Zur Beurteilung der Situation
23. August 1954
Informationsdienst Nr. 2294 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen über politische Tagesfragen haben nur geringen Umfang. Im Vordergrund steht die Streikbewegung,1 wobei sich Inhalt und Umfang der Meinungen nicht wesentlich verändert haben.
Zu negativen Äußerungen folgendes Beispiel: Unter den Bauarbeitern der Bau-Union Karl-Marx-Stadt, zzt. auf dem Davids-Schacht der Bleierzgrube »Albert Funk« in Freiberg, wird folgendermaßen gesprochen: »In Westdeutschland streiken die Bauarbeiter,2 weil sie nur 1,80 [DM] erhalten. Wir erhalten nicht einmal so viel Stundenlohn, aber bei uns darf man ja nicht streiken, sonst würden bestimmt auch Arbeiter in den Streik treten.«3
Zur Volkskammerwahl4 und zur Rechenschaftslegung5 werden nur vereinzelt Stimmen geäußert. Zu den Volkskammerwahlen wird meist die einheitliche Kandidatenliste begrüßt. Daneben werden vereinzelt Meinungen vertreten, dass die Blockwahl undemokratisch sei. Man fordert deshalb Parteiwahlen oder »freie Wahlen«. Hierbei handelt es sich teilweise um unaufgeklärte Menschen.
Ein Bandarbeiter aus dem Wismut-Objekt 101 in Aue:6 »Man braucht gar nicht zur Wahl zu gehen, da ja von vornherein festliegt, wer gewählt wird. Wenn jede Partei ihre eigene Liste aufstellen würde, dann wäre das eine demokratische Wahl.« Ähnlich äußerte sich ein parteiloser Kollege aus dem VEB Thermometer- und Glaswerk Mellenbach, [Bezirk] Suhl.
Gegen die Blockpolitik unserer Partei sprach sich ein Kollege aus dem VEB Fleischwarenfabrik »Elite«, Berlin-Weißensee (SPD) aus und forderte, dass die Parteien, die ehemalige Nazis in ihre Reihen aufnehmen, keine Kandidaten für die Wahlen aufstellen dürften. Hierbei führte er die NDPD an.7
Die Rechenschaftslegung im »Ernst-Thälmann«-Werk am 20.8.1954 war schlecht vorbereitet, sodass von ca. 1 000 Werksangehörigen nur 90 anwesend waren. Diskutiert wurde hierbei besonders über Fragen der Versorgung und der sozialen Betreuung. Zum Beispiel wurde kritisiert, dass nicht genügend Waschräume gebaut wurden.
Aus dem Bezirk Dresden wird berichtet, dass zu der in den Betrieben durchgeführten VP-Werbeaktion bisher nur ablehnende bzw. negative Äußerungen bekannt wurden.8 So lehnten z. B. alle Jugendlichen der Abteilung Technologie des VEB Lowa Bautzen ab, freiwillig zur VP zu gehen. Sie vertraten die Meinung, dass die Regierung die Wehrpflicht einführen solle. Aus der Abteilung Teilschlosserei des gleichen Betriebes äußerte ein Arbeiter: »Ich habe kein Interesse, weil man bei der VP kein freier Mensch mehr ist«. Ein anderer Arbeiter aus der gleichen Abteilung sagte: »Ich bin erst vor drei Jahren aus sowjetischer Gefangenschaft gekommen. Mit der Uniform will ich nichts mehr zu tun haben.«
Im Vordergrund der Diskussionen stehen wirtschaftliche sowie betriebliche Fragen. Besonders wird über Lohnfragen diskutiert, worüber teilweise Missstimmung bzw. Verärgerung besteht.
In den Privatbetrieben Brauerei Reppin in Friesack und Schwentyn-Liköre in Märkisch-Buchholz,9 [Bezirk] Potsdam, sind die Arbeiter mit der Einstufung nach Ortsklassen nicht einverstanden.10 Ein Kollege vom Bezirksvorstand des FDGB versprach ihnen bereits im Februar/März 1954, sich für eine Angleichung der Ortsklassen einzusetzen, hat jedoch bisher den Kollegen keinen Bescheid zukommen lassen.
Im Braunkohlenwerk Holzweißig, [Bezirk] Halle, wollen die kaufmännischen Angestellten eine Aufbesserung ihres Gehaltes und verweisen dabei auf die Betriebszweige Maschinenbau und Chemie, wo in der letzten Zeit Aufbesserungen durchgeführt worden seien.
