Zur Beurteilung der Situation
2. September 1954
Informationsdienst Nr. 2303 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Tagesfragen wird im Allgemeinen wenig gesprochen. Bei diesen wenigen Diskussionen steht die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich1 in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Halle, Dresden, Erfurt und Suhl im Mittelpunkt der Gespräche, während in den anderen Bezirken nur ganz vereinzelt darüber diskutiert wird. Die Stimmen stammen meist von Arbeitern und sind fast alle positiv. In den Diskussionen bringt man zum Ausdruck, dass die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich ein erneuter Sieg der Friedenskräfte ist. In diesem Zusammenhang äußert man, dass nunmehr auch die westdeutsche Bevölkerung mehr als bisher den Kampf gegen die Adenauer-Regierung2 führen muss, damit der Kriegspolitik ein weiterer Schlag versetzt werden kann.
Ein Arbeiter im »August-Bebel«-Werk in Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die französische Nationalversammlung wurde durch den Willen des Volkes zu dieser ablehnenden Haltung gegenüber der EVG gezwungen. Der Einzige, der noch versucht, durch Terror die EVG zu retten, ist Adenauer. Der alte Mann sollte lieber abtreten, er ist schon bald 80 Jahre und wird langsam kindisch. Wir müssen jetzt alles daransetzen, dass die bevorstehenden Volkswahlen ein voller Erfolg werden,3 denn dadurch wird der EVG und der Kriegspolitik überhaupt ein weiterer Schlag versetzt und Adenauer wird sehen, dass er auf weiter Flur allein mit seiner EVG steht.«
Die Kumpels vom VE Eisenhüttenwerk Thale, Kreis Quedlinburg, [Bezirk] Halle: »Das französische Volk hat den USA und Adenauer – EVG-Einpeitschern ein mutiges Nein gegeben und die Kriegsvorbereitungen abgelehnt. Könnte es nicht auch bei uns so sei, dass wir uns aufraffen und durch vereinte Kräfte in Ost und West ein einheitliches, demokratisches Deutschland schaffen?«
Ein Arbeiter aus dem Stahl- und Walzwerk Riesa, [Bezirk] Dresden: »Viele Einwohner der DDR, die durch die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich von der Richtigkeit des Kampfes gegen die EVG überzeugt wurden, werden dadurch das Ergebnis der Volkswahl im Oktober 1954 bestimmt positiv beeinflussen.«
Ein parteiloser Förder-Maschinist vom VEB Zinnerz Altenberg, Kreis Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Die Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung beweist die falsche Politik des Westens. Damit wird auch die EVG in Westdeutschland zum Scheitern verurteilt. In Westdeutschland wird man die Politik ändern müssen, wozu der Übertritt von Dr. John4 und Schmidt-Wittmack5 beigetragen hat.«
Nur vereinzelt wird negativ zur Ablehnung des EVG-Vertrages diskutiert. Ein Arbeiter aus der Volkswerft Stralsund, [Bezirk] Rostock, ist der Meinung, dass es nicht mehr lange dauern würde und zwischen Westdeutschland und Frankreich werde eine militärische Auseinandersetzung folgen, diese würde Polen dazu veranlassen, in diese Handlung einzugreifen.
Über die Volkskammerwahlen wird nur wenig gesprochen. Teilweise lehnt man die einheitliche Kandidatenliste der Nationalen Front6 ab und fordert Parteiwahlen. Dabei werden negative Äußerungen laut, wie »Die SED würde bei einer Parteiwahl ganz schön abrutschen«. In diesem Zusammenhang bringt man zum Ausdruck, dass die Wahlen in der DDR undemokratisch sind. Ein Schweißer (parteilos) aus dem Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden: »Wenn die SED zu den Volkswahlen kandidieren würde, rutschte sie ganz schön ab und ihre Zeit wäre zu Ende. Das wissen sie ganz genau und deshalb wollen sie gemeinsame Listen.«
Ein Schlosser aus dem VEB Federnwerk Zittau, [Bezirk] Dresden: »Ich verstehe unter freien Wahlen, dass man jede Partei wählen kann und jede Partei ein Programm aufstellt.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Teerverarbeitungswerk Rositz, [Kreis] Altenburg, [Bezirk] Leipzig: »Ich bin mit dem, was bei uns jetzt besteht, nicht einverstanden. Zur Volkswahl müsste jede Partei ihre eigenen Kandidaten aufstellen, dann kann man von einer wirklich freien Wahl sprechen. Wenn ich gewusst hätte, was die SED für einen Kurs einschlägt, wäre ich niemals in diese Partei eingetreten.«
Ein Decksmann vom Fischkombinat Saßnitz, [Bezirk] Rostock: »Ich bin Sozialdemokrat, bin auch für freie Wahlen, für die Erhaltung des Friedens, aber mit dem Ziel, damit die alte Heimat wiederzuerlangen ist.«
Über die Streikbewegung in Westdeutschland7 und über den Schritt des CDU-Abgeordneten Schmidt-Wittmack wird nur noch ganz vereinzelt diskutiert, meist positiv. Im Vordergrund der Diskussionen der Werktätigen stehen wirtschaftliche und betriebliche Fragen.
