Zur Beurteilung der Situation
2. Juni 1954
Informationsdienst Nr. 2223 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Volksbefragung steht im Vordergrund der politischen Diskussionen.1 Der Umfang der Diskussionen hat sich gegenüber dem Vortage etwas vergrößert. Die uns bekannt gewordenen Stimmen sind meist von Arbeitern und Angestellten und überwiegend positiv. Darin bringt man zum Ausdruck, dass man für die Erhaltung des Friedens ist und den EVG-Vertrag ablehnt.2 Beispiele bringen wir im Anhang.
Diskussionen über die Genfer Konferenz treten nur noch vereinzelt auf.3 Darin wird teilweise zum Ausdruck gebracht, dass die Konferenz genauso »erfolglos« wie in Berlin sein wird in der Frage des Deutschlandproblems.4
Ganz vereinzelt werden uns von Arbeitern und Angestellten Stimmen zur Tagung des Weltfriedensrates bekannt;5 diese sind meist positiv. Eine Arbeiterin (parteilos) vom VEB Textilwerk Geyer, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mein Wunsch und meine Ansicht ist die, dass es dem Weltfriedensrat gelingen möge, der Welt einen dauerhaften Frieden zu bereiten.«
Im VEB Kirow-Werk in Leipzig wird gegenwärtig das Gerücht verbreitet, dass der Volkskammerpräsident Dr. Dieckmann6 von unseren Staatsorganen verhaftet worden sei.
Im Bezirk Dresden und im Wismutgebiet7 werden vereinzelt Diskussionen über den 17. Juni 1953 geführt. Ein Arbeiter aus dem VEB Turbo-Werk Meißen, [Bezirk] Dresden: »Es ist bloß schade, dass es am 17.6.1953 nicht richtig geklappt hat, sonst sehe es heute bedeutend anders aus.« Ein Kraftfahrer aus dem [Wismut-]Kombinat 10/72 aus Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Naja, einen 17. Juni bekommen wir dieses Jahr nicht, aber dafür einen 18. Juni. Die Sicherheitsorgane, sowie die KVP8 werden jetzt schon in Berlin zusammengezogen und alles ist in höchster Alarmbereitschaft.«
Missstimmungen wurden uns aus verschiedenen Betrieben bekannt, die ihre Ursachen in Lohnfragen, Materialmangel usw. haben. In dem Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld, [Bezirk] Halle, diskutiert man über zu niedrige Löhne im Verhältnis zum Kraftwerk »Karl Liebknecht«. Die Ursache liegt darin, dass im Kraftwerk des Elektrochemischen Kombinats nach Chemietarif bezahlt und im Kraftwerk »Karl Liebknecht« nach dem Bergbautarif bezahlt wird.
In der Gießerei des volkseigenen Metallwerkes Merseburg, [Bezirk] Halle, werden von einigen Kollegen Diskussionen über Lohnerhöhungen geführt. Der Meister in der Gießerei nimmt gegen solche Forderungen keine konkrete Stellung. Er lässt sich von ihnen treiben und versucht Fürsprecher für diese falschen Forderungen zu werden.
In der Zuckerfabrik Zeitz entstand unter den Arbeitern eine Unruhe darüber, weil am 7.1.1954 ca. 50 Angehörige des Betriebes eine Steuerermäßigung bekamen. Jetzt erklärte ein Vertreter des Finanzamtes plötzlich, dass das Gesetz im Januar falsch ausgelegt wurde und die betroffenen Kollegen die zu wenig bezahlte Steuern zurückzahlen müssen.
Die Bahnunterhaltungsarbeiter in Bützow, [Bezirk] Schwerin, sind unzufrieden darüber, dass ihnen die Wegegelder gestrichen wurden.
Im Bahnbetriebswerk Rostock herrscht unter den Meistern, Technikern und Ingenieuren eine schlechte Stimmung über die schleppende Berechnung und Auszahlung der Quartalsprämien. Bisher wurde die Auszahlung noch nie pünktlich vorgenommen.
Im RAW Malchin, [Bezirk] Schwerin,9 ist ein Mangel an Radsätzen, Puffern, Kupplungen, Zugstangen und Sicherungsblechen für Hähne vorhanden. Außerdem können vier Wagen nicht herausgehen, weil keine Achsen vorhanden sind. Darüber herrscht unter den Arbeitern schlechte Stimmung, da sie die Normen nicht einhalten können. Einige Fachkräfte tragen sich mit dem Gedanken, in einem anderen Betrieb die Arbeit aufzunehmen.
