eine Verkäuferin des HO-Kiosks in Halle brachte zum Ausdruck, dass die Arbeiter von Leuna und Buna bei der Zufahrt zur Arbeitsstelle frühmorgens immer mächtig Krach schlagen, weil keine 8- und 10-Pfennig-Zigaretten da sind. Heute Morgen wollten einige bereits den HO-Kiosk umwerfen.
Außerdem mangelt es im Bezirk Frankfurt an Margarine, in Halle an Butter, Mehl, Gemüse, Fischkonserven, in Suhl an Nährmitteln, Waschmittel. Im Bezirk Cottbus ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Textilien besonders in den Landgemeinden sehr schlecht. Alle diese Mängel lösen immer wieder negative Diskussionen in Bezug auf den neuen Kurs und die Verbesserung des Lebensstandards aus.18
Landwirtschaft
Über die Volkskammerwahlen und die EVG wurde nur vereinzelt gesprochen. Die Stellungnahmen sind meist positiv und bringen teilweise auch durch Selbstverpflichtungen, anlässlich der Volkskammerwahl, die Verbundenheit mit unserer Regierung zum Ausdruck. Bei den Rechenschaftslegungen19 im Bezirk Potsdam kommt es oft zu negativen Äußerungen. In der Gemeinde Segeletz, Kreis Kyritz, störte ein Bauer durch prov[okative] Zwischenrufe die Versammlung und sagte u. a.: »Wir lassen uns nicht beschwindeln, wir wissen sehr gut, wie die Bauern in Westdeutschland leben.« »In der DDR dagegen gibt es keine Freiheit.« Der Bürgermeister dieser Gemeinde vertrat in der Versammlung den Standpunkt, dass es trotz Absetzung von Flächen nicht möglich sei, das Soll zu erfüllen.20 Unter anderem sagte er: »Herr Vorsitzender, wir wissen nicht mehr, wie wir die Bauern beschwindeln sollen. Die Papierflut lässt keine Zeit zur Arbeit. Die Bauern haben kaum das Letzte rein, schon soll das Nächste da sein.« Der Vorsitzende des Bezirkes erwiderte dem Bürgermeister, dass er nicht würdig sei, als Bürgermeister zu fungieren, wenn er die Bauern belügt. Darauf antwortete der Bürgermeister, dass ihm ein Instrukteur des Bezirkes gesagt hätte, er wisse auch nicht, was er schwindeln soll. Für diesen Ausspruch erntete der Bürgermeister einen starken Beifall von den Anwesenden.
Bei der Rechenschaftslegung in der Gemeinde Häsen, Kreis Gransee, sagte ein werktätiger Bauer, dass unsere Bauern täglich Angst ausstehen müssten, ihr gesamtes Eigentum zu verlieren und in die Kolchosen zu gehen.21 Deshalb wollen sie auch nicht weiter aufbauen, da sie den Druck nicht loswerden.
Der Einsatz der Ernte-Helfer wird allgemein begrüßt und besonders die VP und KVP22 hervorgehoben. So kamen zum Beispiel zum Abschnittsbevollmächtigten in Blankenburg, [Bezirk] Erfurt,23 laufend Klein-, Mittel- und Großbauern und baten um Erntehelfer aus der KVP.
Im Kreis Parchim, [Bezirk] Schwerin, wurde besonders der Einsatz der Angehörigen der Sowjetarmee gelobt, die dreimal so viel schafften als die LPG. Diese Tatsache wurde als ein weiterer Ausdruck der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft begrüßt.
Schwierigkeiten beim [Ernte-]Einsatz24 gab es nur vereinzelt; durch schlechte Organisation, wie z. B. im Kreis Hildburghausen, wo es außerdem an Transportmitteln fehlte, konnte ein Teil der 712 Helfer aus dem VEB nicht eingesetzt werden. Im Bezirk Rostock wurden die Arbeiter von der Peene-Werft Wolgast wieder zurückgeschickt, da dort bereits genügend Kräfte der See-Polizei25 eingesetzt waren.