Die Arbeiter der LEW Hennigsdorf, [Bezirk] Potsdam, verlangten von der Leiterin der Betriebskantine eine Erklärung wegen des Zigarettenmangels. Dabei stellten die Arbeiter immer wieder die Frage, ob denn dies die Auswirkungen des Neuen Kurses seien.8
Die Frauen im Kunstseidenwerk Premnitz, [Bezirk] Potsdam, sind verärgert, dass sie nicht genügend Eimer, Schüsseln und Bettwäsche zu kaufen bekommen, da man ihnen versprochen hatte, das Kunstseidenwerk bevorzugt zu beliefern.
Die Kollegen der Abteilung Wiesenmühle, Brennhaus 2 im VEB Porzellanwerk Kahla, [Bezirk] Gera, sind ungehalten darüber, dass sie von der Dreherei des Betriebes schadhaftes Porzellan erhalten, da sich dadurch ihre Ausschussquote um 10 Prozent erhöht.
Im Kalibetrieb im Kreis Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, diskutieren die Arbeiter in der Form, dass in anderen Betrieben, wie z. B. im EMW Werk Eisenach,9 die Arbeiterinnen mehr verdienen als die Kumpels in den Kaliwerken. Aufgrund dessen haben einige Arbeiter die Kündigung eingereicht.
Im Fischkombinat Saßnitz, [Bezirk] Rostock, herrscht unter den Fischern schlechte Stimmung, weil ihre Kutter nicht alle an einem Tag gelöscht werden können, da nicht genügend Löschbrigaden vorhanden sind.
Im VEB Kraftwerk Harbke, [Bezirk] Magdeburg, ist unter den Kollegen eine Missstimmung aufgrund der Verordnung des Ministeriums für Schwerindustrie vom 10.7.1954 entstanden. Dort heißt es, dass alle an diesen Anlagen verantwortlich tätigen Kesselheizer im Besitz eines staatlichen Kesselwärtererzeugnisses sein müssen.10 Die Kollegen diskutieren folgendermaßen: »Als wir damals zwei Kessel übernommen haben, um Heizer einzusparen, wurden wir als Arbeitsverräter hingestellt. Jetzt sollen wir von anderen, die zwar die Prüfung gemacht haben, aber nicht einmal richtig einen Wasserstand sehen können, abgelöst werden. Auch sind diese nicht in der Lage, zwei Kessel auf einmal zu fahren, und wir haben keine Zeit, eine Prüfung zu machen.«
Produktionsschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben wegen Material und Arbeitskräftemangel.
Der VEB Mitteldeutsche Kammgarnspinnerei Leipzig erfüllte seinen Plan für den Monat August nur mit 95,1 Prozent, da in diesem Betrieb ein ungewöhnlich hoher Krankenstand von 14 Prozent besteht. Des Weiteren hat der Betrieb schon seit längerer Zeit Schwierigkeiten wegen Mangel an Facharbeitern.
Im Kirow-Werk Leipzig11 besteht in einigen Abteilungen Arbeitsmangel. In diesen Abteilungen werden die Facharbeiter mit Transportarbeiten beschäftigt.
Die Kugellagerfabrik in Leipzig hat ihren Liefertermin bis 25.8.1954 an das Georgi-Dimitroff-Werk12 nicht eingehalten. Trotzdem die Anweisung von der Hauptverwaltung Berlin an die Kugellagerfabrik in Leipzig gegangen ist. Das Dimitroff-Werk hatte durch das Fehlen der Kugellager Produktionsschwierigkeiten.
