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Zur Beurteilung der Situation

24. April 1954
Informationsdienst Nr. 2188 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Allgemein wird unter den Arbeitern, besonders unter Angestellten und Intelligenzlern, nur sehr wenig über politische Tagesfragen diskutiert. Über den IV. Parteitag der SED1 wurden noch ganz vereinzelte Stimmen bekannt. Im geringen Maße wird über die amerikanischen Atom- und Wasserstoffbombenexperimente diskutiert.2 Zum überwiegenden Teil richten sich diese Stimmen gegen diese Vernichtungswaffen, gegen die USA und gegen die Stellungnahme von Dibelius.3 Vereinzelt wird auch zum Vorschlag unserer Volkskammer an den Bonner Bundestag, Beschlüsse zur Ächtung der Atomwaffen zu fassen, positiv Stellung genommen.4 In einzelnen Stimmen wird auch zum Ausdruck gebracht, dass man von der Genfer Konferenz Beschlüsse zum Verbot der Atom- und Wasserstoffwaffen erwartet.5 Auch zum Indochina-Problem wurden in diesem Zusammenhang einzelne Meinungsäußerungen bekannt. Im Bau 285 der Leuna-Werke »Walter Ulbricht« wurde in einer Diskussion unter den Arbeitern der Aufruf der Volkskammer an das Bundesparlament in Bonn unterstützt, indem gefordert wird, sich dem Verbot der Atomwaffen anzuschließen.

In der Karbidfabrik der Chemischen Werke Buna brachten in einer Diskussion mehrere Arbeiter zum Ausdruck; dass es ein ungeheures Verbrechen sei, was die Amerikaner machen. Man sollte ihnen eine solche Bombe auf ihr eigenes Dach setzen. Weiterhin wurde geäußert, dass man jetzt aus Indochina ein neues Korea machen will.6 Die Amerikaner müssten endlich einsehen, dass die versklavten Völker auch ihre Freiheit haben wollen und die Zeit der Sklaverei endgültig vorbei ist.

Ein Arbeiter vom Kaliwerk Volkenroda, [Bezirk] Erfurt: »Die friedliche Menschheit muss für das Verbot der Wasserstoffbombe eintreten. Hoffentlich wird in Genf auch zu dieser Frage Stellung genommen. Ich denke, dass der sowjetische Außenminister Molotow7 zu dieser Angelegenheit Stellung nehmen wird.«

Eine Arbeiterin aus Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt: »Was der Amerikaner und die Adenauerbrut8 aushecken will, wäre das Ende für uns alle. Hoffentlich hat der Protest den Erfolg, dass Amerika seine Versuche im Ozean aufgibt und die Genfer Konferenz zu einem Erfolg wird.«

Nur vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen oder solche, die an der Kraft des Weltfriedenslagers zweifeln, bekannt. Ein Arbeiter von der Schiffswerft Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Was nützt all der Protest, wenn die Kirche an deren Spitze sich Dibelius für den Einsatz der Wasserstoffbomben ausspricht. [sic!] Bis jetzt hat die Kirche immer noch mehr Anhänger als die Parteien. Die Wasserstoffbombe wird eben doch eingesetzt werden.«

Ein Arbeiter aus dem VEB »Aufbau« Apolda, [Bezirk] Erfurt: »Ein Krieg kommt sowieso. Die Russen sollen nur nicht so mit der Atombombe drohen. Alles ist Bluff. Bei Hitler haben wir doch ein besseres Leben gehabt. Was ist heute? Alles Lug und Trug, keiner traut sich etwas zu sagen.« Ein anderer Arbeiter aus dem gleichen Betrieb: »Das ist ja alles kalter Kaffee, von wegen Kriegsgefahr. Die Atom- und Wasserstoffbomben müssen doch sowieso ausprobiert werden. Wann und wo spielt doch keine Rolle. Die Menschen sind dabei nicht die Hauptsache. Was haben wir z. B. dabei schon zu verlieren.«

Anlässlich des bevorstehenden 1. Mai wurden vereinzelt Selbstverpflichtungen aus den Betrieben berichtet. Im VEB IKA Suhl9 verpflichteten sich z. B. die Brigaden »Karl Marx« und »Ernst Thälmann«, in den Wettbewerb zu treten und über das Monatssoll hinaus 1 000 Handhaarschneidemaschinen, 60 Elektrik und 50 Primus10 zu produzieren.