Im VE Schuhbetrieb »Banner des Friedens«, Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, kündigen Spezialarbeiter, weil sie in Privatbetrieben mehr verdienen würden. Die Betriebsleitung versteht es nicht, für genügend Arbeit an den Fließbändern zu sorgen.
Im VEB Radio-Gehäusebau Wurzbach, [Bezirk] Gera, sollen aus betrieblichen Gründen Lohnrückstufungen bei Spezialarbeitern vorgenommen werden. Dies löste unter den Arbeitern negative Diskussionen aus. Die betroffenen Arbeiter wollen kündigen.
In der Abteilung »M« des VEB Leipziger Eisen- und Stahlwerke haben innerhalb einer Woche acht Dreher und Fräser gekündigt, weil sie in anderen Betrieben bessere Verdienstmöglichkeiten haben.
Im VEB Kirow-Werk Leipzig11 haben wegen schlechter Arbeitsorganisation einige Kollegen gekündigt. Diese Arbeiter müssen Nebenarbeiten verrichten und verdienen dadurch weniger Geld.
Im Eilenburger Zelluloidwerk besteht unter den Kollegen der Hydrieranlage eine Missstimmung, da die Norm zu hoch sei und es vorkommt, »dass sie weniger Geld als eine Reinemachefrau verdienen«.
In der Grube II des Braunkohlenwerkes »Glück Auf« in Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus, wurden wegen Überziehung des Lohnfonds bei verschiedenen Kollegen Lohnveränderungen vorgenommen, die eine Lohneinbuße bis zu DM 40,00 nach sich zogen, was zu negativen Diskussionen führte. Wenige Kollegen äußerten: »In Westdeutschland wird um 10 Pfennige gestreikt und hier werden einfach 40,00 DM vom Lohn abgezogen.«
Im Wismut-Objekt 09 in Aue, Schacht 66 besteht unter den Lokfahrern eine Unzufriedenheit. Sie sind der Meinung, dass ihre Normen technisch vollkommen unbegründet seien und deshalb sofort durch technisch begründete Arbeitsnormen ersetzt werden sollen.12
Unter den Kollegen des Bahnhofes Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, besteht eine schlechte Stimmung, wegen zu geringer Bezahlung bei der Reichsbahn. Der Bahnhofsvorsteher und ein Rangierer beabsichtigen deshalb zu kündigen und in einem VEB Arbeit zu suchen.
Eine mangelhafte FDGB-Beitragszahlung wird aus dem Georgi-Dimitroff-Werk Magdeburg,13 Abteilung Stahlwerk berichtet. Der größte Teil der Kollegen zahlt ganz geringe Beiträge, obwohl sie mehr verdienen, 30 Prozent der Kollegen sind mehrere Monate im Rückstand und ca. 45 Prozent über ein Jahr.
Über den Ausfall von Versammlungen mit Vertretern des SfS14 wird im Stickstoffwerk Piesteritz, Gummiwerk Kreis Wittenberg sowie im Hydrierwerk Zeitz, [Bezirk] Halle, diskutiert. Ein Teil der Kollegen kritisiert, dass die Versammlungen abgesagt wurden, »weil ein großes Interesse über Dr. John15 und über die Gehlen-Organisation16 vorhanden sei«.
Ein Kollege aus dem Hydrierwerk Zeitz, Bau 111 äußerte: »Unter den Kollegen besteht jetzt die Meinung, dass der Fall Nauenhapper vertuscht werden soll,17 deshalb kommen die nicht vom SfS.«
Produktionsschwierigkeiten
Im VEB Eisenhüttenwerk Thale sind zwei Walzenlager ausgelaufen. Produktionsausfall 350 Tonnen Platinen, Sachschaden 36 000 DM.
Im Braunkohlenwerk Hirschfelde, [Bezirk] Dresden, fiel die Hammermühle II durch Wellenbruch aus. Es entstand ein Planverlust von 44 Tonnen Briketts.
Im VEB Kunstleder Coswig,18 [Bezirk] Dresden, verbrannte eine Wachstuchmaschine. Die Ursache ist in Selbstentzündung oder den laufenden Stromschwankungen zu suchen.