Der VEB Baubetrieb Zerbst hat keinen Zement mehr und benötigt dringend für den Weiterbau des Konsumlagerhauses und für Bauten der LPG 125 Tonnen Zement, um die Termine für die Fertigstellung einzuhalten. Das Lieferwerk Zementwerk Rüdersdorf ist nicht in der Lage zu liefern. Weiterhin besteht Mangel an Dachpappe.
Im VEB Fehko in Gräfenthal, [Bezirk] Suhl, bestehen Schwierigkeiten in der Schalterbelieferung durch die Firma Scharfenberg und Wunder in Sonneberg. Da größere Mengen elektrische Kochgeräte, welche bis auf die Schalter fertig sind, nicht ausgeliefert werden können, treten Schwierigkeiten in der Lohnzahlung der Arbeiter auf.
Im VEB Lederwerk »Friedensgrenze«, [Kreis] Görlitz, [Bezirk] Dresden, traten in letzter Zeit Schwierigkeiten bei der Zeichnung der Schweinsrohhäute auf. Die Schweinsrohhäute werden von der VEAB geliefert. Die VEAB versäumt immer wieder, die Häute mit erster, zweiter und dritter Qualität zu zeichnen. Bei 75 gelieferten Häuten waren 50 Häute Ausschuss. Dadurch entstehen dem VEB Lederwerk einige Tausend DM Verlust.
Die Forster Tuchfabriken, [Bezirk] Cottbus, beklagen sich über die schlechte Qualität der Garne, die die Mitteldeutsche Kammgarnspinnerei Leipzig und Kammgarnspinnerei an der Werra liefern. Obwohl von der Industriezweigleitung Cottbus dem Ministerium für Leichtindustrie die Auslieferung der schlechten Garne schon mehrmals zur Kenntnis gebracht wurde, ist eine Änderung bisher nicht erfolgt.
Handel und Versorgung
Im Konsum Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, lagern 5 t Schmalz, die nicht abgesetzt werden können, da die Arbeiter lieber Margarine kaufen, weil sie im Preis billiger ist. Wegen der Gefahr des Verderbs werden davon bereits 2 t umgeschmolzen und müssen jetzt infolge der geringen Haltbarkeit (zehn Tage) an Betriebsküchen und Rentner zum Markenpreis abgegeben werden.
Mängel in der Warenbereitstellung, die verschiedentlich zu negativen Diskussionen in Verbindung mit dem Neuen Kurs und den Volkskammerwahlen führten
Fleischwaren fehlen teilweise in den Bezirken Potsdam, Neubrandenburg, Frankfurt, Schwerin, Dresden, Halle. Nährmittel in den Bezirken Cottbus, Neubrandenburg und in Schwerin besonders Kindernährmittel, Frischfisch und Fischkonserven in den Bezirken Halle, Schwerin und Frankfurt. Reis, Tee, Massenbedarfsartikel und Benzin im Bezirk Halle. Zigaretten in den Bezirken Frankfurt und Erfurt.
Kartoffelmangel. In Potsdam (Stadt) standen Hausfrauen in langen Schlangen nach Kartoffeln an. In einigen Kreisen des Bezirkes Leipzig brachte das Verkaufspersonal des Konsums Schilder an »Kartoffeln ausverkauft«. Es wurde jedoch festgestellt, dass ausreichend Kartoffeln in den Lagern im Kreisgebiet und in Altenburg vorhanden waren. Von der VEAB Oschatz wurden der HO und dem Konsum in den letzten Tagen nur täglich 3 t Kartoffeln geliefert, mit der Bemerkung, dass nicht genügend Kartoffeln vorhanden sind. Von der VEAB sollten täglich 10 t geliefert werden. Hier wurde ebenfalls festgestellt, dass auf dem Bahnhof in Dahlen ausreichende Mengen von Kartoffeln lagerten.
Aus dem Mühlenwerk Ost, Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, wird mitgeteilt, dass die Bäckerei-Genossenschaft in Weißenfels kein Weizenmehl vorrätig hat. Vom Rat des Bezirkes sind keine Verträge abgeschlossen worden. Es besteht die Gefahr, dass Ende dieser Woche keine Brötchen vorhanden sein werden.
