Zur Beurteilung der Situation
28. August 1954
Informationsdienst Nr. 2299 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Vordergrund der Diskussionen stehen Fragen der Versorgung der Bevölkerung und der Entlohnung. Die hierbei auftretenden Mängel lösen oft Missstimmungen aus und teilweise negative Diskussionen zur Entwicklung in der DDR und zur Regierung. In der letzten Zeit haben solche Diskussionen zugenommen. Schwerpunkte hierbei sind die Bezirke Magdeburg (Versorgung mit Frischfleisch) und Leipzig (Lohnfragen). Hierdurch sind die Diskussionen über politische Tagesfragen nur ganz gering.
Vor allem wird noch zur Streikbewegung in Westdeutschland diskutiert,1 meist ausgelöst durch die Spendensammlung.2 Während sich dabei der größte Teil der Arbeiter mit den Streikenden solidarisch erklärt und sie unterstützt, lehnt ein kleiner Teil der Werktätigen eine Unterstützung ab. Vielfach stellt man hierbei die Lebensverhältnisse in Westdeutschland und in der DDR gegenüber und meint, dass in Westdeutschland die Lebenslage besser sei. Solch eine Stellungnahme wird von vielen Werktätigen aus dem Bezirk Magdeburg, selbst von Genossen, bezogen sowie von vielen Arbeitern aus dem Bezirk Rostock. Im Bezirk Magdeburg wirkt sich vielfach die Missstimmung über den Mangel an Frischfleisch und Wurstwaren aus.
Im Betrieb 06 des »Ernst-Thälmann«-Werkes Magdeburg wurden für die Hochwassergeschädigten in kurzer Zeit über 1 000 DM gesammelt.3 Für die streikenden Arbeiter kamen trotz größerer Anstrengungen der Genossen nur DM 80,00 zusammen. Oft wurde dabei geantwortet: »Die streikenden Arbeiter verdienen ja mehr als wenn sie arbeiten.«
Ein parteiloser Kollege aus der Schiffswerft Edgar André Magdeburg: »Ich spende nichts. Erstens geht es denen drüben besser und zweitens können wir auch nicht streiken.4 Hier gibt es noch nicht einmal eine viertel Wurst zu kaufen.«
Einige Kollegen aus dem »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg: »Was sollen wir denn spenden? Wir haben selbst nur Pellkartoffeln.« Andere Kollegen aus der gleichen Abteilung: »Wenn bei uns gestreikt wird, werden Panzer aufgefahren.« Aus dieser Abteilung gaben 25 Arbeiter, darunter einige Genossen, keine Spende. Ähnlich verhielten sich mehrere Kollegen aus dem VEB Werkzeugfabrik Königsee, [Bezirk] Gera, sowie mehrere Genossen vom Bahnhof Sonneberg.
Zwei Angestellte vom Bahnhof Probstzella, [Bezirk] Gera, äußerten: »Wir hätten schon eher streiken können als die da drüben.« Ein Arbeiter aus dem VEB Gaselan Berlin: »Wir haben am 17. Juni 1953 auch gestreikt. Uns hat keiner einen Pfennig gegeben.«
Zum Übertritt von Dr. John5 und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Schmidt-Wittmack6 und den stattgefundenen Pressekonferenzen7 sowie zur Volkskammerwahl8 ist der Umfang der Diskussionen noch sehr gering. Meist äußert man sich positiv.
Die Rechenschaftslegungen9 haben verschiedentlich nicht den gewünschten Erfolg, weil die Versammlungen zu schwach besucht sind und fast nicht über politische Probleme, sondern hauptsächlich über persönliche und wirtschaftliche Fragen diskutiert wird. So nahmen z. B. im Ziegelkombinat Zehdenick, Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam, von ca. 1 000 Beschäftigten nur 75 teil. Hauptsächlich wurde über Fleischknappheit und Zigarettenmangel gesprochen. Die übrigen Diskussionen behandelten ausschließlich örtliche Angelegenheiten.10
Mehrfach wird infolge betrieblicher bzw. wirtschaftlicher Dinge von Werktätigen geäußert, dass sich die Lebenslage in der DDR in der letzten Zeit verschlechtert habe. Vereinzelt spricht man in diesem Zusammenhang negativ über die Regierung.