Ein Ingenieur der Maschinenfabrik Sangerhausen, [Bezirk] Halle, übernahm die Patenschaft über die Verbesserungsvorschläge zur Weiterentwicklung der Zahnradformung und der Verzahnungsmaschine sowie den Klub »Junger Techniker«11 zu unterstützen.

In einzelnen Betrieben wurden negative Diskussionen über die Prämierungen und Auszeichnungen zum ersten Mal bekannt. Im VEB Zeiss Jena, [Bezirk] Gera, Abteilung Foto, vertreten alle Kollegen die Meinung, dass die Prämien auf jeden Arbeiter gleichzeitig verteilt werden müssten. Im VEB Porzellanwerk Kahla, [Bezirk] Gera, kam es auf einer Versammlung über die Aktivisten- und Prämienvorschläge zu negativen Diskussionen. Eine Gruppe von drei Personen versuchte, die Kollegen zu beeinflussen, um einen fortschrittlichen Kollegen, der als Aktivist vorgeschlagen war, abzulehnen. Dagegen wurde eine negativ eingestellte Person vorgeschlagen, die jedoch fünf Ja- und acht Nein-Stimmen erhielt. 70 Kollegen enthielten sich der Stimme.

Ein Schlosser aus dem Zementwerk Steudnitz, [Bezirk] Gera: »Zur Aktivistenauszeichnung kommen ja nur die Kollegen infrage, die den Parteifritzen hinterherrennen.« Ein Walzwerker aus dem Walzwerk Finow, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Bei uns im Betrieb sollen nur 20 Aktivisten ausgezeichnet werden. Somit bekommen viele, die eine gleich gute Arbeit leisten, nichts. Das spornt nicht an, sondern lässt die Arbeitsmoral sinken.« Ein Arbeiter vom VEB Kranbau Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Vor einem Jahr schon hat man die Prämien nicht gerecht verteilt. Scheinbar haben die oben nichts dazugelernt, denn jetzt ist es wieder so.«

Wie aus Karl-Marx-Stadt berichtet, treten des Öfteren feindliche Diskussionen in Erscheinung, wonach die Wahlen in Westdeutschland verherrlicht, die Wahlen in der DDR aber abgelehnt werden. So sagte z. B. der BGL-Vorsitzende des VEB Lößnitztal:12 »Die Wahlen am 6.9.1953 im Westen13 waren freie demokratische Wahlen und die Vertreter Adenauers sind vom Volke gewählt. Mit dem Wahlsystem in der DDR bin ich nicht einverstanden, da ist doch nur eine Liste vorhanden und es muss doch ein Gegenpol da sein.«14 Ein Bergarbeiter aus Schmalzgrube: »Wir haben nicht die richtige Regierung und ich habe sie ja auch nicht gewählt, weil sie keine Arbeiterregierung ist. Es wird in der DDR nur von Normen gesprochen, aber die Preise sind viel höher als der Verdienst der Arbeiter. In Wirklichkeit ist doch alles Sch….«

Ein Arbeiter aus dem VEB Anlagenbau Karl-Marx-Stadt:15 »Jeder denkt anders, nur ein großer Teil zu 90 Prozent der Menschen sind zu feige, etwas zu sagen. Die Wahlen in Westdeutschland haben gezeigt, dass die KPD nichts zu sagen hat, sondern das Volk steht hinter Adenauer.«

Unzufriedenheit besteht in einigen Betrieben wegen Einführung von Nachtarbeit, schlechter BGL-Arbeit und Materialmangel. Im VEB Maschinenfabrik Altenburg,16 [Bezirk] Leipzig, sind die Kollegen über die Einführung des Schichtbetriebes wegen Kürzung des Stromkontingentes unzufrieden. Sie sind der Meinung, dass diese Maßnahme eine bürokratische Anweisung sei und fordern deshalb eine Änderung.