Landwirtschaft
Die Stellungnahmen zu den politischen Tagesfragen sind weiterhin gering. Sie stammen hauptsächlich aus dem sozialistischen Sektor der Landwirtschaft und sind überwiegend positiv. In den positiven Meinungen wird die Friedenspolitik unserer Regierung begrüßt und aufgrund dessen den Kandidaten der Nationalen Front das Vertrauen ausgesprochen. Ein Traktorist der MTS Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, sagte hierzu: »Meine Stimme gehört bei den Volkswahlen den Kandidaten der Nationalen Front, denn sie besitzen mein volles Vertrauen. Durch meine Arbeit als Traktorist will ich beweisen, dass ich fest hinter der Friedenspolitik unserer Regierung stehe.«
In Verbindung mit dem Regierungsbeschluss »Sondermaßnahmen zur Einbringung des Getreides«,13 der von der Landbevölkerung allgemein mit großer Genugtuung aufgenommen wurde, sagten die Bauern der Gemeinde Käßlitz, [Kreis] Hildburghausen, [Bezirk] Suhl: »So etwas hat es in Deutschland noch nie gegeben, dass eine Regierung sich so für die Bauern einsetzt. Als Dank werden wir am 17.10.[1954] unsere Stimme den Kandidaten der Nationalen Front geben.«
Verschiedentlich werden Selbstverpflichtungen anlässlich der Volkskammerwahl übernommen.
Eine negative Einstellung zur Volkskammerwahl und die Forderung nach Parteilisten, ähnlich wie in den bürgerlichen Kreisen, vertraten die Arbeiter des VEG Gransee, [Bezirk] Potsdam. Durch eine gute Argumentation des Politleiters konnten diese Arbeiter jedoch vom Gegenteil überzeugt werden.
Vereinzelt wurde auch zur Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung diskutiert. Ein LPG-Vorsitzender aus Webau, Kreis Hohenmölsen, sagte: »Es ist eine große Sache, dass die französische Nationalversammlung den EVG-Vertrag abgelehnt hat. Wenn dieser Schandvertrag angenommen worden wäre, so würde es morgen in Frankreich genauso aussehen, wie es heute in Deutschland aussieht.«
Ein Arbeiter vom VEG Hobrechtsfelde, Kreis Bernau, [Bezirk] Frankfurt: »Frankreich beweist uns wieder einmal, wenn die Arbeiterklasse zusammensteht, dass auch eine bürgerliche Regierung nicht machen kann, was sie will. Wenn die Arbeiter aus Westdeutschland sich daran ein Beispiel nehmen würden, würde auch Adenauer in Westdeutschland nicht machen können, was er will.« Auch verschiedene Arbeiter der LPG und VEG nehmen im ähnlichen Sinne eine positive Stellung hierzu ein.
Schwierigkeiten
Von der Reichsbahndirektion Magdeburg sollten für den 31.8.[1954] einige Waggons zur Beförderung des Getreides gestellt werden. Obwohl festgelegt wurde, dass die Waggons früh zu stellen sind, kamen dieselben erst am Abend um 18.00 Uhr in Hettstedt an. Unter den Bauern, die von morgens 7.00 Uhr bis abends 18.00 Uhr auf dem Bahnhof Hettstedt stehen mussten, trat eine große Verärgerung auf. Zur Beförderung des Getreides benötigt das Erntebüro Hettstedt zehn Lkw, außerdem sind sämtliche Tankstellen in Hettstedt zzt. ohne Benzin.
Im MTS-Bereich Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, sind vorübergehend Dreschmaschinen ausgefallen. Grund hierfür ist das feuchte Getreide und die ungenügende Ausbildung der Dreschsatzführer.
In einigen MTS des Bezirks Leipzig treten Schwierigkeiten bei der Ernte infolge des Fehlens der Schichtfahrer auf. In einer dieser MTS reichen die Traktoristen ihre Kündigung ein, weil sie angeblich zu wenig verdienen. Dieselben Erscheinungen sind auch in den MTS des Kreises Delitzsch und MTS Großzössen, [Bezirk] Leipzig, zu verzeichnen. Auch dort reichen die Traktoristen ihre Kündigung ein, weil in den umliegenden Bergbaubetrieben höhere Löhne gezahlt werden.