Im VEB Niesky,11 [Bezirk] Dresden, mangelt es zur Erfüllung des Bauprogramms an Materialien, wodurch eine schlechte Stimmung unter den Arbeitern besteht. Zum Beispiel äußerte ein Arbeiter: »Was wird doch alles geschrieben und gesagt vom neuen Kurs.12 Ja, das war eine prima Zeit, da merkte man, wie es vorwärts ging, aber jetzt gibt es vieles gar nicht mehr oder nur schwierig. Man sollte weniger reden und dafür mehr tun.«
Ein Kollege von der Kfz-Reparaturwerkstatt Dörfel [in] Lichtenstein,13 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Im IFA-Werk Zschopau kehren die Arbeiter den Hof, weil kein Roheisen für Motorradrahmen vorhanden ist. Ich habe festgestellt, dass es auf breiter Linie rapide schlechter wird in der DDR.«
Ein Arbeiter vom VEB Flachsröste in Burg Stargard, [Kreis] Neubrandenburg: »Wo bleibt denn der Überschuss von den Betrieben? Den schluckt der Staat, anstatt ihn unter den Arbeitern zu verteilen. Wir haben doch keine Arbeiterregierung.«
Missstimmungen wegen Lohnfragen und Auftragsmangel
Im Bezirk Leipzig wird besonders stark über Lohnfragen diskutiert, worüber Unzufriedenheit besteht. So hing z. B. im VEB Papierfabrik Golzern, [Bezirk] Leipzig, im Kalandersaal ein Zettel mit folgendem Text: »Es macht sich erforderlich, die Kollegen am Kalander und Querschnittroller in eine höhere Lohnstufe einzustufen und 18 Tage Urlaub zu geben.« Unterzeichnet: Kollegen des Kalandersaals.
Im VEB Radio- und Gehäusebau in Wurzbach, [Bezirk] Gera, wurde am 26.8.[1954] eine Anweisung von der Hauptverwaltung VVB Holz in Halle verlesen, wonach Arbeiter mit der Lohngruppe IV, die Arbeiten der Lohngruppe III verrichten und die Norm erfüllen, nur nach der Lohngruppe III bezahlt werden, während diejenigen, die die Norm der Gruppe III nicht erfüllen, den Grundlohn der Lohngruppe IV erhalten. Daraufhin wird im Werk folgendermaßen diskutiert. »Jetzt werden wir langsam arbeiten, denn sonst verdienen wir weniger.«
Die Kollegen der Abteilung Formerei des Stahlwerkes Silbitz, [Bezirk] Gera, sind über den Auftragsmangel unzufrieden. Ein Brigadier äußerte dazu: »Was nützt denn unser Wettbewerb, wenn keine Arbeit da ist und dadurch der Lohn sinkt. Wenn das so weitergeht, brauchen wir im nächsten Monat gar nicht mehr zu kommen.«
Terminverzug im Kraftwerk Vockerode, [Bezirk] Halle, kann die Anlage, die am 31.10.1954 betriebsfertig sein soll, noch nicht fertiggestellt werden, da der VEB Kessel- und Rohrleitungsbau Aschersleben die Vorwärmeanlage nicht termingemäß liefert.
In der Neptunwerft Rostock können die beiden für Bulgarien bestimmten Feuerlöschboote immer noch nicht fertiggestellt werden. Nachdem jetzt die Maschinen geliefert wurden, stellte man fest, dass die Fundamente zu klein sind. Die Arbeiter sind darüber verärgert, weil derartige Dinge öfter auftreten, jedoch die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Materialschwierigkeiten
Im VEB Maschinenbau Görlitz, [Bezirk] Dresden, bestehen Schwierigkeiten bei der Beschaffung von DIN-Teilen für den Bau der Turbine in Böhlen.
Im VEB Kofferfabrik Neukirch, [Bezirk] Dresden, reichen die Beschlagstifte nur noch bis zum 4.9.[1954] aus. Das Lieferwerk THEWA Arenshausen14 kann keine Beschlagstifte mehr liefern.
Im VEB Kraftverkehr Meißen fehlen Ersatzteile für die Ikarus-Autobusse.