Die Produktion im Schiffsbau der Volkswerft Stralsund, [Bezirk] Rostock, hat einen Monat Planrückstand. Dieser Rückstand wurde durch großen Materialmangel hervorgerufen. Die Arbeiter sind über die schlechte Anlieferung von Material ungehalten und missgestimmt, sie sehen die Ursache in der Zentralplanungsstelle in Berlin.
Im Leipziger Kraftwerk besteht die Gefahr, dass eine Mühle aufgrund des schlechten Zustandes der Mahlplatten in nächster Zeit ausfallen wird. Die Lieferung neuer Mahlplatten ist erst im IV. Quartal vorgesehen. Die Stilllegung dieser Mühle würde eine niedrige Stromerzeugung zur Folge haben.
Produktionsschwierigkeiten
Seit Ende 1953 ist dem deutschen Innen- und Außenhandel in Berlin bekannt, dass der VEB Kirow-Werk Leipzig10 eine Erweiterung der Produktion für die Durchführung von Exportaufträgen für die Sowjetunion (Produktion von Schädlingsbekämpfungsgeräten für die Landwirtschaft) durchführen soll. Jedoch wurde dieser Auftrag erst jetzt dem Kirow-Werk übertragen, sodass Schwierigkeiten in der termingemäßen Fertigstellung auftreten.
In dem VEB Schreibmaschinenwerk Dresden sind Schwierigkeiten in der Planerfüllung eingetreten, durch die Fluktuation von Arbeitskräften. Die Arbeitskräfte werden in den anderen Betrieben nach der Lohngruppe IV bezahlt und im VEB Schreibmaschinenwerk Dresden nach der Lohngruppe VI und VII.
Produktionsstörungen
Im Kunstseidenwerk Premnitz, [Bezirk] Potsdam, ist durch den andauernden Stromausfall, der durch den Stillstand der Turbine II hervorgerufen wurde, ein VK-Rohr des Perlonbetriebes verstopft. Hierdurch fallen täglich 800 kg Perlon aus der Produktion aus. Die Reparatur wird voraussichtlich acht Tage dauern.
Am 30.5.1954 entgleiste auf dem Bahnhof Bernau [bei] Berlin die Lok11 eines Güterzuges mit allen Achsen in der Einfahrtsweiche. Der Fernverkehr musste umgeleitet und der S-Bahnverkehr durch Pendel aufrechterhalten werden. Die Ursache der Entgleisung ist noch nicht geklärt, vermutlich Oberbauschaden.
Im VEB Minimax Neuruppin,12 [Bezirk] Potsdam, sind Schwierigkeiten wegen der Ausbildung von jugendlichen Fachkräften vorhanden. Die Struktur des Betriebes kann nur angelernte Arbeiter in den Lohngruppen II, IV beschäftigen. Deshalb müssen die neuausgebildeten Facharbeiter an andere Betriebe vermittelt werden. Dies ist für den Betrieb sehr schwierig, da der Betrieb von den zuständigen Behörden in dieser Beziehung keine Unterstützung erhält. Ab 1.9.1954 will der Betrieb nur so viel Facharbeiter ausbilden, wie er für die nächsten Jahre durch Ausscheiden älterer Kollegen im Betrieb beschäftigen kann.
Handel und Versorgung
Nach wie vor wird aus den Bezirken über eine ungenügende HO-Fleischversorgung berichtet (im Bezirk Gera ist eine Besserung eingetreten).
Im Schlachthof Magdeburg nehmen die Überbestände an Fleisch immer mehr zu. Zurzeit lagern ca. 120 t Schweinefleisch. (Ebenfalls lagern Innereien, die von den Gaststätten gern abgenommen würden.)
Verschiedentlich wird über eine unzureichende Warenbereitstellung geklagt. Zum Beispiel mangelt es in der HO Hermsdorf ([Bezirk] Gera) laufend an Ersatzteilen für Fahr- und Motorräder. Im Bezirk Halle fehlt es an genügend Sommerkonfektion, vor allem an Herren- und Damenmänteln.