Im Wismut17-Schacht 13 in Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde von einigen Reviersteigern bemängelt, dass sie länger als acht Stunden arbeiten müssen, ohne Überstundenzuschläge zu erhalten. Die BGL würde sich darum nicht kümmern. Ein Reviersteiger sagte dazu: »Wir müssen solange arbeiten, wie es dem Chef gefällt. Die BGL kümmert sich nicht darum. Die haben Angst, dass sie fliegen und dann wieder arbeiten müssen. Unsere Gesetze sind zwar zum Wohle der Arbeiter geschaffen, nur müssten sie auch danach angewandt werden.«

Im Wismut-Schacht 6 in Oberschlema besteht ein größerer Mangel an Bohrstangen, da dies schon öfter auftrat, sind die Kumpels sehr unzufrieden. Einige Kumpel sagten dazu: »Das gleicht einer Sabotage an der Arbeit, denn trotz wiederholter Aufforderungen an die Schachtleitung hat sich noch nichts geändert.«

Produktionsschwierigkeiten traten in einzelnen Betrieben wegen Materialmangel und Reparaturverzögerungen einer Maschine auf. Im VEB Forster Textilwerke und im Hänselwerk,18 [Bezirk] Cottbus, müssen wegen Materialmangel die Kollegen umbesetzt werden.

In der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock, mangelt es weiterhin an Schiffsblechen, wodurch der Produktionsplan gefährdet ist. In der Abteilung Einbau des VEB Nähmaschinenfabrik Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, fehlen Gummischeiben und Schlichtfeilen.

In der Ziegelei Lüblow, [Bezirk] Schwerin, die eine Planauflage von 1,2 Mio. Ziegelsteinen hat, konnte die Produktion bisher noch nicht aufgenommen werden, da bereits im Dezember 1953 eine Maschine zur Generalreparatur nach Quedlinburg geschickt wurde, wovon bisher erst einzelne Teile fertig sind. Die anderen Teile sollen erst im zweiten Quartal 1954 fertig werden. Beim Walzwerk Quedlinburg19 wurde deshalb bereits mehrmals schriftlich nachgefragt, die Antwort blieb jedoch bisher aus.

Handel und Versorgung

Aus mehreren Bezirken wird berichtet, dass durch die Kürzung des Kontingentes an HO-Fleischwaren der Bedarf der Bevölkerung nicht vollauf gedeckt werden kann, was sich ungünstig auf die Stimmung auswirken wird. Zum Beispiel musste die HO im Kreisgebiet Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sämtliche abgeschlossenen Verträge mit Gastwirten, Konsum usw. aufheben und zum 1. Mai [1954] können keine Bockwürste geliefert werden.

Verschiedentlich wird über schlechte Warenstreuung geklagt. So z. B. fehlt es im Kreis Lobenstein, [Bezirk] Gera, an Bettwäsche, Küchenherde, Hülsenfrüchten, Fischwaren und im Kreis Hildburghausen, [Bezirk] Suhl (ländlichen Gemeinden), an Bettwäsche, Emaillewaren, Schürzenstoffe und ebenfalls Fischwaren.

Landwirtschaft

Unter der Landbevölkerung zeigt sich verschiedentlich eine Interesselosigkeit gegenüber politischen Problemen. Das ist zum Teil auf mangelhafte politische Arbeit auf dem Lande zurückzuführen. Zum Beispiel fand in der Gemeinde Langen Brütz,20 [Kreis] Schwerin, am 21.4.1954 eine öffentliche Parteiversammlung statt (anwesend 22 Personen). Während der Diskussion kam zum Ausdruck, dass in der Gemeinde schon seit Monaten fast keine politische Arbeit mehr durchgeführt wird. (Seit Monaten gibt es keinen Parteisekretär der Grundorganisation und die Polit-Abteilung der MTS sowie die Kreisleitung kümmern sich nicht darum.)