Massenbedarfsgüterproduktion
Im VEB 7. Oktober Berlin15 wurde die Produktion noch nicht aufgenommen (Rudergeräte und Spezialküchengeräte). Man ist sich nicht darüber einig, ob für die Ausführung Guss- oder Aluminium verwendet werden soll. Der Preis für ein Spezialküchengerät wird 450 DM betragen, wodurch Absatzschwierigkeiten entstehen werden.
Produktionsstörungen
Am 27.8.1954 fiel die Turbine V im Kraftwerk Kulkwitz, [Bezirk] Leipzig, aus. Ursache und Dauer des Ausfalls noch nicht bekannt. (Die Turbine hat eine Stundenleistung von 25 000 kW.)
Am 27.8.1954 brach in der Öldestillation im VEB Webau,16 [Bezirk] Halle, ein Brand aus, vermutlich durch Explosion einer Destillierblase. Sachschaden ca. 500 000 DM. 30 Minuten vorher entstand im VEB Köpsen17 ebenfalls ein Brand durch Überlaufen einer Destillierblase.
Handel und Versorgung
Bestände an Industriewaren im Werte von 1,5 Millionen DM lagern (durch die Sonderaktion Export) bei der HO Industriewaren Bischofswerda im Lager Großröhrsdorf, [Bezirk] Dresden, wovon bis jetzt nur Waren bis zu 2 000 DM abgesandt werden durften.
Im Kreis Jena, [Bezirk] Gera, wird über die HO-Bockwürste geklagt, die sauer oder nicht richtig durchgekocht sind.
Mängel in der Verteilung
Die Schwierigkeiten in der Versorgung mit HO- und Frischfleisch sind in den Bezirken Magdeburg, Halle und Cottbus noch nicht behoben. (Besonders treten diese Schwierigkeiten nach dem 15. eines jeden Monats auf, wenn die Fleischmarken verbraucht sind.) Im Kreis Gräfenhainichen, [Bezirk] Halle, ist am Sonnabend sogar das Markenfleisch knapp geworden.
Im Kreis Gera gibt es seit dem 24.8.1954 keine Butter mehr auf Marken.
Zigarettenmangel besteht weiterhin in den Bezirken Gera, Erfurt und Magdeburg. Fischwaren fehlen in den Bezirken Gera und Halle. Nährmittel in Schwerin und Magdeburg. Obst und Gemüse [in] Gera, Halle. Im Bezirk Gera ist durch die Lieferung schlechter Kartoffeln von der VEAB Wittstock, Mecklenburg, eine teilweise Verknappung zu verzeichnen.
Im Bezirk Schwerin lagern zzt. 2 000 t Frühkartoffeln. 1 000 t davon wurden für Futterzwecke zur Verfügung gestellt, da diese Sorte für eine Lagerung ungeeignet ist. Weiterhin werden ab 29.8.1954 täglich 250 t zur Stärkeverarbeitung nach Dallmin,18 [Kreis] Perleberg, geliefert.
In Parchim, [Bezirk] Schwerin, wurde von der Bevölkerung Mehl gehamstert. Diese Erscheinung wurde auch aus der Stadt Zarrentin, [Kreis] Hagenow, bekannt. Dort wurde das Gerücht verbreitet, dass ab 1.10.[1954] Brotkarten wieder eingeführt werden.
In den letzten Tagen wird in Berlin verstärkt darüber berichtet, dass Hausfrauen bei ihren Einkäufen das Gerücht verbreiten, dass mit einer baldigen Brotrationierung zu rechnen sei. Es wird festgestellt, dass größere Mengen Nährmittel – wenn in den Geschäften vorhanden – aufgekauft werden.
Landwirtschaft
Diskussionen über Dr. John, Schmidt-Wittmack, die Volkskammerwahl und die Streikbewegung in Westdeutschland werden hauptsächlich in den MTS und in den LPG geführt. Sie sind meist positiv aber in ihrem Umfang gering. Die übrige Landbevölkerung zeigt nur wenig Interesse an diesen aktuellen Fragen. In den positiven Meinungen zu den Volkskammerwahlen wird die Verbundenheit zu unseren Volksvertretern teilweise auch durch Selbstverpflichtung zum Ausdruck gebracht. So verpflichtete sich z. B. die Jugendbrigade »Ernst Thälmann« von der MTS Burkartshain,19 [Bezirk] Leipzig, aus Anlass der Volkskammerwahl bis zum 30.8.1954 30 ha Stoppelsturz durchzuführen, 25 ha Zwischenfrucht zu bestellen und bis zum 20.9.1954 sämtliche Rapsfelder zu pflügen.
