Zur Beurteilung der Situation
1. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2097 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie
Von einem großen Teil der Werktätigen wird der Verlauf der Konferenz mit Interesse verfolgt.1 Der größte Teil aller Werktätigen wünscht, dass die Konferenz endlich die Einheit Deutschlands und eine Entspannung in der internationalen Lage bringt. Von einem nicht geringen Teil der Werktätigen werden die Vorschläge des Genossen Molotow2 begrüßt und die Rolle der Westmächte erkannt.3 Ein Dreher vom VEB Armaturen-Werk Auerbach/Vogtland:4 »Der Vertreter der UdSSR Molotow setzt alles daran, um die Einheit Deutschlands herzustellen, aber die Westmächte lehnen jeden Vorschlag ab.« Eine Angestellte aus Lauscha, [Bezirk] Suhl: »Ich musste bei der Erklärung Molotows feststellen, dass die SU daran interessiert ist und sich immer dafür einsetzt, dass Deutschland ein Land der Einheit und des Friedens wird. Ich fordere auf dieser Konferenz auch, Vertreter aus Ost und West zuzulassen.«
Es gibt jedoch auch einen Teil Werktätige, die die Zusammenhänge zwischen dem deutschen und dem internationalen Problem nicht erkennen und sich gegen eine Fünfmächtekonferenz aussprechen.5 Ein Arbeiter aus dem VEB Halbzeugwerk Auerhammer, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Zur Außenministerkonferenz sage ich nichts mehr, ich möchte wissen, wann die deutsche Frage behandelt wird. Mich interessiert nur dieses und nicht China.« Ein Arbeiter aus dem Ziegelkombinat Zehdenick, [Bezirk] Potsdam: »Ich vertrete den Standpunkt, dass nicht China in erster Linie, sondern Deutschland auf der Tagesordnung stehen muss.«6
Es sind aber auch Stimmen bekannt, die sich für die Teilnahme Chinas aussprechen. Ein Arbeiter vom VEB Zellwolle Schwerin:7 »Hoffentlich schafft es der sowjetische Außenminister, dass China zur Konferenz zugelassen wird, damit die Westmächte nicht alle Stimmen für sich haben.«
Neben diesen Diskussionen wird von Teilen der Werktätigen noch oft über »freie Wahlen« und über die Oder-Neiße-Grenze diskutiert.8
Die ablehnende Haltung der westlichen Außenminister zur Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West hat unter den Werktätigen Enttäuschung und Erbitterung hervorgerufen.9 Große Teile der Werktätigen in den Betrieben, die die Forderung zur Teilnahme einer deutschen Delegation unterschrieben hatten, kamen in Versammlungen zusammen und forderten erneut die Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West. In der Schiffswerft Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wurde von den versammelten Belegschaftsmitgliedern in einer Resolution die Forderung wiederholt, deutsche Vertreter zur Außenministerkonferenz zuzulassen.10 Im Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« Schwarza wurde erneut eine Unterschriftensammlung durchgeführt und gegen den Entschluss der Westmächte protestiert. Ein Arbeiter aus dem VEB Armaturenwerk Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt:11 »Wir als Deutsche müssen uns noch mehr einschalten, um die Einheit Deutschlands zu erreichen.«
Das Memorandum der Regierung der DDR hat unter den Werktätigen erfreute Aufnahme gefunden und wird von einem großen Teil der Bevölkerung diskutiert.12 Ein Angestellter aus Gera: »Ich habe den Wortlaut des Memorandums teilweise im Radio gehört und kann nur sagen, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dasselbe zu unterstützen, denn es geht ja um Deutschland.« Ein Arbeiter vom RFT Gera:13 »Das Memorandum begrüße ich, ich bin der Meinung, dass es zur friedlichen Lösung der Deutschlandfrage beitragen wird, wozu noch die Unterstützung durch die SU kommt.«
Produktionsschwierigkeiten: Durch Erz- und Kohlemangel wurde im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« in den letzten Tagen der Plan nicht erfüllt.
Handel und Versorgung
Winterbekleidung fehlt in Stalinstadt. Verkäuferinnen in der HO stellen fest, dass die Belieferung schlechter sei als in der gleichen Zeit des Vorjahres.