In der Gemeinde Rothenacker, [Bezirk] Gera, fand eine Filmveranstaltung statt, auf welcher der Thälmannfilm gezeigt wurde.21 Diese wurde so schlecht popularisiert, sodass nur sechs Besucher erschienen.

Typisch für die Interesselosigkeit der Bauern ist folgendes Beispiel: Ein Bauer aus Fremdiswalde, [Bezirk] Leipzig, erklärte gegenüber einem Genossen: »Lasst mich mit eurer Politik zufrieden. Dazu habe ich keine Zeit. Meine Wirtschaft macht mir schon genug Sorgen.«

Den Mittelpunkt des Interesses bilden wirtschaftliche Belange. Deshalb wird mehr über diese Fragen gesprochen. Über den Abschluss von Schweinemastverträgen äußerte ein Bauer aus Wünschendorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir haben gegenüber unserer Regierung Pflichten und aber auch Rechte. Wenn die Regierung uns versprochen hat, dass wir Schweinemastverträge abschließen können und dies nicht hält, sehe ich mich auch nicht veranlasst, eine Spende für den Naturalhilfsfonds zu geben.«22

Im Bezirk Erfurt werden vereinzelt Diskussionen geführt, dass der Viehhalteplan zu hoch wäre. So sagte ein Bauer aus Niedersachswerfen, [Bezirk] Erfurt: »Der Viehhalteplan für die Bauern ist zu hoch. Durch die diesjährige Futterknappheit ist es den Bauern nicht möglich, alle Tiere ausreichend zu füttern. Es ist ja so, dass die Tiere nur deswegen mit durchgeschleppt werden, weil es der Viehhalteplan vorschreibt.«

Von den LPG, VEG und MTS: In der Gemeinde Klingenhain, [Bezirk] Leipzig, wurde durch Initiative des CDU-Bürgermeisters eine LPG gegründet. Da es an einem Vorsitzenden fehlt, wandte er sich mehrmals an die SED-Kreisleitung Oschatz, zwecks Unterstützung, aber bisher ohne Erfolg.

In der LPG Nieder Seifersdorf, [Bezirk] Dresden, musste der Bau von Schweinestallungen eingestellt werden, wegen Holzmangel (ebenfalls der Ausbau einer dringend benötigten Wohnung).

Dem VEG Tuckede,23 [Bezirk] Schwerin, wurden für 1954 die Investmittel für den Bau eines Kuhstalles und Kulturhauses ohne Begründung gestrichen. (Vor ca. acht Wochen erhielt dieses Gut die Wanderfahne als bestes VEG in der Republik.)24

Die örtlichen landwirtschaftlichen Betriebe in Fahrbinde, [Bezirk] Schwerin, erhalten keine Hilfe vom Rat des Kreises Ludwigslust. Es ist dringend notwendig, dass ein Schweinestall gebaut wird. Der Rat des Kreises gibt keine Mittel mit der Begründung, für solche Betriebe wären keine Mittel frei.

In der MTS-Spezialwerkstatt Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, herrscht unter den Arbeitern und Aktivisten Verärgerung, weil sie bei einer Prämienverteilung (insgesamt 5 000 DM) nichts bekommen haben. Der Leiter der Werkstatt erhielt 1 100 DM und die übrige Summe wurde unter den Angestellten verteilt.