Die Forderung nach Parteiwahlen wird immer wieder von großbäuerlichen Elementen und Mitgliedern bürgerlicher Parteien gestellt, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein Mitglied der NDPD aus Brück, Kreis Belzig, [Bezirk] Potsdam, sagte: »Es ist nicht richtig, wenn eine gemeinsame Liste aufgestellt wird und ich bin der Meinung, dass wir bei eigener Listenaufstellung einen großen Zustrom von werktätigen Bauern hätten.«20
Unter den LDP-Mitgliedern des Ortes Braunsdorf, [Bezirk] Gera, ist zu verzeichnen, dass diese in ihren Diskussionen über die Volkswahl eine getrennte Listenwahl fordern. Das führte schon so weit, dass sich die LDP-Ortsgruppe auflösen wollte, weil sie nicht mit der Einheitsliste einverstanden war. Der LDP-Vorsitzende verfasste folgendes Schreiben an den LDP-Vorstand in Pößneck: »Ich erkläre hiermit meinen Austritt aus der LDP. Grund: Es ist mir unmöglich, weiterhin einer Partei anzugehören, welche sich in Abhängigkeit einer anderen Partei befindet, was niemals den Wünschen der LDP-Mitglieder entsprechen kann.« Daraufhin wurde eine LDP-Mitgliederversammlung einberufen, bei welcher der Kreisvorstand der LDP erschien. Erst nach einer sehr langen Diskussion konnte Klarheit geschaffen werden, sodass sich am Schluss sämtliche Mitglieder bereit erklärt haben, aktiv an der Wahlvorbereitung teilzunehmen. Auch der LDP-Vorsitzende zog seine Austrittserklärung wieder zurück.
Missstimmung herrscht in der MTS Brahmenau,21 [Kreis] Gera, über das Fehlen von sieben Druschsätzen, Zapfwellen für acht Raupen und teilweise auch Benzin.
In der MTS Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, über Ersatzteilmangel, insbesondere über Lunten zum Anlassen der Dieselmotore.
Die LPG Vielbaum, [Bezirk] Magdeburg, klagt über das Fehlen von Leichtbauplatten zum Fertigstellen der Viehställe und das VEG Gestüt Seehausen über das Fehlen von 1 000 qm Dachpappe für Stallungen zur Unterbringung der Hengste.
Der VEAB Döbeln, [Bezirk] Leipzig, führt Klage über Raummangel zur Unterbringung des Getreides, da sämtliche Lager voll sind. Zur Weiterbeförderung werden täglich zwei Waggons benötigt. Die Reichsbahn Riesa hat bis zum heutigen Tag darauf nicht reagiert.
In der MTS Panschwitz fehlen 6- und 8-mm-Schrauben und 16er Muttern.
Unzufriedenheit über Missstände
Im Kreis Hildburghausen sind Unstimmigkeiten innerhalb der Gemeinde und der MTS wegen der Nichteinhaltung der abgeschlossenen Verträge mit den Einzelbauern.
Im MTS-Bereich Thürkow, [Bezirk] Neubrandenburg, ist eine schlechte Stimmung unter den Bauern zu verzeichnen. Vonseiten der Bauern wurden schon im Jahre 1953 die Innenleitung und die Lichtmasten zur Elektrifizierung ihres Ortes fertiggestellt. Die fertigen Masten liegen jetzt auf der Straße herum und sind der Witterung ausgesetzt und gehen zum Teil in Fäulnis über. Anfragen beim Kreisrat Teterow blieben ohne Erfolg. Die Bauern sagen, wenn wir kein Licht bekommen, werden wir dorthin gehen, wo es Licht gibt.
Im Kreis Gera wird Klage darüber geführt, dass die BHG jetzt große Mengen Futtermittel zugeteilt bekommt, für die nur ein geringer Umsatz besteht, weil die Bauern jetzt eigene Futtermittel verfüttern. So lagern dort 226 dz Roggen, 100 dz Gerste und 400 dz Kleie und die BHG sind gezwungen, neue Investitionsmittel aufzunehmen, was sich auf die Rentabilität auswirkt.