Landwirtschaft
Nach wie vor wird unter der Landbevölkerung wenig zu aktuellen politischen Problemen Stellung genommen, meist nur in den Kreisen des sozialistischen Sektors. Über die Genfer Konferenz wird fast gar nicht mehr gesprochen. Die Diskussionen über die bevorstehende Volksbefragung sind gering, aber meist positiv. Eine Landarbeiterin vom VEG Dobitschen,13 [Bezirk] Leipzig: »… Es muss sich doch jeder über die Volksbefragung im Klaren sein. Deshalb müsste meiner Meinung nach auch jeder vorbehaltlos für den Frieden stimmen, denn nur im Frieden können wir weiterkommen.«
Vereinzelt wurden darüber negative Stimmen bekannt, meist von Einzelbauern. Ein Bauer aus Merzza,14 [Bezirk] Erfurt: »Mit der Volksbefragung, das muss [ich] mir erst einmal überlegen, ob ich da mitmache, denn mit der Politik der Russen bin ich nicht einverstanden.« Eine Bäuerin aus Hallungen, [Bezirk] Erfurt: »Ob wir unser Ja und Amen geben oder nicht, das ist gleich. Die Großen machen ihre Politik auch weiterhin allein.«
Weiterhin bilden wirtschaftliche und persönliche Belange den Mittelpunkt des Interesses. Bei diesen Diskussionen nimmt die unzureichende Futtergrundlage größeren Rahmen ein. In einer CDU-Versammlung in der Gemeinde Weiznik,15 [Bezirk] Leipzig, äußerte ein Versammlungsteilnehmer: »Es hat überhaupt keinen Zweck mehr, die Bauern aufzuklären, denn sie lassen sich in der Futterfrage nicht mehr länger belügen. Da geben sie jetzt wieder Magermilch anstelle von Fleisch; während es im Westen alles gibt, wird es bei uns auf dem Lande bald zusammenbrechen.«
Im Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, haben Bauern wegen Futtermangel ihre Roggenflächen mitunter bis zu 95 Prozent angemäht. (Ähnliche Erscheinungen sind im Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, zu verzeichnen.) In der Schweinemästerei Altmörbitz, [Bezirk] Leipzig, verendeten in den letzten 14 Tagen 15 Mastschweine. (Es mangelt an Strohschüttung – die Tiere liegen auf dem kahlen Betonboden.)
Im Kreis Ilmenau, [Bezirk] Suhl, fehlen insgesamt 2 800 Ferkel – davon benötigen die Genossenschaftsbauern 300 Stück.
In der MTS des Kreises Bützow, [Bezirk] Schwerin, wird das Häufelgerät RS 30 beanstandet – es dringt nicht genügend in den Erdboden ein (Lieferant ist ein Betrieb in Torgau).
Im Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, wollte ein Großbauer seinen Betrieb übergeben, weil er in seiner Wirtschaft Rückschläge erhielt [sic!]. Vom Rat des Kreises wurde er mit der Begründung abgewiesen, dass er als Großbauer weiterzuwirtschaften hätte. Daraufhin setzte er sich nach Westdeutschland ab.
In der Gemeinde Zechow, [Bezirk] Potsdam, sind Kartoffelfelder stark von Kartoffelkäfern befallen (Bekämpfung eingeleitet).
Übrige Bevölkerung
Nach wie vor wird unter der übrigen Bevölkerung wenig zu politischen Tagesfragen Stellung genommen. Über die Genfer Konferenz wird kaum noch gesprochen. Im Vordergrund stehen Diskussionen über die bevorstehende Volksbefragung. Die gering bekannt gewordenen Äußerungen sind überwiegend positiv. Größtenteils wird zum Ausdruck gebracht, dass es für jeden eine Selbstverständlichkeit sein müsste, für den Frieden zu stimmen.