Die bekannt gewordenen negativen Stimmen beinhalten meist wirtschaftliche Probleme: Ein Mittelbauer aus Domsen, [Bezirk] Halle: »Ich kann meine Pferde zum 1. Mai [1954] nicht mit zur Verfügung stellen, da man bei ihnen die Rippen zählen kann.«

Übrige Bevölkerung

Zum IV. Parteitag wurden keine Stimmen bekannt. Über die amerikanischen Atom- und Wasserstoffbombenexperimente wurden uns von der übrigen Bevölkerung nur ganz vereinzelt Stimmen bekannt. Die Diskussionen richten sich fast alle gegen die Anwendung dieser furchtbaren Massenvernichtungsmittel und gegen die USA. Ein Hausbesitzer aus Frankfurt/Oder: »Dibelius hat mit seiner Äußerung, dass die Wasserstoffbombe eine Garantie für den Frieden sei, gezeigt, dass er kein friedliebender Mensch ist. Ich bin ein christlicher Mensch und hatte bisher gedacht, dass Dibelius für die Einheit Deutschlands sich einsetzt. Man kann jetzt erkennen, dass Dibelius kein Pfarrer, sondern ein Kriegshetzer ist.«

Ein Kraftfahrer, beschäftigt beim Rat des Kreises in Neustrelitz: »Die Amerikaner wären in der Lage, die ganze Menschheit mit ihren Atomwaffen und Wasserstoffbombenexperimenten zu vernichten. Die demnächst stattfindende Genfer Konferenz wird bestimmt zur Ächtung der Atom- und Wasserstoffbomben beitragen.«

Aus den Bezirken Frankfurt und Neubrandenburg wurden uns Stimmen zur Genfer Konferenz bekannt. Ein Angestellter aus Neustrelitz: »Ich hoffe, dass die Genfer Konferenz Maßnahmen treffen wird, damit der Krieg in Vietnam beendet wird.« Eine Hausfrau aus Frankfurt: »Ich hoffe stark, dass die Konferenz in Genf zu einem Erfolg führt und nicht so wie die Berliner Konferenz ausgeht.25 Es wäre gut, wenn die Massenvernichtungswaffen, die zum Schrecken der gesamten Menschheit geworden sind, verboten werden.«

Ein Angestellter aus Frankfurt/Oder: »Hoffentlich gelingt es der SU besser als zur Berliner Konferenz, die Spannungen zu vermindern. Ob nun aber gerade der Krieg in Korea und Vietnam dazu beiträgt, ist eine andere Frage. Ich glaube doch, dass dieser Krieg nicht so schnell beseitigt werden kann.«

Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen wirtschaftliche und persönliche Belange. Hierzu ein Beispiel: Eine parteilose Rentnerin aus Frankfurt/Oder: »Eigentlich bin ich mit allen Fragen unserer Entwicklung einverstanden, besonders mit der Methode, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, für Frauen, Männer und Jugendliche auszuzahlen. Um noch einen Punkt vor Westdeutschland voraus zu sein, um die Schaffung der Einheit Deutschlands zu beschleunigen, müsste man die Rentner unterstützen. Entweder durch Erhöhung der Renten oder durch eine Lebensmittelzusatzkarte.«

Negative Stimmen wurden nur ganz vereinzelt bekannt. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurde festgestellt, dass dort die Pfarrer in versteckter Form gegen die FDJ hetzen. Sie schicken Einladungen an Jugendliche, worin sie ihnen mitteilen, dass sie bereits durch die Konfirmation Mitglied der »Jungen Gemeinde« sind. Ein Pfarrer aus Görlitz, [Bezirk] Dresden, verschickte an alle Konfirmanden Einladungen für die »Junge Gemeinde« mit dem Hinweis, dass sie mit der Konfirmation Mitglied der »Jungen Gemeinde« geworden sind und mit der Konfirmation versprochen hatten, sich am Leben der Gemeinde zu beteiligen.