Schweinepest: Aus einigen Kreisen des Bezirkes Halle ist die Schweinepest wieder stark im Anwachsen. So mussten z. B. auf dem VEG »August Bebel« in Quedlinburg 33 Stück Schweine notgeschlachtet werden. 1 750 Schweine sind beim VEG »August Bebel« gefährdet.
Übrige Bevölkerung
Über politische Probleme wird wenig gesprochen, jedoch überwiegend positiv. Bei den Diskussionen, die über die Volkswahlen geführt werden, tauchen immer wieder Stimmen auf, meist aus den Kreisen der bürgerlichen Parteien, die sich gegen die Einheitsliste aussprechen.
Zum Beispiel forderten die LDP-Mitglieder im Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, getrennte Listen. Der Vorsitzende der Ortsgruppe Braunsdorf, [Kreis] Pößneck, wollte seine Funktion niederlegen und aus der LDP austreten mit der Begründung, dass er nicht länger einer Partei angehören könnte, die von der SED abhängig ist. Mit der Einheitsliste könne er sich nicht einverstanden erklären. Daraufhin wurde eine Versammlung einberufen und nach eingehender Diskussion zog der Vorsitzende sein Austrittsgesuch zurück.
Aus dem Bezirk Leipzig wurde berichtet, dass der Besuch der Versammlungen zur Vorbereitung der Volkswahlen sehr schlecht ist. Zum Beispiel wurden im Kreis Delitzsch bisher 32 Versammlungen durchgeführt, an denen sich nur 10,6 Prozent der Bevölkerung beteiligten.
Aus den Kreisen der Intelligenz wurden nachstehende Beispiele bekannt:
In einer Aussprache mit den Ärzten der Poliklinik Lauchhammer, [Bezirk] Cottbus, äußerten sich diese ungehalten darüber, dass vor ca. einem Jahr in einer Aussprache der stellvertretende Ministerpräsident, Genosse Walter Ulbricht22 den Ärzten einen Tennisplatz sowie Ferienplätze in den Volksdemokratien versprach, um die kulturelle Betreuung der Intelligenz zu fördern, was aber nicht gehalten wurde. Trotzdem nichts unternommen wurde, soll im »ND« gestanden haben, dass der Tennisplatz eingeweiht wurde.23
Der Chefarzt des Krebskrankenhauses Meiningen, [Bezirk] Suhl, erklärte in einer Versammlung: »Wenn es künftig bei der Beschaffung des Wohnraumes für die Krankenschwestern nicht anders wird, werden wir Ärzte uns ins Auto setzen und wegfahren und nicht früher zurückkommen, bis dieser Zustand beseitigt ist«. (Die Mittel für ein Schwesterninternat wurden nicht bewilligt.)
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:24 Erfurt 5 053, Halle 12, Leipzig 533. Teilweise alte Stimmzettel,25 Mehrheit mit Hetze gegen den neuen Kurs.
NTS:26 Neubrandenburg 10, Dresden 42, Halle 44.
Versch[iedener] Art: Schwerin 5 000, Potsdam 7 000, Dresden 100. Teilweise alte Flugblätter mit Hetze zum 17. Juni; neue Flugblätter traten nicht auf.
»Telegraf«:27 Potsdam 800.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Antidemokratische Tätigkeit: In Groß Laasch, [Bezirk] Schwerin, wurde von Einwohnern ein handgemaltes Hitlerbild gefunden mit der Überschrift »Dem Führer ewige Treue«.
Terror: In der Nacht vom 26. zum 27.8.1954 wurde der hauptamtliche FDJ-Sekretär von Treuen, Kreis Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, auf der Autobahnbrücke in Weißensand, Kreis Reichenbach, von bisher unbekannten Tätern niedergeschlagen, an seinem Fahrrad wurden beide Reifen zerschnitten. Es besteht Lebensgefahr. – Der FDJ-Sekretär kam von einem Wahleinsatz aus Treuen.
Gerücht: Von negativen Elementen der Gemeinde Bodenrode, Kreis Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, wird anlässlich der Röntgenuntersuchungen das Gerücht verbreitet, dass die im Kreis Heiligenstadt durchgeführte Tbc-Untersuchung dazu diene, eine neue Musterung vorzubereiten.