Unzufriedenheit über den Mangel an Lkw für den Abtransport der Getreide bei Mähdreschern herrscht im Kreisgebiet Halle und im Kreis Hettstedt über die Nichtbeschickung der Waggons durch die Reichsbahn zum Abtransport des Getreides.
Beschwerden werden über die MTS-Spezialwerkstätten des Bezirkes Halle über die schlechte Ausführung der Reparaturen geführt. Die Maschinen gehen nach kurzer Zeit der Wiederinbetriebnahme zu Bruch. Es handelt sich hier um die MTS-Spezialwerkstatt in Aschersleben und die Spezial-Austausch-Werkstatt in Halle.
In den einzelnen MTS des Bezirkes Leipzig treten bei den Erntearbeiten immer wieder Schwierigkeiten wegen Mangel an Arbeitskräften auf. Es fehlen Schichtfahrer. In der MTS Frohburg z. B. fehlen ca. 30 Schicht-Traktoristen.
Schweinepest. In zehn Gemeinden des Kreises Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, in der LPG »Einheit Deutschland« Rositz, Kreis Altenburg, bei drei Großbauern im Kreis Görlitz, bei der LPG »Neue Zeit« Kollm, Kreis Bautzen,26 wurde die Schweinepest festgestellt. Insgesamt mussten 564 Schweine notgeschlachtet werden. Außerdem brach in dem VEG Großschweidnitz, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden, die Schweinepest aus, an der 30 Zucht-Sauen erkrankten.
Übrige Bevölkerung
Nach wie vor wird im geringen Maße zu politischen aktuellen Tagesfragen Stellung genommen, jedoch sind die Diskussionen überwiegend positiv. Die Ablehnung des EVG-Vertrages durch das französische Parlament ist in den verschiedensten Bevölkerungskreisen überwiegend positiv aufgenommen worden. Übereinstimmend wird in den positiven Stellungnahmen erklärt, dass durch diese entscheidende Ablehnung den amerikanischen Imperialisten ein schwerer Schlag versetzt werde, was nur zu begrüßen ist. So sagte zum Beispiel ein Intelligenzler (parteilos) aus Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mit der Ablehnung der EVG haben die USA-Imperialisten wieder eine anständige Schlappe erlitten.«
Ein VP-Angehöriger aus Karl-Marx-Stadt: »Mit großer Freude habe ich vernommen, dass der EVG-Vertrag in Frankreich abgelehnt wurde. Dadurch haben die Kriegsbrandstifter wieder eine gewaltige Schlappe erlitten.«
Negativ dazu äußerte sich ein Mitglied der NDPD aus dem Kreis Bernau, [Bezirk] Frankfurt: »Jetzt triumphieren unsere aber, dass der EVG-Vertrag in Frankreich abgelehnt wurde. Ich kann nicht verstehen, was das uns groß angeht, mein Sohn ist doch hier im Osten.«
Die Stellungnahmen zur Volkswahl sind in der Mehrzahl positiv. Größtenteils wird die Aufstellung gemeinsamer Kandidatenlisten begrüßt mit der Begründung, dass die vor uns stehenden Aufgaben nur durch vereinte Kraft lösbar sind.