In einer Betriebsplankontrollbesprechung der VEAB Nauen, [Bezirk] Potsdam, wurde festgestellt, dass die VEAB durch die Nichterfüllung des Erfassungs- und Aufkaufplanes den Umsatzplan nicht erfüllen konnte. Laut Viehzählung wurde ein Bestand von 30 000 Schweinen festgestellt. Nach dem Viehhalteplan ist jedoch eine Fehlmenge von 22 000 Schweinen = 58,5 Prozent zu verzeichnen. Dieser Verlust wird auf die Schweinepest zurückgeführt.
Klassengegner
Die VEAB in Rostock lehnt es ab, Frühkartoffeln anzunehmen mit der Begründung, dass diese nicht genug festschälig sind. Der Klassengegner verbreitet dort das gefährliche Argument unter den Bauern, dass die DDR zu viele Kartoffeln aus Holland einführt und die Bauern dadurch keine Absatzmöglichkeit haben.
Der Pastor aus Leopoldshagen, [Kreis] Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, verbreitet das Gerücht, dass durch die Ernteschwierigkeiten wieder Brotkarten eingeführt werden. In dieser Gemeinde wurde festgestellt, dass dort vielfach negative Diskussionen auftreten, die zum größten Teil auf die Beeinflussung des Pastors zurückzuführen sind.
In Göhren, [Bezirk] Schwerin, lehnen die Bauern es ab, das Getreide zum Drusch abzugeben und begründen es damit, dass das Getreide zu feucht ist. Der Vorsitzende der VdgB aus Spoitgendorf, [Bezirk] Schwerin, sagte, man solle sich mit der Ablieferung nicht so beeilen, nach den Volkswahlen würde das Soll herabgesetzt werden.
Übrige Bevölkerung
Zu aktuellen politischen Tagesfragen wird nach wie vor wenig Stellung genommen. Über die Ablehnung des EVG-Vertrages durch das französische Parlament wurden aus den verschiedensten Kreisen der übrigen Bevölkerung nur positive Stimmen bekannt. So sagte zum Beispiel eine Angestellte aus Schleiz, [Bezirk] Gera: »Es ist ein großes Glück für Europa, dass es dem französischen Ministerpräsidenten nicht gelungen ist, den Willen der USA in Frankreich durchzusetzen. In der Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich kommt zum Ausdruck, wie stark die Friedenskräfte sind.«
Ein Geschäftsmann aus Pößneck, [Bezirk] Gera: »Ich stehe bestimmt auf keiner Seite, und wenn auch noch vieles schlecht ist, was manchmal bei uns getan wird, aber eins muss ich sagen, dem Amerikaner setzen sie jetzt ganz schön zu. Vor allem der Franzose, was ich niemals von ihm gedacht hätte.«
Ein Rentner aus Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die EVG ist eine rein amerikanische Angelegenheit. Was haben denn die Amis überhaupt in Europa zu suchen? Man sollte den Vertrag über kollektive Sicherheit, wie ihn die Sowjetunion vorschlägt, abschließen.14 Frankreich hat jetzt den Amerikanern die richtige Quittung gegeben. Sie mischen sich aber auch nur in die Angelegenheiten anderer Länder und suchen überall neue Stützpunkte.«
Bei den Diskussionen über die Volkswahlen handelt es sich größtenteils um die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenlisten. Von dem überwiegenden Teil wird die gemeinsame Liste begrüßt. Die Forderung nach getrennten Listen tritt vorwiegend in den Kreisen der bürgerlichen Parteien in Erscheinung. So äußerte z. B. ein CDU-Mitglied aus Dahlhausen, [Bezirk] Potsdam: »Die Listenwahl halte ich nicht für richtig, weil sie nicht die Garantie wirklich freier, demokratischer Wahlen geben [sic!]. Alle Parteien müssten das Recht haben, ihre eigenen Listen aufzustellen.«
In einer CDU-Versammlung in Weimar, [Bezirk] Erfurt, wurde erst über die Volksbefragung15 gesprochen und behauptet, dass diese ein Betrug war, weil angeblich unbeschriftete Stimmzettel als gültig erklärt worden wären. Zur Volkswahl erklärte ein Mitglied: »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, denn es gibt wieder nur eine gemeinsame Liste. Ich werde am besten die Kandidaten der SED streichen. Eins steht fest, dass ihr bei einer Einzelwahl eine Abfuhr erteilt würde.«
In der Post Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, wird von verschiedenen Angestellten die Meinung vertreten: »Man sollte jeder Partei die Möglichkeit geben, ihre Kräfte zu messen, indem jede Partei einzeln in den Wahlkampf geht.«
Ein Rentner aus Doberschütz, [Kreis] Kamenz, [Bezirk] Dresden: »Eine einheitliche Liste ist falsch. Es ist derselbe Zustand wie bei Hitler, da gab es auch nur eine Partei.«
Bei einem Agitationseinsatz der Nationalen Front in Magdeburg kam es zu folgender Diskussion eines Ingenieurs: »Man kann hier in der DDR doch nicht alles sagen, sonst wird man eingesperrt. Wir haben hier überhaupt keine freien Wahlen. So etwas wie bei uns gibt es in keinem anderen Land.« Seine Frau äußerte: »Dass die Eier in der HO noch immer 45 Pfennige kosten, ist ein unhaltbarer Zustand. So etwas kann man nicht gutheißen.«
Aus dem demokratischen Sektor von Berlin zur Vorbereitung der Volkswahlen
In den Versammlungen der Rechenschaftslegungen16 wird in den Diskussionen größtenteils über das Wohnungsproblem, über das Unterlassen der Ausweiskontrolle in den Geschäften und über eine Erhöhung der Lebensmittelrationen gesprochen.