Anlage 1 vom 28. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2299
Auswertung der Westsendungen
RIAS fordert weiterhin in seinen Stellungnahmen zur Vorbereitung der Volkswahlen, dass in den Versammlungen zur Normenfrage gesprochen werden soll. Die Arbeiter werden aufgefordert, darüber zu diskutieren, da die Presse zzt. darüber schweige. Es heißt dann: »… Über die Normenfrage kann doch jetzt ruhig offen gesprochen werden. Und wir sind sicher, dass der Volkskammeraspirant ein offenes Ohr bei seinen Zuhörern findet, der eine bindende Zusage darüber abgibt, dass genauso wie es vor den Volkskammerwahlen keine Normenerhöhungen mehr geben wird, die Partei auch nach dem 17. Oktober [1954] von Normenerhöhungen Abstand nehmen wird.«
Über die Beteiligung an den Versammlungen zur Rechenschaftslegung hetzt der RIAS von »einer Passivität des Funktionärskörpers gegenüber den Oktoberwahlen« und einer nur geringen Beteiligung der Bevölkerung an den Versammlungen.
Über den Aufruf des Wahlleiters von Groß-Berlin zur Nominierung der Kandidaten zu den Wahlen28 hetzt der RIAS, dass »lediglich Kandidaten der SED und der von ihr gelenkten Untergrundorganisationen und Satellitenparteien« wählbar wären. Dabei wird gleichzeitig gegen die Möglichkeit gemeinsamer Wahlvorschläge gehetzt, was nach RIAS eine Einengung der Rechte der bürgerlichen Parteien bedeute, da dies kein Recht, sondern eine Pflicht sei.
RIAS benutzt die angebliche Kenntnis einer über die Gemeinde Friedsen,29 Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, ausgearbeiteten Dorfanalyse30 zu einer üblen Hetzsendung gegen die Lage in der Landwirtschaft. Nach den zitierten Sätzen aus der angeblichen Dorfanalyse herrschen in der Gemeinde mehr als katastrophale Zustände und es soll der Eindruck erweckt werden, als ob dort überhaupt nichts in Ordnung ist. Die Sendung wird so gebracht, dass die Meinung entstehen muss, dass die geschilderten Zustände typisch für die Landwirtschaft in der gesamten DDR seien. Die Hetze schließt ab mit der Bemerkung, dass die eingesetzte Brigade hauptsächlich die Aufgabe gehabt hätte, die politische Einstellung der dortigen Bevölkerung zu überprüfen. RIAS warnt deshalb zuletzt: »Wir können daher die an sie schon einmal ausgesprochene Warnung nur wiederholen, sich noch enger zusammenzuschließen und keinem Schnüffler der Partei irgendwelche Auskünfte über ihre Mitmenschen aus dem Dorfe zu gewähren«.
In einer weiteren Sendung für die Landbevölkerung wird diese vom RIAS aufgefordert, in der Diskussion über die Rechenschaftsberichte über folgende Fragen zu sprechen:
- –
1) warum die Bauern keine eigenen Maschinen erhalten, sondern von der MTS abhängig sind, die sie schlecht versorgen,
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2) warum anstelle der VdgB keine »berufsständigen Vertretungen der Bauern, wie sie in der Bundesrepublik bestehen«, zugelassen werden und
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3) warum immer mehr »Agronomen, Instrukteure und Kontrolleure eingestellt werden, die den Bauern nur bei der Arbeit stören, ihm aber sonst nichts nutzen«.
Betreffs der Gemüseversorgung hetzt der RIAS, dass diese aus der Planung herausgenommen werden müsste, um die bisher auftretenden Fehler zu überwinden.
Um die Bevölkerung von dem Eintritt in die Konsumgenossenschaften abzuhalten, hetzt der RIAS, dass »das Konsummitglied und der Kunde, die in gutem Glauben an verbesserte Einkaufsmöglichkeiten dem Verband beitreten, geschädigt werden, da ihr Geld zur Finanzierung rein politischer kommunistischer Aufgaben verwandt wird«. RIAS führt dazu an, dass z. B. in einer mittleren Konsumgenossenschaft wie Dresden oder Potsdam »insgesamt monatlich eine Summe von 16 270 DM für einen bürokratischen Apparat verausgabt werden [sic!], der für die Wirtschaftlichkeit des Konsums ohne jeden Nutzen ist«. Zu dem »bürokratischen Apparat« werden gezählt: »Vorstand für Kader und Arbeit, Abteilung Personal und Arbeitskraft, Abteilung Schulung, Betriebsparteisekretär, Abteilung für massenpolitische Arbeit«.