Negative Äußerungen und die Forderungen nach Parteiwahlen kommen immer wieder aus den Kreisen der bürgerlichen Parteien sowie von kleinbürgerlichen Elementen. Zum Beispiel wurde in Eisfeld, [Kreis] Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, in einer Versammlung der LDP die Forderung nach getrennten Listen erhoben. (Referent der Kreissekretär der LDP)
Der Chefarzt des Kreiskrankenhauses in Meiningen, [Bezirk] Suhl: »In der DDR herrscht keine Demokratie, sondern nur in Westdeutschland. Das sieht man am deutlichsten an den Wahlen, das ist doch nur eine Abstimmung.«
In einem größeren Maße wird über wirtschaftliche Probleme gesprochen. Aufgrund verschiedener Mängel in der Versorgung treten in letzter Zeit unzufriedene Stimmen sowie negative Äußerungen mehr in Erscheinung. Zum Beispiel wird im Bezirk Erfurt immer wieder über die HO-Fleischversorgung geklagt. Besonders spürbar ist dieser Mangel an HO-Fleisch, wenn am Monatsende die Lebensmittelkarten verbraucht sind. Dazu äußerte eine Hausfrau aus Eisenach: »Es ist eine Schande, wenn man immer anstehen muss, das ist doch kein steigender Wohlstand. Es zeigt sich eben, dass nichts da ist. Die Herren da oben müssten einmal in der HO anstehen, dann würde es wahrscheinlich anders aussehen.«
Zu den Mängeln in der Versorgung äußerte eine Hausfrau aus Frankfurt: »Ja, wenn man die Arbeiter braucht, damit sie ihre Stimmen abgeben für die Kandidaten der Einheitsfront, dann sind Lebensmittel da. Da gibt es höchstens noch eine Sonderzuteilung.«
In einem Gespräch zwischen SPD-Genossen aus dem demokratischen Sektor von Berlin27 kam es zu folgenden Äußerungen: »Die diesjährige Ernte ist eine große Pleite, was wir erst im nächsten Jahr spüren werden, vorausgesetzt, dass sich der ganze Schwindel noch so lange hält.« Ein anderer: »Ich kann mich über die Dummheit verschiedener Genossen nur wundern, die von einer Beteiligung an den Volkskammerwahlen mit einer eigenen Liste sprechen, denn das werden die Sowjets niemals zulassen, weil sie genau wissen, dass dann ihre letzte Stunde geschlagen hat.«
Auf der Insel Usedom, [Bezirk] Rostock, ist die Wasserversorgung sehr mangelhaft. Dazu äußerte ein Friseur-Meister: »Es sind nun schon neun Jahre seit Kriegsende vergangen, und noch immer haben wir nicht genügend Gas und Wasser. Es dauert nicht mehr lange, dann drehen sie uns den Lufthahn auch noch ab und dann haben sie es geschafft.«
Bei einer Betriebsfeier der Ärzte und Angestellten des Krankenhauses Sachsenberg Schwerin in einer HO-Gaststätte waren einige Angehörige der Sowjetarmee anwesend. Provokatorisch wurde eine Abstimmung durchgeführt, mit dem Ziel, den Sowjetbürgern das Lokal zu verbieten.
Besondere Vorkommnisse
Am 3.9.1954 ging in verschiedenen Gemeinden des Kreises Halberstadt ein wolkenbruchartiger Regen nieder. In der Gemeinde Bühne, ca. 1 000 Einwohner und eine LPG, erreichten die Wassermassen einen Höchststand von 60 cm. Das Wasser wurde aus den Straßen und aus den Kellerräumen gepumpt, jedoch befindet sich in den Straßen eine Schlammschicht von ca. 30 cm Höhe. Ähnlich ist es in der Gemeinde Deersheim. Das Getreide, was sich noch in Hocken auf den Feldern befand, wurde durch die Regenmassen weggespült. Lagerndes Getreide in den Scheunen wurde ebenfalls durch hereinströmendes Wasser vernichtet. Im Kreis Meiningen und Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, ereigneten sich die gleichen Vorfälle.28
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:29 Potsdam 800, Suhl 500, Karl-Marx-Stadt 6, Dresden und Halle einzelne.
CDU-Ostbüro: Suhl 9.
NTS:30 Dresden 17, Potsdam und Halle einige.
[In] tschechischer Sprache: Dresden 19.
»Freie Junge Welt«:31 Potsdam 25.
Antidemokratische Tätigkeit: Im Betriebsgelände des VEB Webstuhlbaus Neugersdorf, Kreis Löbau, wurde eine Hetz-Parole mit dem Inhalt: »EVG – Ja« angeschmiert. In der Toilette des VEB Tuch-Werkes Großenhain wurde folgende Hetz-Parole angeschmiert: »Es lebe die EVG – Mut für die Europa-Armee, VP ohne uns.«
Am 1.9.1954 wurde in der Tischlerei des Kunstseidenwerkes Premnitz, [Bezirk] Potsdam, ein Bild aus einer Westzeitung angebracht, auf dem zwei Personen am Galgen und im Hintergrund zwei Volkspolizisten dargestellt waren.