Ein Mitglied der LDPD aus Halle äußerte in der Mitgliederversammlung seiner Partei: »Wir können es sowieso nicht verhindern, dass die Normen nicht gesenkt werden. Auf unsere Knochen müssen wir die Parteiangestellten und Funktionäre miternähren und ihre hohen Gehälter verdienen. Die oben können nur große Bogen spucken, weil sie von Knochenarbeit keine Ahnung haben.«

Über den Fall von Dr. Truschnowitsch26 wurden ganz vereinzelt Stimmen bekannt: Eine Geschäftsfrau aus Frankfurt/Oder: »Der ehemalige Weißgardist27 ist bei den Amis in die Enge getrieben worden und sah seinen einzigen Weg in der Rettung, indem er sich den Organen der DDR stellte. Hoffentlich ist er jetzt zur Einsicht gekommen, sodass andere Agenten auch noch diesen Weg beschreiten.«

Ein parteiloser Pförtner aus Berlin-Lichtenberg äußerte, dass der Leiter der NTS28 nicht entführt worden sein kann, da man einen Menschen wohl unmöglich aus einer fremden Wohnung schleppen kann,29 dass aber der Emigrantenorganisation immer mehr der Boden entzogen wird, sodass sie gezwungen sind, sich selbst zu stellen.

Im Rat des Stadtbezirkes Berlin-Köpenick sagte ein Kollege zu einem anderen: »Siehst du, da hast du die Pleite, der Truschnowitsch wurde auf Schritt und Tritt verfolgt. Stelle dir vor, was das für einen Menschen bedeutet.«

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriften des SPD-Ostbüros:30 Karl-Marx-Stadt 65, Potsdam 60, Dresden 10.

Hetzschriften der NTS: Magdeburg 7 400, Cottbus 400, Potsdam 200, Karl-Marx-Stadt 60, Dresden 30, Halle 10.

Hetzschriften der KgU:31 Gera 75, Karl-Marx-Stadt 55, Dresden 5, Halle 6, Neubrandenburg 4.

Hetzschriften des CDU-Ostbüros: Frankfurt 3 000, Potsdam 2 000.

Hetzschriften des UFJ:32 Potsdam 4 000.

Terror: Ein Unterleutnant der KVP33 und ein Arbeiter aus Kröchlendorff, [Kreis] Templin,34 [Bezirk] Neubrandenburg, überfielen am 17.4.1954 den 2. Vorsitzenden der LPG in Kröchlendorff und schlugen ihn in seiner Wohnung nieder. Täter wurden festgenommen.

Gefälschte Briefe erhielten die Fachschulen in Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden. Darin wird aufgefordert, Vorbereitungen für Wehrertüchtigungslehrgänge zu treffen. Angebliche Herausgeber: »Staatssekretariat für Berufsausbildung«.35

Im Bezirk Dresden wurden an Einwohner Hetzschriften der UFJ geschickt. Inhalt: Hetzschriften »Freie Wahlen« und »Freiheit für die Sowjetzone«.

Ein Betriebsleiter des VEB Sachsenwerkes Radeberg, [Bezirk] Dresden, erhielt einen Brief der UFJ. Darin wurden Techniker und Wissenschaftler aufgefordert, sämtliche Funktionäre der SED mit schweigender Verachtung zu strafen und sämtliche SED- und FDGB-Zeitungen abzubestellen.

Im Bezirk Neubrandenburg wurden Hetzschriften des FDP-Ostbüros versandt. Inhalt: Rundschreiben der sogenannten SED-Opposition.36

An Einwohner in Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt, wurden Hetzschriften der Unions-Presse des »Union-Pressedienstes« versandt.37

Antidemokratische Schmierereien: Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden vereinzelt Hakenkreuze angeschmiert.

Paketaktion:38 In Briefen werden Personen im demokratischen Sektor Berlins und in der DDR aufgefordert, sich in Berlin-Hallensee, Joachim-Friedrich-Straße 53 (Verein für Auslandsspenden39) ein Paket abzuholen. Ebenfalls werden vom Postamt 40 (Lehrter Bahnhof) Postkarten versandt, die zum Empfang eines Lebensmittelpaketes berechtigen. Ermittlungen ergaben in beiden Fällen, dass die Empfänger der Briefe und Karten an den erwähnten Stellen Pakete erhielten.