Die Vorbereitungen der Versammlungen erfolgten oftmals sehr formal, deshalb ist auch die Beteiligung sehr unterschiedlich. So nahmen z. B. im Wohnbezirk 43 in Pankow nur 60 Personen, dagegen im Wohnbezirk 48 ca. 300 Personen teil.
Die Arbeit der Beschwerdekommissionen ist in fast allen Stadtbezirken ungenügend. Eine Vielzahl von Beschwerden liegt z. B. bei der Nationalen Front und beim Rat des Stadtbezirkes Lichtenberg unbearbeitet.
Anlässlich des Tages des Friedens17 fand in Erfurt eine Kundgebung statt. Es sprach Prof. Dr. Friedrich,18 Berlin, die Beteiligung war anfangs gut. Aufgrund der schlechten Lautsprecherübertragung verließ fast die Hälfte der Beteiligten den Kundgebungsplatz.
Es ist zu verzeichnen, dass in der letzten Zeit die Unzufriedenheit der Bevölkerung aufgrund verschiedener Mängel in der Versorgung mehr in Erscheinung tritt. Zum Beispiel hat sich im Bezirk Potsdam die Versorgung mit HO-Fleischwaren sowie die Bereitstellung von billigen Zigarettensorten nicht gebessert. Die Bevölkerung ist darüber sehr unzufrieden und es werden Diskussionen geführt, dass die genannten Waren sowie andere Mangelwaren zurückgehalten werden bis kurz vor die [sic!] Volkswahl. Im Kreis Rathenow diskutiert die Bevölkerung außerdem noch über die schlechte Warenstreuung, es fehlt besonders an Haushaltswaren und verschiedenen Textilien.
Von einem großen Teil der Bevölkerung in Sonneberg, [Bezirk] Suhl, wird beanstandet, dass Waren, die zum Sommerschlussverkauf im Preis herabgesetzt wurden, jetzt wieder das Gleiche kosten wie vor dem Sommerschlussverkauf.19
Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:20 Potsdam 316, Suhl 280, Erfurt 65, Dresden 17, Halle, Gera, Karl-Marx-Stadt und Wismutgebiet21 einige. Richten sich gegen Neuen Kurs und Volkswahl.
FDP[-Ostbüro]: Potsdam 600, Halle einige.
CDU-Ostbüro: Karl-Marx-Stadt 2 000.
»Der Tag«:22 Potsdam 1 500.
NTS:23 Neubrandenburg 200, Dresden 24, Potsdam einige.
In tschechischer Spr[ache]: Dresden 94.
Mit der Überschrift »Deutsche in der Sowjetzone« wurden in Karl-Marx-Stadt 1 000 [Stück] gefunden.
Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde sichergestellt.
Antidemokratische Tätigkeit: Im VEB Röhrenwerk Neuhaus, [Bezirk] Suhl, wurde am 1.9.1954 eine Hetzlosung gegen Genossen Walter Ulbricht24 angeschrieben.
In der Poliklinik Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, wurde an einer Toilette eine Hetzlosung mit dem Inhalt: Es lebe die Bundesrepublik, nieder mit dem Kommunismus mit blauer Tinte angeschmiert.