Eine Hausfrau aus Pasewalk, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich will keinen Krieg. Wenn ich in der Zeitung lese, wie friedliebende Menschen in Westdeutschland ohne jeden Grund nach faschistischen Manieren eingesperrt werden, so kann man nur sagen, dass die Bonner Regierung einen neuen Krieg will. Alle ehrlichen Deutschen müssen in der kommenden Volksbefragung ihre Stimme gegen die Politik erheben.«
Ein Einwohner aus Naumburg, [Bezirk] Halle: »Die in Vorbereitung stehende Volksbefragung wird von vielen Menschen als unbedeutender Akt angesehen. Die Erklärung, dass wir uns keine politische Spaltung erlauben dürfen und den demokratischen Block16 sowie die Nationale Front17 festigen müssen, findet bei der Mehrzahl der Parteilosen sowie bei vielen LDP- und CDU-Mitgliedern wenig Anhang.«
Weiterhin stehen im Mittelpunkt des Interesses wirtschaftliche und persönliche Belange, deshalb wird mehr über diese Dinge gesprochen. Über die HO-Fleischversorgung wurden folgende Äußerungen bekannt:
Eine Hausfrau aus Leipzig: »Jetzt gibt es nun schon seit Wochen kein Fleisch und keine Wurst in der HO. Immer muss man sich anstellen, um etwas zu bekommen. Da sollte es nun besser werden, es sieht nicht so aus.«
Eine Rentnerin aus Leipzig: »In letzter Zeit ist die Fleischversorgung sehr schleppend. Meiner Meinung nach sind Einsparungen für das Deutschlandtreffen vorgenommen worden.18 Wenn der Kirchentag19 in Leipzig stattfindet,20 wird es wohl wieder mehr zu kaufen geben.«21
Eine Verkäuferin aus Magdeburg: »Es ist schlecht, dass es keine HO-Fleischwaren gibt. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Plakate abgerissen werden und wenn Revolten entstehen.«
Vereinzelt wurden Stimmen bekannt, die auf einen neuen 17. Juni hinweisen. Ein Geschäftsmann aus Magdeburg: »Jetzt muss man schon Käse essen, denn in der HO gibt es seit Tagen keine Wurst und kein Fleisch mehr. Naja, der 17. Juni ist ja bald wieder ran.«
Ein Rentner aus Erlbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wenn der Westen am 17.6.[1953] aufgepasst hätte, wäre das alles schon erledigt, aber es war ja nur ein Vorspiel. Es wird sich wiederholen, nach kurzer Zeit.«
In Pritzwalk,22 [Bezirk] Potsdam, wurden in den letzten Tagen 28 Exemplare der »Märkischen Volksstimme«23 abbestellt. Ursache: verstärkte Werbung der LDP für ihre Presse »Der Morgen«.24
Im Kreis Greiz, [Bezirk] Gera, beschwert sich die Bevölkerung über einen schlechten Empfang der Sender des demokratischen Rundfunks. (Dadurch wird sehr viel der RIAS gehört.)
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD:25 Erfurt 700, Gera 40, Halle 20, Neubrandenburg 16, Überschrift größtenteils »Pankows Terrorregime wird stürzen«.26
KgU:27 Gera 20, Neubrandenburg 12. Inhalt: Meist gegen das II. Deutschlandtreffen.
NTS:28 Gera 150, Dresden 32.
»Freie Junge Welt«29: Halle 160. Inhalt: Gegen das Deutschlandtreffen.
In tschechischer Schrift: Dresden 462.
CDU-Ostbüro: Dresden 21.
Berlin: In verschiedenen Fernsprechzellen zehn gefälschte Schulungshefte der FDJ und in verschiedenen Briefkästen 766 Briefe, mit der kleinen Wochenausgabe »Der Tag«,30 aufgefunden. Inhalt: SED zieht neue Normenschrauben an. (Außerdem noch elf Hetzschriften: Stimme der Freiheit, der überwiegende Teil der Flugblätter gelangte nicht in die Hände der Bevölkerung.)
Terror: Am 26.5.1954 wurde ein FDJ-Kreisleitungsmitglied (wohnhaft in Löderburg, [Bezirk] Magdeburg) beim Kleben von Plakaten in Staßfurt von drei unbekannten Tätern niedergeschlagen – wurde verletzt. (Das Gleiche ereignete sich mit einem FDJler in Saalfeld, [Bezirk] Gera.) In der Nacht vom 31.5. zum 1.6.[1954] wurden bei der Pionierleiterin in Unterwellenborn, [Bezirk] Gera, von unbekannten Tätern die Fensterscheiben eingeschlagen.
Antidemokratische Schmierereien und Handlungen
Am 31.5.1954 wurde im Bereich der Neptunwerft Rostock das Zeichen der NTS31 und in Dingelstädt, [Bezirk] Erfurt, in der Nacht vom 29. bis 30.5.1954 an eine Häuserwand mit Kreide »Es lebe die EVG« von unbekannten Tätern angeschmiert. (Außerdem wurden in der gleichen Nacht in Dingelstädt Plakate des II. Deutschlandtreffens abgerissen.)
Im RAW Potsdam wurde ein Güterwagen mit einem »W«32 bemalt und in Treuenbrietzen, [Bezirk] Potsdam, von zwei unbekannten Tätern zwei rote Fahnen heruntergerissen.