Im Laufe des 2.9.1954 erhielt die BGL des VEB Zeiss Jena sowie das Sportbüro mehrmals anonyme Telefon-Anrufe. Darin brachte man Empörung zum Ausdruck, dass drei Fußballspieler der BSG Motor Zeiss Jena32 an den Meisterschaftsspielen der BSG Motor Zwickau teilnehmen sollen. Es wurde gedroht, auf dem Marktplatz in Jena dagegen zu demonstrieren. Außerdem wolle man am Sonntag das Stadion stürmen.
Diversion: Im Wismut-Schacht 21, Werk 61633 in Annaberg wurde am 1.9.1954 ein Wasserschlauch durchschnitten und an zwei weiteren Schläuchen die Nippel abgeschnitten.
In der Gemeinde Progress,34 [Kreis] Hagenow, [Bezirk] Schwerin, wurde in einem zum Drusch eingesetzten Traktor der MTS in den Tank Wasser geschüttet.
Anlage 1 vom 3. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2305
Verzögerung der Ablieferung des Getreides
Teilweise wollen, vorwiegend Groß- und Mittelbauern, ihr Getreide erst im Winter dreschen und abliefern, da sie jetzt keine Zeit hätten. Zum Teil lehnen sie den Nachtdrusch ab,35 da sie nicht Tag und Nacht arbeiten wollten. Diese ablehnende Haltung zeigt sich häufiger im Bezirk Potsdam.
Ein Bauer aus Zehdenick, [Kreis] Gransee: »Ich liefere mein Getreidesoll erst Weihnachten ab, denn ich habe jetzt keine Zeit zum Dreschen. Ich muss erst schälen, drillen und zuletzt muss ich ja schließlich Kartoffeln buddeln. Freiwillige Helfer brauche ich nicht, denn die verstehen ja keine Landarbeit und wenn ich diese noch bezahlen muss, so habe ich doch keinen Nutzen. Wenn der Staat mein Getreide erst Weihnachten bekommt, so genügt das. Die Hauptsache ist, ich mache meine Arbeit.«
In der Gemeinde Bresch, [Bezirk] Schwerin, wurden aufgrund des niedrigen Ablieferungsstandes (50 Prozent des Solls) 27 Dreschsätze eingesetzt und sollten in Tag- und Nachteinsätzen den Rückstand einholen. Der Bürgermeister erklärte, die Bauern haben ihm gesagt, es solle sich keiner wagen, ihre Höfe zu betreten, sie würden alle von ihren Grundstücken runterjagen. In dieser Gemeinde sind die großbäuerlichen Elemente vorherrschend.
In der Gemeinde Löwenberg, Kreis Gransee, unterstützt sogar der Bürgermeister die negative Einstellung zum Nachtdrusch und lehnt ihn mit folgender Begründung ab: »Man kann nicht verlangen, dass die Bauern Tag und Nacht arbeiten.« Zu einem Brigadier der MTS sagte er: »Machen Sie bitte meine Bauern mit dem Nachtdrusch nicht verrückt, denn wir liefern sowieso bis zum 15.9.1954 alles ab.«
Anlage 2 vom 3. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2305
Auswertung der westlichen Rundfunksendungen
Die westlichen Sender versuchen der Bevölkerung in der DDR zu »beweisen«, dass der Lebensstandard in Westdeutschland höher sei wie in der DDR. So argumentiert der RIAS, dass in Westdeutschland 2 Millionen Motorräder und Motorroller in Gebrauch seien, davon gehörten angeblich 52 Prozent den Arbeitern und 11,4 Prozent den Angestellten. Demgegenüber hätten in der DDR nur sehr wenig Arbeiter ein Motorrad. Der Londoner Rundfunk36 sagt dazu: »Den verbilligten Karten-Nahrungsmitteln (in der DDR) stehen Wucherpreise für notwendige Güter gegenüber, aus denen Staatszuschüsse für die billigen Waren bestritten werden.« In diesem Zusammenhang wird auch laufend mit den Mängeln in Handel und Versorgung operiert.