Diversionen: Am 29.8.1954 warfen unbekannte Täter in Schulzendorf, Kreis Bad Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder, Steine nach der Dreschmaschine. Ein Schaden konnte verhindert werden.
Am 31.8.[1954] brach in der LPG Klein Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, ein Brand in einem Strohdiemen aus. Es verbrannten ca. 1 000 Zentner Stroh. Nach bisherigen Ermittlungen handelt es sich um vorsätzliche Brandstiftung.
Am 29.8.1954 entstand in einer Scheune der LPG »Thomas Müntzer« in Nedissen, Kreis Zeitz, [Bezirk] Halle, ein Brand. Durch sofortiges Eingreifen der LPG-Mitglieder konnte er gelöscht werden. Unbekannte Täter hatten in den Luftschacht der Scheune brennendes Papier geworfen.
Anlage 1 vom 2. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2303
Anhang über Industrie
Produktionsstörungen
Im Kraftwerk Theißen, [Bezirk] Halle, fiel am 31.8.1954 um 17.00 Uhr, die seit Sonntag wiederhergestellte und in Betrieb genommene Turbine aus, weil die Isolierung am Ankerknopf des neuen Induktors schadhaft war.
Der Kessel im Kraftwerk Deuben, [Bezirk] Halle, wurde am 31.8.[1954] angefahren. Um 18.00 Uhr ereignete sich ein Rohrreißer, infolge eines Walzfehlers. Das Material stammt aus Westdeutschland.
Am 31.8.[1954] brach im Eisenhüttenwerk Thale, [Bezirk] Halle, die Antriebswelle am Fertiggerüst der Blockstraße. Die Welle zeigte einen Dauerbruch.
Im E-Werk Weimar kam es am 27.8.1954 um 20.30 Uhr zum Ausfall der Turbine. Nach Aussagen des Maschinisten liegt eine unverantwortliche Nachlässigkeit in der Beaufsichtigung des Betriebsablaufs vor. Es wurden keine Eintragungen vom Lauf der Turbine und Maschinen im 14.00-Uhr-Bericht vorgenommen. Diese Eintragungen müssen halbstündig erfolgen. Der Kollege, der am genannten Tage diese Aufgabe hatte, kam betrunken zum Dienst.
Erkrankung
Aus dem VEB Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera, wird von der Erkrankung einer noch nicht genau bekannten Anzahl von Kollegen an Durchfall berichtet. Diese Erkrankungen, welche bisher noch keinen größeren Umfang angenommen haben, werden auf das am 31.8.1954 ausgegebene Mittagessen zurückgeführt. Untersuchungen werden zurzeit durchgeführt.
Anlage 2 vom 1. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2303
Absichten und Verhalten des Klassengegners im Dorf
Mit den verschiedensten Argumenten, hauptsächlich auf der wirtschaftlichen Basis, versucht der Klassengegner die Entwicklung auf dem Lande zu stören bzw. zu hemmen. Die treibenden Kräfte sind zum größten Teil großbäuerliche Elemente. Das Ziel dieser Gegner ist jetzt die Verzögerung der Ablieferung des Getreides und die Herabsetzung der Sollabgaben. Dabei argumentieren sie hauptsächlich mit »schlechter Ernte«. So äußerten sich einige Großbauern aus dem Bezirk Leipzig wie folgt:
Ein Großbauer aus Lausen: »Die Ernteerträge sind in diesem Jahr schlechter als in den vergangenen Jahren. Es müsste das Soll herabgesetzt werden, denn ich glaube kaum, dass ich mein Soll erfüllen kann.«
Ein Großbauer aus Pönitz sagte: »Ich möchte wissen, wie ich dieses Jahr mein Soll erfüllen kann. Bei mir stand das Getreide sehr schlecht. Wir Bauern hoffen, dass die Regierung etwas unternimmt und das Soll herabsetzt, sonst gehen wir kaputt.«
Einzelne Großbauern, ebenfalls aus dem Bezirk Leipzig, halten es nicht für notwendig, ihre feindlichen Absichten zu tarnen und bekennen sich offen als Gegner, was aus nachstehenden Beispielen ersichtlich wird.