In längeren Ausführungen beschäftigt sich der Londoner Rundfunk31 mit der Frage der »Störsender in der DDR«.32 Einleitend wird aus einem Hörerbrief zitiert, dessen Schreiber angeblich genaue Angaben über technische Daten der »Störsender« machen kann, wie z. B. 15 bis 20 Sender in der DDR, Besetzung durch einen Jungingenieur und zwei Mechaniker, Bewachung durch VP und Einsatz von Funküberwachungsstellen des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen zur Vorbereitung neuer Störsender. Anschließend wird dann aus zahlreichen Hörerbriefen zitiert, die sich alle mit schlechten Empfangsmöglichkeiten der westlichen Sender und der Ablehnung der Sendungen des demokratischen Rundfunks beschäftigen.
Die Werbungen zum Studium an den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten33 versucht der RIAS in einer Sendung für die Landjugend mit der Hetze zu beeinflussen, dass die bei uns vor allem gelehrten Wissenschaften keine Zukunft haben. Es heißt aber dann weiter, wenn sich ein Jugendlicher auf dem Lande doch fähig fühle zu studieren, dann solle er Landwirtschaft studieren.
Im Rahmen einer Sendung, die sich mit dem zweijährigen Bestehen der Gesellschaft für Sport und Technik beschäftigt,34 hetzt der RIAS, dass die FDJ für das Jahr 1955 sogenannte Verteidigungskomitees vorbereite, die die Wehrertüchtigung der Jahrgänge zwischen 30 und 45 Jahren betreiben sollen.
Anlage 2 vom 28. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2299
Stimmen zum Übertritt des CDU-Abgeordneten Schmidt-Wittmack in die DDR
Im Allgemeinen ist der Umfang der Diskussionen, die in allen Schichten der Bevölkerung über den Fall Schmidt-Wittmack geführt werden, gering. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv.
In den Diskussionen der Arbeiter und Angestellten in den Produktions- und Verkehrsbetrieben kommt immer wieder zum Ausdruck, dass sie den Schritt des CDU-Abgeordneten als einen weiteren Schlag gegen die Adenauer-Clique35 ansehen und sie betonen übereinstimmend, dass immer offensichtlicher wird, dass in der Adenauer-Politik etwas faul sein muss. So sagte zum Beispiel ein Schlosser vom Bahnbetriebswerk Oberschöneweide Berlin: »Uns hilft das wieder ein großes Stück weiter, dass solche Leute wie Dr. John und Schmidt-Wittmack, die in Bonn hohe Stellungen innehatten, allen Menschen aufzeigen, wie es in Westdeutschland aussieht. Diesen Menschen wird eher Glauben geschenkt, weil sie ja selbst die Entwicklung in Westdeutschland mitgemacht haben.«
Ein Arbeiter vom VEB Waggonbau Quedlinburg,36 [Bezirk] Halle: »Durch den Übertritt Dr. Johns und Schmidt-Wittmack in die DDR werden viele zu der Erkenntnis kommen, dass drüben im Westen nicht alles in Ordnung sein kann. Wenn Adenauer so weitermacht, wird wohl eines Tages eine ganze Flut von Menschen zu uns in die DDR kommen.«
Ein Angestellter vom VEB Feinprüf in Schmalkalden, [Bezirk] Suhl: »Die Enthüllungen von Dr. John und der Übertritt des CDU-Abgeordneten in die DDR haben viel dazu beigetragen, deutlich zu machen, in welchem großen Maße der Staatsapparat in Westdeutschland sich erneut in den Händen der Kriegstreiber befindet.«
Ein Ingenieur aus dem Entwurfs- und Vermessungsbüro der Deutschen Reichsbahn Berlin: »Während man vor einem Jahr immer wieder davon sprach, dass der oder jener nach dem Westen gegangen ist, ist es heute umgekehrt. Es scheint um Westdeutschland nicht gut zu stehen, wenn in einigen Wochen gleich zwei der einflussreichsten Persönlichkeiten um Asyl in der DDR nachsuchen. Diese Tatsachen werden besonders von bürgerlichen Kreisen in der DDR sowie in Westdeutschland beachtet, weil es sich um diese Kreise handelt.«