Eine Sendung über die Streiks in Westdeutschland37 benutzte der RIAS, um die »Wiederherstellung des Streikrechts« in der DDR zu fordern.38
Im Londoner Rundfunk versuchte Bialek39 gegen die KVP Stimmung zu machen und behauptete, die »breiten Massen lehnen die KVP ab«, aus folgenden »Gründen«: Sie »drücke den Lebensstandard«, diene der »direkten Kriegsvorbereitung in der DDR« und würde als »Teil der Sowjetarmee« betrachtet.
Mit seinen Sendungen über führende Genossen in Partei und Regierung versucht der Londoner Rundfunk die Partei zu zersetzen. So verleumdete er den Genossen Heinrich Rau40 »als Gegner Walter Ulbrichts41 im Führungsgremium« der Partei und erklärte: Es ist »erstaunlich, wie lange Rau der Liquidation entgehen konnte«.
Gleichen Zielen diente auch eine Sendung über den Nichtangriffspakt von 193942 sowie die verschiedenen Sendungen über den Parteifeind Prinz,43 Hamburg.44
Weitere verschiedene Sendungen richten sich gegen die Politik der SU, gegen Sportdelegationen und Kulturgruppen, die Westdeutschland besuchen, gegen das Familiengesetz45 und gegen die Paketkontrolle in der DDR.
Der SFB behauptet, durch den Staat (die DDR) würde die »Religion bekämpft«. Dazu zitiert RIAS den Bischof Dibelius.46 »Die größte Not«, so sagte der Bischof, »herrscht in Ostberlin und in Ostdeutschland, wo 15 Millionen Protestanten leben. Sie stehen in einem bestimmten Existenzkampf.«
Der RIAS versteht auch sehr gut, die bei uns bestehenden Mängel für seine Hetze auszunutzen, um die Unzufriedenheit zu vergrößern und gegen die Partei und Regierung zu lenken. Dazu benutzt er mit Vorliebe solche Tatsachen, wie z. B. die verantwortungslose Tätigkeit der Berliner volkseigenen Wohnungsverwaltung.
Der Londoner Sender bemüht sich, »Gegner der SED« zum Besuch eines Westberliner Büros zu bewegen. Dabei behauptet er, dass ein großer Teil seiner »Besucher« SED-Mitglieder wären.
Im RIAS empfiehlt ebenfalls der Jugendsekretär der DAG sein Büro in Westberlin, Bernburger Straße Nr. 24, Nähe Potsdamer Platz, den FDJlern zum »Besuch«. Dabei lockt man mit Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen.
Den bevorstehenden Parteitag der CDU47 nimmt der SFB zum Anlass, um die Parteiführung bei den CDU-Mitgliedern durch verleumderische Behauptungen in Misskredit zu bringen. Dabei wird das Ziel verfolgt, die CDU-Mitglieder dem Einfluss ihrer Parteiführung zu entziehen und unter den Einfluss der christlichen Kirchen zu bringen und sie damit den Zielen unserer Gegner nutzbar zu machen. SFB argumentiert: »Die Partei Nuschkes48 steht im Schatten der SED … die Christen haben längst erkannt, dass sie durch ihre Parteiführung an die SED verkauft wurden. Sie suchen ihren Halt dort, wo sich stets Christen zusammengefunden haben, bei den christlichen Kirchen.«
Gegen die Volkskammerwahlen versucht der RIAS jetzt täglich Stimmung zu machen mit dem Argument, dass »eine Auszählung der Stimmen gegen die Einheitsliste nicht vorgesehen« sei.