Ein Großbauer aus Goschelwitz,25 bei dem das Getreide auf dem Acker auszuwachsen beginnt, sagte: »Naja, wenn aus dem Getreide nichts wird, wird es eben verschrottet.«
Ein Großbauer aus Zschoppach sagte: »Wegen der Ernte mache ich mir keine Sorgen. Es kann ja werden, wie es will. Es ist ja doch nicht unser. Wir müssen sowieso alles abliefern.«
In einer Gemeinde des Kreises Tangerhütte, [Bezirk] Magdeburg, in der großbäuerliche Elemente vorherrschend sind, werden in den letzten Tagen Diskussionen gegen unsere Regierung geführt. Einige Großbauern verbreiteten dort das Gerücht, dass das Brot nach der Volkswahl wieder gegen Marken abgegeben wird.
In Mehrin, Kreis Kalbe, [Bezirk] Magdeburg, äußerten einige Großbauern, dass unsere Regierung nur »Versprechungen macht, Lockmittel herausgibt, und wenn es soweit ist, wird alles gestrichen«.
In Buhla, [Kreis] Worbis, [Bezirk] Erfurt, vertreten die Bauern die Meinung, dass sich die Nachtarbeit beim Drusch mit dem Acht-Stunden-Tag nicht vereinbaren lässt.26
In Haussömmern, [Kreis] Langensalza, [Bezirk] Erfurt, kursiert das Gerücht, nur 50 Prozent abzuliefern. Ein Großbauer aus Merxleben, [Kreis] Langensalza, sagte: »Jede schlechte Ernte bringt uns der LPG näher. In diesem Jahr müssen sie noch allerhand absetzen, wenn sie von uns eine 100-prozentige Ablieferung wollen.«
In Reinshagen, [Kreis] Güstrow, [Bezirk] Schwerin, hetzte ein Großbauer die umstehenden Bauern auf, das Getreide nicht sofort abzugeben, sondern abzuwarten, ob neue Ablieferungsbestimmungen herauskommen. Seine Auffassung wurde von den anwesenden Bauern gutgeheißen.
Auf einer Großversammlung in Moritz, [Kreis] Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, auf der ein Genosse aus Berlin über die Frage sprach, warum bei uns kein Stahlhelmbund zugelassen wird,27 verließen einige Großbauern demonstrativ den Versammlungsraum.
Ein Gemüsebauer aus Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, erklärte, dass er sich über den Ausbruch der Schweinepest freue. Seiner Meinung nach könne es nicht lange mehr dauern, dass alles umkippt, das bewiese die jetzt entstandene Fleischknappheit
Ein Beifahrer in der Molkerei Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Das mit der Ernte gibt dieses Jahr ein großes Fiasko. Das schadet aber nichts, dass es so kommt. Im Gegenteil, es ist gut, dass die Gauner jetzt in diese Klemme kommen. Deshalb versuchen sie mit aller Gewalt, die Katastrophe aufzuhalten. Wo sie wieder Brotkarten einführen, ist es passiert.«
Auf einer Versammlung in Wetdorf,28 [Kreis] Nebra, [Bezirk] Halle, forderte ein Mittelbauer die »Freie Wirtschaft« wie sie früher war und fand bei den anwesenden Großbauern Zustimmung.
Ein ehemaliger Fleischermeister aus Nick,29 [Bezirk] Rostock, äußerte sich wie folgt: »Eine MTS brauchen die Bauern nicht.« Dieser Betrieb sei ohnehin unrentabel. Außerdem gäbe es in der DDR keinen Menschen mehr, der so einen Betrieb leiten könnte. »Mit der MTS will man nur die Privatunternehmen vernichten und das sogenannte sozialistische Eigentum vergrößern.«
Ein großer Teil Einzelbauern, insbesondere Großbauern, im Bezirk Potsdam verweigern den Nachtdrusch mit dem Argument, dass das Getreide nicht trocken genug sei. Ein Bauer machte hierzu folgende Äußerung: »Die werktätigen Bauern werden von oben wegen der Sollablieferung und des Nachtdrusches gedrückt. Dabei soll Strom eingespart werden. Der Regierung der DDR soll man lieber die Störsender im RIAS fortnehmen, dadurch würde viel Strom eingespart werden.«30
Ein Mittelbauer in Pansdorf, Kreis Greiz, [Bezirk] Gera, erklärte: »Die eingesetzten Erntewachen sind großer Mist. Ich gehe sowieso nicht hin, wenn ich eingeteilt werde. Die Ablieferung hat auch noch bis zum November Zeit, denn dann wird das Getreide trocken sein und es ist auch zeitig genug.«