Materialschwierigkeiten
Im VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz, [Bezirk] Dresden, fehlt Zellwollgarn Nr. 2 für die Zündschnurproduktion, wodurch ein größerer Planrückstand entstand.
Im VEB Abus Dessau19 mangelt es an Schrauben verschiedener Typen, wodurch Produktionsschwierigkeiten bei Exportaufträgen entstehen.
In Ueckermünde, [Bezirk] Rostock,20 liegen 15 kleinere Lastkähne still, weil sie von der DSU Stralsund keine Frachten erhalten. Die DSU berechnet Tarife nur nach Tonnen-Kilometer.
Handel und Versorgung
Örtliche Mängel in der Warenbereitstellung
In fast allen Kreisen des Bezirkes Potsdam wurde der Warenbereitstellungsplan für HO-Frischfleisch, Vollmilch, Eier und Zucker im III. und IV. Quartal gekürzt und dafür in einigen Kreisen für Spirituosen stark erhöht, wofür keine Gewähr des Absatzes besteht. Wegen des Mangels an (billigen Zigaretten), HO-Fleisch (und Bohnenkaffee) wird negativ diskutiert und dadurch, dass die Privatschlächter ihre Läden voll haben, wird Schädlingsarbeit für ein schlechtes Ergebnis zur Volkskammerwahl vermutet.
Zigarettenmangel ist weiterhin in Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, der sich auf das Sängerfest vom 22. bis 29.8.[1954]21 negativ auswirkt. Desgleichen im Kreis Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, sehr angespannt. Im Kreis Sangerhausen, [Bezirk] Halle, kritisieren die Arbeiter den Mangel an billigen Zigaretten und sagen, bei den Zigaretten fängt es an und bei dem Benzin hört es auf. Es ist ihnen unverständlich, dass dies gerade vor den Volkswahlen auftritt. In Worbis, [Bezirk] Erfurt, tritt die gleiche Situation auf, wie vor der Volksbefragung,22 in dem wieder eine 30-prozentige Kürzung des Rohtabaks vorgenommen wird, wie damals, wodurch in einem Teil der Privatbetriebe Kurzarbeit bzw. Entlassungen durchgeführt wurden.
Fleischmangel besteht in Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg. Da nur 25 Prozent der Bedarfsmenge für den 21. bis 23.8.[1954] geliefert wurden, wird der Betrieb Fleischwarenfabriken stillgelegt und die Kollegen zum Ernteeinsatz geschickt werden müssen. Außerdem fehlt es in Dessau, [Bezirk] Halle, an Frischfleisch.
Käse fehlt in verschiedenen Kreisen des Bezirkes Schwerin. Die Hausfrauen fordern dort, zwecks gerechter Verteilung den Käse auf Lebensmittelkarten abzugeben. Sie verurteilen die hohen Preise für Fleischkonserven. Ferner fehlt Käse im Grenzkreis Worbis, [Bezirk] Erfurt.
In Bohnsdorf,23 [Bezirk] Halle, beklagen sich die Hausfrauen über die schlechte Belieferung der HO und des Konsum. Außerdem im Kreis Delitzsch, [Bezirk] Leipzig, wo es mehrere Tage im Konsum keine Butter und kein Mehl gab, sagen die Frauen: »Schade um die DM 50,00 für den Eintritt in den Konsum, wenn wir doch woanders einkaufen müssen.« Ähnlich ist es im Kreis Geithain, [Bezirk] Leipzig.
Möbelstoffe fehlen im Kreis Worbis bei den Sattlern und Polsterern, die ihre Planaufgaben nicht erfüllen können und dadurch Verärgerung zwischen den Kunden und Verkäufern entsteht.
Elektrische Sicherungen für den Drusch fehlen im Kreis Parchim, [Bezirk] Schwerin.
Überplanbestände an Fleischkonserven in größeren Mengen hat die DHZ Prenzlau mit einer Haltbarkeitsdauer von sechs Wochen und soll noch weitere größere Mengen hinzubekommen.
In Waren, [Bezirk] Schwerin,24 verbreitet ein Bäcker das Gerücht, dass die Bauern nächstes Jahr nur die Hälfte Getreide anbauen brauchen, weil stärkere Einfuhren aus Importen zu erwarten sind. Diese Auffassung wird auch durch verschiedene Bäcker im Kreis Gadebusch vertreten.