Kohlen fehlen in der Lungenheilstätte Beelitz, [Bezirk] Potsdam.14 Die Temperaturen in den Krankenzimmern gehen nicht über 12 Grad Celsius15 hinaus. Bei vielen der ca. 800 Patienten nimmt die Krankheit dadurch einen negativen Verlauf.16
Landwirtschaft
Auf dem Lande ist das Interesse am Verlauf der Viererkonferenz sehr unterschiedlich. Gewisse Teile der Landbevölkerung, hier besonders Landarbeiter der MTS und VEG, Genossenschaftsbauern und werktätigen Einzelbauern beschäftigen sich mit dem politischen Tagesgeschehen, äußern sich sehr positiv zur Konferenz. So äußerte ein Kollege der MTS Altranft, [Kreis] Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt[/O.]: »Die Viererkonferenz kann nur Erfolg haben, wenn Vertreter aus Ost- und Westdeutschland daran teilnehmen.«
Ein Neubauer aus Ringfurth, [Kreis] Angermünde,17 [Bezirk] Magdeburg: »Ich hatte den ›Russen‹ das nie zugetraut, dass sie uns Deutschen gegenüber so ehrlich sind, denn der Außenminister Molotow war bis jetzt der Einzige, der sich mit Deutschland in seiner Rede beschäftigt. Die Westmächte dagegen sind gar nicht interessiert, dass es zur Einigung kommt, denn für die Westmächte würde es eine sehr große Gefahr bedeuten, wenn sie Deutschland verlieren, aber Molotow …,18 wenn er sagt, dass auch der Frieden in Europa gesichert ist, wenn das Deutschlandproblem gelöst wird.«
Genossenschaftsbauern der LPG Ruchow, [Kreis] Sternberg, haben eine Resolution verfasst, in der sie fordern, dass die drei westlichen Außenminister die Forderung bzw. die Vorschläge des sowjetischen Außenministers anerkennen und nicht ignorieren. Aus diesem Grund verpflichteten sich neun LPG-Bauern, 92 Doppelzentner Kartoffeln über das Soll hinaus zu liefern. Ein anderer Genossenschaftsbauer verpflichtet sich, 5 000 kg Kartoffeln zusätzlich zu liefern.
Ein anderer nicht geringer Teil dagegen, hauptsächlich Großbauern und auch der oben genannten Schichten, nimmt eine zweifelnde passive und negative Stellung zur Konferenz ein.19 Dies drückt sich in den Fragen aus, die in diesen Kreisen diskutiert werden. Dies sind die Fragen der Hinzuziehung Chinas zu einer Fünfmächtekonferenz, die Frage der Oder-Neiße-Grenze, der »freien Wahlen« und der »freien Wirtschaft« sowie der der Herabsetzung des Solls und die Frage, warum bei uns nicht auch Reden der westlichen Außenminister veröffentlicht werden.20 So bestehen in verschiedenen MTS des Kreises Neuruppin immer Unklarheiten über die Frage der Oder-Neiße-Grenze.21 Es besteht hier die Ansicht, dass diese Grenze nur solange besteht, bis Deutschland einen Friedensvertrag hat und dann das Land wieder Deutschland gehört.22
In der Gemeinde Rogahn, [Kreis] Schwerin, herrscht die Meinung, dass, falls eine Einigung der Außenminister nicht stattfindet, ein gewisser Prozentsatz von Personen die DDR verlassen wird. Landarbeiter der örtlichen Betriebe, die Bauernwirtschaften von republikflüchtigen Bauern bewirtschaften, werden in letzter Zeit wiederholt dazu angehalten, die Wirtschaften »ja gut zu bearbeiten«, damit diese, wenn die Bauern zurückkämen, in schönster Ordnung wieder vorgefunden werden.
Im Kreis Bützow ist zu verzeichnen, dass Großbauern in der Sollablieferung nach wie vor die größeren Rückstände haben.
Großbäuerliche Elemente versuchen mit allen Mitteln im Kreis Lebus,23 [Bezirk] Frankfurt, in den Vorstand der VdgB zu gelangen. Während der Versammlungen propagieren sie »freie Wirtschaft« für die Bauern und keine Wirtschaftsplanung.