In Waltersdorf, [Kreis] Pirna, [Bezirk] Dresden, wurde das Registrierbuch der Betriebsparteiorganisation aus einem Rollschrank der Gemeinde entwendet. Vermutlicher Täter ist ein republikflüchtiger ehemaliger stellvertretender Bürgermeister (Mitglied der DBD).

Vermutliche Brandstiftung

Im Bau-Objekt des KVP-Zentralkrankenhauses Bad Saarow, [Bezirk] Frankfurt, brannte am 21.4.1954 eine Verwaltungsbaracke nieder. Nach bisherigen Ermittlungen liegt vermutliche Brandstiftung vor, da der Brand an zwei Brandstellen ausgebrochen ist. Der Gesamtschaden beträgt ca. 350 000 DM (darunter die Original-Bau- und Projektierungspläne).

Westberlin

Auf einer Besprechung am 15.4.1954 der Stupo-Inspektion Spandau40 wurde mitgeteilt, dass am 1. Mai [1954] alle Reviere höchste Alarmstufe haben. Das solle jedoch noch nicht allgemein bekannt gegeben werden, damit bis zum 1. Mai nicht wieder erhöhte Krankmeldungen eingehen. Man rechnet am 1. Mai mit ernsten Zwischenfällen, weil ein Teil der Westberliner es ablehnt, an der Kundgebung auf dem Platz der Republik teilzunehmen.41

Einschätzung der Situation

Die politischen Diskussionen haben weiterhin nur einen verhältnismäßig geringen Umfang. Hauptsächlich in den Betrieben wird das Verbot der Massenvernichtungsmittel gefordert. Betriebliche und wirtschaftliche Probleme stehen weiterhin im Mittelpunkt des Interesses. Sonst hat sich die Lage nicht wesentlich verändert.

Anlage vom 24.4.1954 zum Informationsdienst Nr. 2188

Auswertung der Westberliner Presse

Der Westberliner Magistrat beabsichtigt laut »Tagesspiegel« vom 23. April [1954], unter dem Vorwand der »Aufklärung« im Falle Truschnowitsch, der Westberliner Polizei 100 000 DM zur Unterhaltung von Agenten gegen die DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin zur Verfügung zu stellen. Wörtlich heißt es u. a.: »Aus diesem Fonds sollen alle Personen, auch Bewohner der Sowjetzone, die zur Aufklärung des Verbrechens oder zur Ergreifung der Täter beitragen, eine Belohnung erhalten. … sollte also die Berliner Polizei in die Lage gesetzt werden, Informationen, die zur Aufdeckung kommunistischer Untergrundtätigkeit führen, entsprechend zu bezahlen.«42

Die »Nachtdepesche« vom 23.4.1954 benutzt den Fall Truschnowitsch mit der Absicht, einen Anschlag auf die S-Bahn zu provozieren. Sie schreibt u. a. Folgendes: »Dann ist es höchste Zeit, dass mit der Sicherung des Bahngeländes durch die Sowjets in Westberlin ein Ende gemacht wird.«43

Weiterhin besteht die Absicht, der SED in Westberlin die legale Arbeit restlos unmöglich zu machen. So wird u. a. vom »Tagesspiegel« geschrieben: »Dass die Polizei jede Art von Tätigkeit der SED in Berlin zu unterbinden hat.«44 »Der Kurier« und »Der Abend« vom 23.4.1954 fordern direkt das Verbot der Partei:45 »Es sei Zeit, zu erwägen, die SED in Westberlin zu verbieten, sagte der Berliner Innensenator Hermann Fischer46 auf einer FDP-Versammlung in Neukölln.«

Der RIAS brachte in seinen Nachrichten am 23.4.1954, »dass der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland am 6. und 7. Mai [1954] unter Vorsitz von Dr. Dibelius turnusgemäß in Halle zusammentreten wird.47 Wenige Tage vorher, am 5. Mai, ist eine Konferenz der Leitung der Vereinigten evangelischen Kirche in Dresden angesetzt.«

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