In Berlin werden Waren in HO, Konsum und Privathandel weiterhin ohne Abverlangen des Personalausweises abgegeben.25
Landwirtschaft
Zu den politischen Tagesfragen, die nur im ganz geringen Umfang diskutiert werden, nimmt die Landbevölkerung vereinzelt über Dr. John und über die Volkskammerwahl Stellung. Die Meinungen sind überwiegend positiv und zeigen teilweise durch Selbstverpflichtungen zu Ehren der Volkskammerwahl die Verbundenheit mit der Regierung. So sind allein in der Gemeinde Mickeln,26 [Bezirk] Dresden, 52 Selbstverpflichtungen auf vorfristige Erfüllung des Abgabesolls und freie Spitzen27 an Schweinen, Rindfleisch, Eier und Milch eingegangen worden [sic!].
Negative bzw. feindliche Meinungen treten oft bei Groß- und Mittelbauern, besonders im sorbischen Gebiet auf. Dort wird auch meist die Parteilistenwahl gefordert, wie nachstehende Beispiele zeigen.
Ein LDP-Mitglied aus Jänkendorf, [Bezirk] Dresden, sagte: »Bei uns gibt es nur eine Kandidatenliste. Im Westen jedoch hat jede Partei ihre Listen und man kann dort wirklich demokratisch wählen. Wenn man bei uns nicht die aufgestellten Kandidaten wählt, kommt man auf die schwarze Liste.«
Ein Großbauer aus Naundorf, [Bezirk] Dresden: »Die ganzen Wahlen sind nur Betrug. Es geht dabei nicht gerecht zu, das haben wir bei der Volksbefragung gesehen. Alle Stimmscheine, wo nichts oder beide Seiten angekreuzt waren, wurden als Stimmen für den Frieden gezählt. Bei der nächsten Wahl wird noch ein größerer Beschiss gemacht.«
Ein sorbischer Mittelbauer aus Malschwitz sagte: »Die SED wird bei den Volkswahlen ein ganz schönes Ding auf den Deckel bekommen.«
Ebensolche negativen Diskussionen werden auch im Kreis Heiligenstadt in Verbindung mit den Aufenthaltsgenehmigungen für die Sperrzone28 geführt. In der Dienststelle, die diese Genehmigungen austeilt, wurde gesagt, »bei der Volksbefragung, das war nur Honig. Wir hätten unsere Stimme für die EVG29 abgeben sollen«. Diese Äußerungen werden besonders bei den Schwierigkeiten wegen der Aufenthaltsgenehmigung gemacht.
Bei den Rechenschaftslegungen im Bezirk Schwerin werden oft die Versammlungen nicht genügend vorbereitet und die örtlichen Fragen in den Rechenschaftsberichten wenig beachtet.
In der Gemeinde Demern, [Bezirk] Schwerin, stellte ein Bauer die Frage, wie die Einheit Deutschlands hergestellt werden soll, da doch die Berliner Konferenz ergebnislos war.30
In der Gemeinde Redlin, [Bezirk] Schwerin, dagegen wurde positiv diskutiert und vor allem die VEAB Parchim wegen dem Bürokratismus bei der Ablieferung von Kartoffeln kritisiert.
In der Hauptsache befasst sich die Landbevölkerung mit den wirtschaftlichen Fragen.
Im Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, wurden in 30 Ortschaften Bauernberatungen durchgeführt, wo besonders über die Differenzierung und den Dorfwirtschaftsplan diskutiert wurde. Die werktätigen Bauern verlangen, dass sie zu den Verhandlungen herangezogen werden und darüber hinaus über den Tabakanbau aufgeklärt werden.
Im Bezirk Potsdam wird von den werktätigen Bauern die Arbeit der MTS oft bemängelt, wie z. B. in Glambeck, Kreis Gransee, vor allem bei den Schichtfahrern. Die Genossenschaftsbauern führen es auf die Herkunft der Arbeiter zurück, die von Großbauern abstammen.
Im Kreis Sternberg wurden zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse vier Wohnungseinheiten geplant. Die Schachtarbeiten wurden beendet und das Baumaterial angeliefert. Die Arbeitskräfte aber wurden abgezogen und die Facharbeiter des VEG sagen, dass sie nicht länger in unwürdigen Wohnungen leben wollen und sich andere Arbeit in der Republik suchen werden. Diese Arbeiter sind der Melker, der Schweinemeister und der Brigadier.