Hetzbriefe erhielten: zwei Arbeiter aus Görlitz und ein Schlossermeister aus Großenhain, [Bezirk] Dresden (Herausgeber: KgU. Der Inhalt richtet sich gegen die DDR und SU), der Bürgermeister von Wehlen, [Bezirk] Dresden, Herausgeber: UFJ.33 Inhalt: »Organ für freiwillige und unfreiwillige Befehlsempfänger im Staatsorgan«) und ein Zugführer des Bahnhofes Neubrandenburg (Herausgeber: UFJ. Inhalt: Er wird beschuldigt, seine Kollegen zu bespitzeln und zu denunzieren und er wird gewarnt, von weiteren »Handlungen« Abstand zu nehmen.)
Ein Abteilungsleiter vom VEB Zeiss Jena bekam eine telefonische Mitteilung, dass er sofort verschwinden sollte, da er von der Staatssicherheit verhaftet werden sollte.
Einschätzung der Situation
Die Diskussionen über die Volksbefragung nehmen zu und sind überwiegend positiv. Augenblicklich hat die Verbreitung feindlicher Flugblätter nachgelassen. Sonst sind keine wesentlichen Veränderungen gegenüber dem Vortage.
Anlage 1 vom 1. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2223
Stimmen zur HO-Fleisch- und -Butterversorgung
Äußerungen der Bevölkerung aus dem Bezirk Dresden über den Mangel an HO-Fleischwaren und HO-Butter: Verschiedentlich wird zum Ausdruck gebracht, dass die Ursache dafür das II. Deutschlandtreffen ist. Eine Hausfrau aus Görlitz: »… Rindfleisch gibt es nicht, Kalbfleisch sehr wenig und ebenfalls HO-Wurst nur gering. Auch gibt es seit Wochen keine HO-Butter mehr. Aber bei den Großveranstaltungen in Berlin zeigt man den Wohlstand und Überfluss.«
Eine Jugendliche aus Dresden: »Bei uns sind seit Sonnabend alle HO-Fleischverkaufsstellen leer. Wenn abends die Arbeiter nach Hause kommen, gehen sie alle einzeln hinein und verlangen Fleisch und Wurst, weil sie wissen, es gibt nichts. Die Verkäuferinnen antworten, sie ist eben ausgegangen, dabei gibt es schon tagelang nichts. Hoffentlich ist es nur wegen dem Deutschlandtreffen, dass es danach dann wieder besser wird.«
Eine Hausfrau aus Dresden: »Da mal wieder die Wurst gesperrt ist, müssen wir bis in die Stadt rennen, wenn wir etwas erwischen wollen und dann ist es auch noch Glückssache. HO-Fleisch gibt es überhaupt nicht, ebenso Knochen und Rippchen.«
Eine Hausfrau aus Dresden: »Bei uns ist ein großes Rätselraten, warum es in den HO-Geschäften kein Fleisch und keine Wurst gibt. Für die Berufstätigen ist das bitter, denn sie reichen mit ihren Marken nur 14 Tage und dann müssen sie in der HO kaufen. Ich bin gespannt, wie lange der Zustand noch anhält und mit was für Ausreden man kommt.«
Ein Arbeiter aus Dresden: »Bei uns hier ist es wieder mal trostlos. Die Läden sehen so leer aus. Es heißt, es geht alles nach Berlin wegen dem Jugendtreffen. Trotzdem müsste doch genug da sein, da sollen sie doch mit allen Ländern Handel und Wandel treiben, da würde alles seinen normalen Gang gehen.«
Eine Hausfrau aus Dresden: »Es gibt bei uns in den HO-Geschäften zurzeit kein Stückchen Fleisch oder Wurst. Wir sind praktisch nur auf unsere Marken angewiesen. Bin bloß gespannt, was das wieder zu bedeuten hat.«
Eine Hausfrau aus Weixdorf: »… Fett steht bei uns wieder hoch im Kurs, weil es knapp und in der HO nur zeitweise zu haben ist. Die Rationierung an Fett, Fleisch und Zucker wird nicht aufgehoben, wie vorgesehen war. Es muss sonst so viel eingeführt werden und die Devisen fehlen dafür. Dabei wurde zum Jahresbeginn gesagt, wir gingen in ein Jahr des Wohlstandes hinein.«34
Ein Arbeiter aus Dresden: »Es gibt hier wieder seit einiger Zeit keine Butter in der HO zu kaufen. Und seit Kurzem sogar keine Wurst mehr. Scheinbar wird alles nach Berlin gebracht.«
Eine Hausfrau aus Dresden: »Bei uns ist alles wie ausgekehrt. Keine Wurst, kein Fleisch, kein Kaffee, keine Butter, Margarine nur ab und zu mal und dies schon seit ein paar Wochen. Die Bevölkerung meutert schon ganz schön. Vielleicht kommt wieder ein neuer 17. Juni [1953].«