Aus den Äußerungen, die aus den Kreisen der übrigen Bevölkerung kommen, geht hervor, dass die Personen erkennen, welche große Bedeutung es hat, wenn führende Politiker des Bonner Staates in die DDR kommen, um hier für die Herstellung der Einheit Deutschlands zu wirken. So sagte z. B. ein Dekorateur aus Suhl: »Ich bin überrascht über das Verhalten von Dr. John und Schmidt-Wittmack und nehme an, dass drüben in der Politik vieles faul ist. Ich bin der Ansicht, dass das Vertrauen der westdeutschen Wählerschaft zu ihren Vertretern sehr erschüttert wird und die Bevölkerung unserer Regierung immer mehr Vertrauen entgegenbringt.«
Ein Bauer aus dem Kreis Bergen, [Bezirk] Rostock: »Im Bonner Verwaltungsapparat scheint nicht alles in Ordnung zu sein, wenn solche hohen Politiker zu uns in die DDR kommen. Des Weiteren haben die Enthüllungen Dr. Johns über die Gehlen-Organisation37 bei der Bevölkerung großes Erstaunen hervorgerufen.«38
Auch in den Kreisen der bürgerlichen Parteien wird vorwiegend positiv Stellung genommen und größtenteils erklärt, dass der Schritt Dr. Johns und des CDU-Abgeordneten ein Beweis ist, dass die Adenauer-Politik auch von führenden Persönlichkeiten nicht gutgeheißen wird, weil man sie nicht im Interesse des Friedens und der Demokratie führt.
Eine Hausfrau (CDU) aus Brandenburg: »Ich bin mir darüber klar, dass mit dem Übertritt Dr. Johns und Schmidt-Wittmacks ein Beitrag zur Friedensbewegung geleistet wurde. Ich nehme an, dass noch mehr Persönlichkeiten zur Einsicht kommen und denselben Weg beschreiten.«
Ein Einwohner (NDPD) aus Großenhain, [Bezirk] Dresden: »In Bonn muss es doch durcheinandergehen, wenn einer nach dem anderen von den führenden Politikern in die DDR kommen. Es ist anzunehmen, dass das System in Westdeutschland sich nicht mehr lange halten kann.«
Ein LDP-Mitglied aus Neuhaus, [Bezirk] Suhl: »Ich verfolge regelmäßig die politischen Tagesprobleme und muss feststellen, dass Adenauer immer mehr in die Enge getrieben wird. Besonders durch die Fälle John und Schmidt-Wittmack. Das Scheitern der Brüsseler Konferenz war ein Schlag gegen seine EVG-Politik,39 die keineswegs gutgeheißen werden kann.«
In den nur ganz vereinzelt bekannt gewordenen negativen Stellungnahmen, die aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen kommen, zeigt sich teilweise eine Beeinflussung durch die westliche Propaganda, da diese in der Argumentation wiedergegeben wird.
Eine Geschäftsfrau aus Ruhla, [Bezirk] Erfurt: »Solche Leute, die ihr Vaterland an den Russen verraten, sind in meinen Augen große Lumpen. Wer weiß, was die drüben ausgefressen haben. Ich möchte das Geld haben, was die beiden vom Russen kriegen. Die zwei haben bestimmt schon drüben zusammengearbeitet. Jetzt ist dem CDU-Fritzen der Boden zu heiß geworden. Diesen Kerl hätten sie einsperren sollen.«
Eine Hausfrau aus Karl-Marx-Stadt: »Solche Menschen, wie Dr. John und Schmidt-Wittmack, die drüben im Westen als Verräter verschwinden müssen, werden bei uns natürlich mit offenen Armen aufgenommen.«
Ein Pfarrer aus Buckow, [Bezirk] Frankfurt: »Ich bin überzeugt, dass der CDU-Abgeordnete drüben etwas ausgefressen hat und jetzt nur Schutz bei uns sucht.«