Auf dem Kreisbauerntag des VdgB in Angermünde trat ein Neubauer als erster Diskussionsredner mit folgenden Forderungen auf: »Erstens Herabsetzung des Solls. Zweitens ›freie Wirtschaft‹. Drittens 100 Prozent Ermäßigung bei Hagel, Wasser und Wildschweinschaden.« Weiterhin wurde auf diesem Bauerntag sehr negativ über den Viehhalteplan diskutiert.24
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Beim überwiegenden Teil der Bevölkerung kommt nach wie vor die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Viererkonferenz zur Erhaltung des Friedens und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beitragen möge. Jedoch gibt es viele Stimmen, besonders aus kleinbürgerlichen Kreisen, die zwar einen Erfolg der Konferenz wünschen, aber an der Möglichkeit einer Verständigung der großen Vier zweifeln.25 Die Inhaberin eines Blumengeschäftes in Aue: »Molotow gibt den anderen Mächten ganz schönen Druck, aber es wird nicht viel nützen. Es ist gerade, als wenn ich zwei harte Steine nehme und diese aufeinanderschlage. Es dauert eine Weile, eh einer zerspringt.« Ein Tierarzt aus Sangerhausen, [Bezirk] Halle: »Die Außenministerkonferenz kann dadurch scheitern, weil die SU an den Verträgen von Jalta und Potsdam festhält.«26
In nicht geringem Umfang wird die Forderung nach westlichen »freien Wahlen« unterstützt, wobei sich zweifellos der Einfluss des Hetzsenders bemerkbar macht. Eine Hausfrau aus Quedlinburg, [Bezirk] Halle: »Man sollte bei uns erst freie und geheime Wahlen, so wie sie der englische Außenminister Eden27 vorgeschlagen hat, durchführen, denn bei uns wurden ja auch bisher keine freien demokratischen Wahlen durchgeführt.«28 Ein parteiloser Friseurmeister aus Frankfurt/Oder ist der Meinung, »dass auf der Konferenz 1. freie und geheime Wahlen, 2. Abzug aller Besatzungstruppen beschlossen werden soll«.
Die ersten Stimmen zum Memorandum der Regierung der DDR sind positiv. Dieses Memorandum wird als gute Stütze für die Forderungen Molotows der Viererkonferenz angesehen. Einige Jugendliche aus Gera: »Die in dem Memorandum der Regierung der DDR zum Ausdruck gebrachten Vorschläge sind sehr gut und werden auch die Forderungen Molotows auf der Viererkonferenz unterstützt. [sic!] Es wird aber sehr schwer sein, diese Vorschläge bei den Westmächten zur Annahme zu bringen, da diese dann praktisch ihre ganzen …29 in Westdeutschland aufgeben müssten.«
Eine Hausfrau aus Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »In diesem Schreiben …30 die Regierung den Westmächten aber gegeben. Ich bin …31 wieviel darauf reagieren. Sie können doch gar nichts dag…«32
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblattfunde wurden nur vereinzelt aus dem Bezirk Potsdam (Stimmzettel),33 Gera (NTS),34 Suhl (Stimmzettel und Aufforderung zum langsamen Arbeiten) gemeldet.35 Gefälschte Lebensmittelkarten wurden in Bernau, [Bezirk] Potsdam,36 und in Calau, [Bezirk] Cottbus, in kleineren Mengen entdeckt.
Antidemokratische Hetze: Durch Anschmieren von Losungen, Hakenkreuzen und Totenköpfen, wie auch durch Beschädigung und Entfernung von Plakaten und Transparenten, die auf die Viererkonferenz hinweisen, wurden in einzelnen Fällen aus Greiz, Gera, Dresden, Straußberg, [Bezirk] Frankfurt, und Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, bekannt. In etwas stärkerem Maße wurden Plakate und Losungen in Eisenbahnzügen, die in den Gebieten von Rostock und Schwerin verkehren, beschädigt. In diesem Falle …37 organisiertere Handlung vermutet werden, weil sie wiederholt und mit gleichen Tätigkeitsmerkmalen geschah.38
Terror: Am 29.1.1954 wurde nachts in Forst, [Bezirk] Cottbus, ein jugendlicher Arbeiter festgenommen, weil er in einem Lokal einen VP-Angehörigen tätlich angegriffen hatte.39
Vermutliche Feindtätigkeit
In den Morgenstunden des 31.1.1954 brach im Jugendklubhaus Bleicherode, [Kreis] Nordhausen, [Bezirk] Erfurt, ein Brand aus. Die Ursache ist noch nicht geklärt. Brandschaden 8 000 DM. Durch Löscharbeiten entstand ein Wasserschaden von weiteren 15 000 DM.40