Ein Arbeiter aus Dresden: »Seit Monaten bekommen wir nichts als Schweinefleisch. Es ist eine Seltenheit, wenn es mal Kalbfleisch gibt. Uns hängt das Schweinefleisch zum Halse heraus. Rindfleisch kennen wir gar nicht mehr.«
Eine Hausfrau aus Dresden: »Zurzeit gibt es keine HO-Butter, Eier sind selten, auch Käse. Außerdem ist das Fleisch sehr knapp.«
Anlage 2 vom 2. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2223
Anhang: Stimmen über den Beschluss der Volkskammer zur Durchführung der Volksbefragung (Industrie)35
Ein Arbeiter aus dem VEB Blechwalzwerk Olbernhau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das deutsche Volk muss doch seine Lehren gezogen haben und der Unterschied zwischen Krieg und Frieden müsste doch jedem klar sein. Nur im Westen gibt es noch Politiker, die so gerne wieder Soldaten spielen möchten. Wenn die Bevölkerung im Westen Deutschlands einmal gefragt würde nach Krieg oder Frieden, dann käme ein Resultat heraus, wo den Herren die Augen aufgehen würden.«
Ein Arbeiter aus dem Industriewerk Ludwigsfelde, [Bezirk] Potsdam: »Welcher Deutsche würde nicht gegen die EVG und Besatzung sein? Wir Deutsche haben doch schon genug Erfahrung, wie schlecht sich das auf uns auswirkt. Aber wenn jetzt eine Volksabstimmung diesbezüglich kommt, weiß ich nicht, wie diese ausfallen wird. Eine sehr große Mehrheit wird nicht gegen die EVG sein, dann müsste erst mal das Volk satt zu essen haben. Die Fleischknappheit wird sich auch auswirken.«
Ein Arbeiter aus der Elektrowerkstatt des Kaliwerkes »Glückauf« in Sondershausen, [Bezirk] Erfurt: »Was nützt uns die Volksbefragung. Wir brauchen die Einheit Deutschlands.«
Ein Eisenbahner aus Weißenfels (parteilos): »Die Volksbefragung ist alles großer Kitsch. Es ist klar, dass das Volk für den Frieden ist.«
Ein Arbeiter des VEB Kunstseiden- und Baumwollweberei Zittau, [Bezirk] Dresden: »Wir brauchen keine Volksbefragung. Wir sind sowieso alle für den Frieden. Die ganze Volksbefragung kostet nur wieder eine Menge unnötiges Geld.«
Eine Arbeiterin aus dem VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden: »Wenn man über den Frieden abstimmt, sollte man auch abstimmen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze.«
Anlage 3 vom 2. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2223
Maßnahmen des Gegners gegen das II. Deutschlandtreffen
1. Hetzbriefe
An Bürger der DDR werden neue Flugblätter der KgU, die sich gegen das II. Deutschlandtreffen richten, gesandt. Inhalt:
»Kollegen in der Volkspolizei!« VP-Angehörige werden aufgefordert, sich nur auf »rein polizeiliche« Aufgaben zu beschränken.
»An die deutschen Eltern zum Pfingstfest!« Durch Gräuelmärchen über das II. Deutschlandtreffen sollen die Eltern veranlasst werden, ihre Kinder nicht nach Berlin fahren zu lassen. Sie fordern auf: »Keinen Pfennig für das Deutschlandtreffen. Jeden ersparten Pfennig für das Pfingstfest der Familie!«
»An die deutschen Lehrer und Erzieher in der sowjetisch besetzten Zone!« Sie werden aufgefordert, niemanden zur Teilnahme am II. Deutschlandtreffen »zu zwingen«.
»An die deutsche Jugend in der sowjetisch besetzten Zone!« Unter Verdrehung unserer Losung »Spare mit jedem Pfennig …«36 werden die Jugendlichen aufgefordert, keinen Pfennig für das Deutschlandtreffen auszugeben und dem Deutschlandtreffen fernzubleiben.
2. Gefälschte Briefe
An verschiedene Institutionen, wie FDGB-Schule, Verwaltungsschule u. a., die zum II. Deutschlandtreffen Quartiere zur Verfügung stellten, werden gefälschte Briefe übersandt, wonach das Org.-komitee entweder die Zahl der vertraglich festgelegten Betten reduziert (z. B. von 23 auf 14 Stück) oder den Zeitpunkt der Belegung verändert (z. B. statt vom 1. bis 8.6.1954 die Zeit vom 2. bis 9.6.1954).