In der LPG Reichstädt, [Bezirk] Gera, wollen sechs Mitglieder wegen dem diktatorischen Auftreten des Vorsitzenden und des Parteisekretärs austreten. Die angesetzten Versammlungen werden dort zum Teil gar nicht mehr besucht.
Übrige Bevölkerung
Nach wie vor wird unter der Bevölkerung wenig zu politischen aktuellen Problemen Stellung genommen. Die bekannt gewordenen Stimmen zur bevorstehenden Volkswahl sowie zur Streikbewegung in Westdeutschland sind überwiegend positiv. Von großen Teilen der Bevölkerung wird die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste begrüßt und zum Ausdruck gebracht, dass ein erfolgreicher Kampf um die Herstellung der Einheit unseres Vaterlandes nur durch ein gemeinsames Handeln geführt werden kann. So erklärte z. B. ein CDU-Mitglied aus Augustusburg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir dürfen uns nicht in Parteiwahlen verzetteln, sondern müssen das Gemeinsame finden im Interesse aller.«
Negative bzw. feindliche Äußerungen zu dieser Frage kommen meist aus bürgerlichen Kreisen, besonders von Mitgliedern und Funktionären der bürgerlichen Parteien. Sie argumentieren, dass nur aus dem Grunde gemeinsame Listen aufgestellt werden, weil sonst die SED bei Einzellisten schlecht abschneiden würde.
In der Deutschen Notenbank Leipzig besteht eine LDP-Gruppe von ca. 90 Mitgliedern, die überwiegend eine gemeinsame Kandidatenliste ablehnen. Was damit begründet wird, dass durch einzelne Listen besser das genaue Kräfteverhältnis bekannt würde.
Ein Einwohner aus Tannenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Man stellt wieder eine Einheitsliste auf, weil sonst wahrscheinlich die SED eine Niederlage hinnehmen müsste. Ihre Arbeit in unserem Ort besagt alles. Bei uns ist die einzige aktive Partei die NDPD.«
Feindlich im Zusammenhang mit den Volkswahlen äußerte sich ein Mitglied der NDPD aus Brück, [Bezirk] Potsdam: »Die SED unterstützt nicht den Arbeiter, sondern den aufgeblähten Staatsapparat. Zu was sind so viele Antreiber und Schnüffler notwendig? In den LPG und MTS erscheinen täglich 5 bis 6 von dieser Sorte mit Motorrädern und Autos. Man sollte diese Menschen lieber mit in den Arbeitsprozess einbeziehen. Die Arbeitsmoral der MTS- und LPG-Mitglieder ist gegenüber den Einzelbauern saumäßig. Das kann ja auch nicht anders sein, weil sie am Monatsende ihr Gehalt bekommen.«
Verschiedentlich ist zu verzeichnen, dass die Versammlungen, in der die Abgeordneten Rechenschaft ablegen, nicht gut besucht sind, was oftmals an der schlechten Vorbereitungsarbeit liegt. In den Diskussionen wird größtenteils über wirtschaftliche Probleme gesprochen.
In Barleben, [Bezirk] Magdeburg (6 000 Einwohner), wurde eine Versammlung nur von ca. 48 Einwohnern besucht. Selbst von 19 Gemeindevertretern waren nur sieben anwesend.
In Oebisfelde, [Bezirk] Magdeburg, war in einer Versammlung Minister Wach.31 Ein Teil der Anwesenden war unzufrieden mit seinen Ausführungen und es kam zu Äußerungen wie z. B.: »Wo bleibt der Rechenschaftsbericht?«
In Hasselfelde, Kreis Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, wurde von der Bevölkerung Genosse Bernhard Koenen32 kritisiert, weil er seinen 1950 übernommenen Wählerauftrag, die Eisenbahnlinie Stiege – Gernrode wieder einzurichten, damit die Verbindung nach Quedlinburg wieder aufgenommen wird, nicht erfüllt hat.