Anlage 3 vom 4. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2305
Äußerungen von westdeutschen Besuchern über ihre Eindrücke, die sie in der DDR gesammelt haben
Von westdeutschen Besuchern aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen wird immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass sie von den Verhältnissen in der DDR überrascht sind. Drüben wird alles ganz anders dargestellt, viele wurden vor einer Fahrt in die DDR gewarnt. Sie stellen Vergleiche an mit dem Preisgefüge bei uns und mit dem der Bundesrepublik und bringen zum Ausdruck, dass es zwar bei uns Waren gibt, die teurer sind, aber allgemein ist die Lebensweise bei uns billiger. So sagte zum Beispiel ein Arbeiter aus München: »Die Preise für Lederschuhe z. B. sind hier höher als bei uns, aber die Preise für Lebensmittel sind niedriger. Mir wurde immer gesagt, ich solle nicht in die DDR fahren, weil ich da als Spezialist nach Sibirien verschleppt würde.«
Ein Arbeiter aus Hannover: »Vor meiner Abreise wurde mir gesagt, ich solle mich ja nicht in eine Diskussion einlassen, denn jeder, der seine Meinung sagt, wird eingesperrt oder nach Sibirien verbannt. Ich bin erstaunt, dass man hier so wenig Besatzungsangehörige sieht. Bei uns beherrschen diese das Straßenbild.«
Ein Angestellter aus Bayern: »Ich bin seit 15 Jahren das erste Mal wieder in der Gegend gewesen und mit sehr gemischten Gefühlen in die Ostzone gefahren, aber ich bin sehr erstaunt, wie sich alles verändert hat. Ich habe mir vorgenommen, aller Hetze gegen den Osten entgegenzutreten, wenn ich wieder zu Hause bin. Wenn auch hier noch nicht alles so ist, wie es sein müsste, aber eins steht für mich fest, dass der Arbeiter und der Geschäftsmann hier freier und ohne Sorgen lebt, als bei uns in der Bundesrepublik.«
Eine Hausfrau aus Westfalen: »Ich würde sofort für immer hierherkommen in die Zone, wenn ich könnte, denn es ist hier vieles besser als bei uns und vor allem billiger. Sehr gefreut habe ich mich über die Stellung der Frau. Zum Beispiel gibt es bei uns bei Weitem nicht so viele Frauen in der Polizei wie hier.«
Ein Eisenbahner aus Hannover: »Ich bin das erste Mal in der DDR und muss sagen, dass es hier vorwärtsgeht. Bei uns wird propagiert, fahrt nicht in die Ostzone, da wird euch an der Grenze von der Polizei alles abgenommen. Ich bin aber höflich und zuvorkommend behandelt worden. Wenn ich zurückkomme, werde ich mit meinen Kollegen über meine Eindrücke in der DDR sprechen.«
Ein Arbeiter aus Hamburg: »Ich bin erstaunt über die Verbundenheit zwischen der Polizei und der Bevölkerung, so etwas gibt es bei uns nicht. Ich habe auch festgestellt, dass hier die Preise für die Verbrauchsgüter nicht so hoch sind wie bei uns drüben.«
Verschiedentlich kommt es vor, dass westdeutsche Besucher manches bemängeln, einmal aus Unkenntnis, zum anderen, weil sie beeinflusst sind oder weil sie unsere demokratische Ordnung ablehnen. So sagte zum Beispiel ein Arbeiter aus Düsseldorf: »Ich finde die HO-Preise unverschämt. Und ich habe durch Unterhaltungen mit der Bevölkerung festgestellt, dass ein hoher Prozentsatz gegen die Regierung ist.« Darauf wurde ihm erwidert, dass es die Volkskammerwahlen beweisen werden, dass die Bevölkerung hinter der Regierung steht. Dazu sagte er: »Eure Wahlen werden nicht demokratisch durchgeführt.«
Eine Hausfrau aus Köln: »Was mir nicht gefällt ist, dass in den Schaufenstern Bilder von führenden Regierungsmitgliedern hängen und davor liegen Stoffe zur Dekoration der schlechtesten Qualität. Nicht genug, dass die Stoffe äußerst geschmacklos sind, bringt man sie noch mit den Politikern in Verbindung. Haben die Fachleute in der DDR nichts zu sagen oder unterliegt die modische Richtung auch der Partei? Außerdem ist es eine Zumutung, dass die Werktätigen für so einen Schund so hohe Preise zahlen müssen.«