An das Org.-komitee des II. Deutschlandtreffens werden gefälschte Zimmeranmeldungen anlässlich des II. Deutschlandtreffens übersandt. Dadurch sollte erreicht werden, dass Quartierscheine für Betten ausgestellt werden, die tatsächlich gar nicht von der Privatperson gemeldet wurden.
3. Hetze der Westpresse
Zur Beunruhigung der Bevölkerung erscheinen in der Westpresse und bei den Westsendern immer wieder Meldungen über angebliche große Lebensmittelknappheit infolge des II. Deutschlandtreffens. So meldete z. B. der »Telegraf« vom 1.6.1954,37 dass die Bezirke der DDR ihre Teilnehmer selbst verpflegen müssen und die Naturalien täglich aus den Bezirken zu holen sind, wofür allerdings keine Lkw vorhanden wären.
Anlage 4 vom 2. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2223
Zur Vorbereitung des II. Deutschlandtreffens der FDJ
Stimmung zum Deutschlandtreffen
Unter den Jugendlichen, die am Deutschlandtreffen teilnehmen, herrscht allgemein eine freudige und erwartungsvolle Stimmung. Positive Diskussionen und Verpflichtungen stammen hauptsächlich von ihnen.
Ein großer Teil der übrigen Werktätigen verhält sich passiv. In den positiven Diskussionen wird nur teilweise die politische Bedeutung des Deutschlandtreffens erwähnt. Ein Hauer aus dem Wismut-Schacht 13 in Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich freue mich, dass ich teilnehmen kann, da es wieder ein Erlebnis wird, was man noch lange in Erinnerung erhält. Aber ich werde auch den westdeutschen Freunden erzählen, welche Erfolge wir bisher in unserer Arbeit erzielt haben.«
Ein Teil der Jugendlichen des Mansfeld Kombinates »Wilhelm Pieck« aus Eisleben, [Bezirk] Halle, erreichten einen Planvorsprung von zwölf Tagen.
Die jugendlichen Eisenbahner des Bahnhofes Halle sind bereits sehr begeistert, dass sie nach Berlin fahren können. Die ausfallenden Arbeitsleistungen der Jugendlichen werden von älteren Kollegen nachgeholt. Jeder Jugendliche erhält vom Betrieb DM 20,00 Taschengeld.
Negative bzw. feindliche Stimmen wurden meist von Menschen bekannt, die negativ und feindlich zur DDR eingestellt sind. Daneben stammen sie teilweise von Jugendlichen, die zur Beteiligung am Treffen abgelehnt wurden. Der Umfang der negativen Stimmen ist gering. Meist richten sie sich gegen die Teilnahme am Treffen, wobei verschiedenartige Argumente benutzt werden. Eine Wagenreinemachefrau aus Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich finde, das II. Deutschlandtreffen ist ein großer Unsinn und es wird wie zu den Weltfestspielen eine große Hurerei stattfinden.38 Ich werde nie wieder nach Berlin fahren.«
Ein Stanzer (parteilos) aus Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Das Deutschlandtreffen ist nur eine bessere Verdummung der Jugend, um sie für sich zu gewinnen, ich bin nur gespannt, wie der Westen reagieren wird. Hoffentlich gibt es wieder solche Szenen wie zu den Weltfestspielen.«39
Ein Kollege von der Transportabteilung II in Oberschlema: »Mir ist eine Geburtstagsfeier mehr wert als das II. Deutschlandtreffen.«
Eine Kindergärtnerin aus Altentreptow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich werde nicht nach Berlin fahren. Dort müssen wir wieder nach Westberlin demonstrieren und dort gibt es wieder eine große Schlägerei.«
Eine Kollegin aus Schacht 13, Revier 4 aus Aue: »Wenn sie das Deutschlandtreffen durchführen wollen, so sollen sie auch selbst bezahlen. Ich gebe nichts dafür. Auch für uns wird mal wieder der Hafer blühen.«
Ein FDJler aus Magdeburg erklärte: »Wenn ich schon nach Berlin fahre, so will ich auch einen Verwandten in Westberlin besuchen.« Dem stimmten noch zwölf Jugendliche zu, die im Fanfarenzug der FDJ in Magdeburg sind.
Unter den Arbeitern der Hauptwerkstatt der Magdeburger Verkehrsbetriebe besteht eine Verärgerung, die sich gegen die vielen Geldsammlungen richtet. Es wurden Meinungen geäußert, dass man damit »auf ganz raffinierte Art den Arbeitern den letzten Groschen aus seiner Tasche herausholen würde«.
Eine Jugendliche beschäftigt am Prüfstand des VEB RFT Ruhla,40 [Bezirk] Erfurt: »Warum sollen wir denn nur FDJ-Kleidung tragen und keine andere nach Berlin mitnehmen. Wahrscheinlich dürfen wir nicht nach Westberlin. Wenn bei uns alles viel besser ist, könnten sie uns doch rüberlassen, damit wir uns selbst überzeugen können.«
Zu den Vorbereitungen in Berlin
Die Quartierwerbung ist fast abgeschlossen. Nur im Bezirk Friedrichshain bestehen noch Schwierigkeiten, da ein Dachbodenquartier für 100 Personen wegen Schäden gestrichen werden musste.
Strohfehlmengen werden aus allen Bezirken gemeldet, die sich hauptsächlich durch das beträchtliche Untergewicht der Strohballen ergeben, außerdem durch schlechte Verteilung. So wurden zum Beispiel in den Bezirken Friedrichshain und Lichtenberg Quartiere für 30 Personen mit mehr Stroh beliefert als Quartiere mit 100 Personen. Trotz der Fehlmengen soll in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg, Treptow, Köpenick, Weißensee und Pankow bis zum 2.6.1954 die An- und Auslieferung des restlichen Strohs erfolgen.
Verantwortliche Personen für die Dachbodenquartiere in den einzelnen Häusern gibt es nur im geringen Umfange. Ehrenamtliche Verpflegungshelfer sind nur im Bezirk Lichtenberg vorhanden, in allen anderen Bezirken fehlen noch mehr als die Hälfte. An Lotsen ist in den Bezirken Pankow, Lichtenberg und Friedrichshain nicht die erforderliche Anzahl vorhanden. So fehlen in Lichtenberg 72 Lotsen, in Pankow sind erst 60 Prozent der erforderlichen Lotsen vorhanden. Im Bezirk Friedrichshain ist die Sollzahl an Lotsen noch ungeklärt.
Für die Ausschmückung der Häuser und Unterkünfte liegen in den HO und Konsumgeschäften genügend Materialien bereit. Trotz des Aufrufes der Nationalen Front und der Bezirksleitung der FDJ von Groß-Berlin, mit der Ausschmückung am 30.5.[1954] zu beginnen, wurde bisher in allen Bezirken wenig dazu getan.
Stimmung unter westdeutschen Teilnehmern
Im Bezirk Schwerin ist die Stimmung der westdeutschen Teilnehmer gut. Es wird bemängelt, dass die Verpflegung nicht abwechslungsreich sei und die Dauerwurst zu scharf sei. Besuche durch die westdeutschen Teilnehmer sind nicht immer gut vorbereitet. So kam es bei einem Besuch der LPG Mestlin zu einem Zwischenfall, wobei angetrunkene Traktoristen zu den Westdeutschen sagten: »Was wollt Ihr Hamburger hier, Ihr habt hier nichts zu suchen.«
Organisierte Feindtätigkeit zum II. Deutschlandtreffen
In Ilfeld, [Bezirk] Erfurt, wurde vor einigen Tagen ein Funktionär der FDJ während einer Kulturveranstaltung zum Deutschlandtreffen provoziert und kurze Zeit später niedergeschlagen.
Gefälschte Schreiben erhielten erneut Grundorganisationen der FDJ im Bezirk Suhl. Darin wird angewiesen, dass das Teilnehmersoll herabzusetzen ist und die Geldsammelaktionen zu beenden sind. Die gleichen gefälschten Anweisungen erhielten einige Kreisleitungen im Bezirk Magdeburg. Außerdem wurden sie aufgefordert, Jugendliche zum Ordnerdienst nach Berlin zu schicken.
Im Kreis Meißen, [Bezirk] Dresden, wurden an der Strecke für die Drei-Tagefahrt der FDJ41 Richtungsschilder verändert. Durch diese Irreführung wären die Fahrer in einen Teich gefahren.
Westberlin
Am 21.5.1954 fand in der Falkschule in der Lützowstraße eine Versammlung der CDU statt, wo unter anderem über die Aufgaben der CDU während des Deutschlandtreffens gesprochen wurde. Dabei wurde ausgeführt, dass die CDU Gruppen zusammengestellt habe, welche in den demokratischen Sektor geschickt werden sollen, um FDJler nach Westberlin zu locken. (Diese Meldung ist nicht überprüft.)