Im Kreis Wernigerode wurde in den Versammlungen vor allem über die Wildschweinplage diskutiert. So äußerte z. B. ein Einwohner von Königshütte: »Wenn in der Wildschweinplage nicht bald eine Änderung eintritt, werden die Einwohner das Vertrauen zur Verwaltung und zu den Abgeordneten verlieren. Wir verurteilen, dass im Westen Panzer den Acker zerstören,33 aber wir fordern von unserer Regierung, dass was gegen die Wildschweinplage unternommen wird.«
In den positiven Stimmen zur Streikbewegung in Westdeutschland wird die Streikbewegung begrüßt. Eine Hausfrau aus Grünberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Den streikenden Arbeitern in Westdeutschland müssen wir unsere vollste Unterstützung geben, denn es kommt jetzt darauf an, dass die Arbeiter nicht nachlassen, um ihre gerechten Forderungen durchzusetzen.«
Folgende negative bzw. feindliche Stimmen wurden uns bekannt: Ein parteiloser Angestellter vom Rat des Kreises Neuhaus, [Bezirk] Suhl: »Ich selbst und auch die Fachkräfte der Bauindustrie verdienen doch noch weniger als die streikenden Arbeiter in Westdeutschland.« Ein Arbeiter aus Frauenstein, [Bezirk] Suhl:34 »Diese Faulenzer sollen lieber arbeiten, dann brauchen wir nichts zu spenden.«
Häufig sind Mängel im Handel und Fragen des Lebensstandards der Inhalt der Gespräche und [der] teilweisen Unzufriedenheit der Bevölkerung. Im Kreis Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, werden besonders unter Hausfrauen und Rentnern Meinungen laut, dass sie höhere Lebensmittelrationen bekommen müssten.
Unter den Rentnern des Kreises Meiningen, [Bezirk] Suhl, wurden Meinungen vertreten, dass sie die gleichen Lebensmittelkarten erhalten müssten wie die Besucher aus Westdeutschland.
Im Bezirk Leipzig äußern sich oft Hausfrauen und Rentner über den Lebensstandard und die Preisverhältnisse. Eine Hausfrau aus Leipzig: »Ich kann nur lachen, wenn ich in der Zeitung solchen Blödsinn lese. Bei uns kostet das Pfund Butter 10,00 DM und in Westdeutschland nur 3,10 DM. Mit den Lebensmittelkarten reicht man doch nur ein paar Tage. Wir bekommen nur 300 g den ganzen Monat, das andere müssen wir in der HO kaufen.«
Auch unter Geschäftsleuten und Handwerkern macht sich Unzufriedenheit wegen Material- und Warenmangel häufiger bemerkbar. Ein Handwerker aus Delitzsch, [Bezirk] Leipzig: »Nach der Verkündung des neuen Kurses35 bekamen wir Handwerker auch wieder genügend Material. Jetzt ist es bereits wieder so, dass wir nur das Material erhalten, was vom Konsum und der HO übriggelassen wird und das ist sehr wenig.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:36 Frankfurt 220, Dresden 58, Schwerin 1 500, Leipzig 110, Halle 1 640, Karl-Marx-Stadt 132.
FDP-Ostbüro: Halle 316.
UFJ:37 Neubrandenburg 8 000.
CDU-Ostbüro: Neubrandenburg 2 000.
NTS:38 Neubrandenburg 5 000, Halle 960.
Versch[iedener] Art: Frankfurt 6 000, Dresden 31.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Diversion
Im ÖLB in Pätow,39 Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, zerstörte ein Landarbeiter mehrere Teile eines Traktors, wodurch dieser vorläufig für den Einsatz ausfällt.
Der Bürgermeister von Lühmannsdorf, Kreis Greifswald, [Bezirk] Rostock, erhielt einen Brief mit der Aufforderung, die DDR sofort zu verlassen, da er von der VP verhaftet werden soll.
Vermutliche Feindtätigkeit
Zwei leitende Kollegen der MTS Zschackwitz, Kreis Döbeln, [Bezirk] Leipzig, erhielten am 21.8.1954 einen angeblichen Anruf von dem Zentralvorstand des FDGB, worin sie aufgefordert wurden, am 23.8.1954 mit Personalunterlagen in Berlin zu erscheinen. Vermutlich handelt es sich hierbei um fingierte Anrufe.
Anlage vom 23. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2294
Produktionsschwierigkeiten in der Industrie
Materialmangel
Im VEB Kraftverkehr Aue bestehen große Schwierigkeiten in der Bewältigung des Arbeiterberufsverkehrs. Von 22 Fahrzeugen des Types »IKARUS« befinden sich nur noch neun im Verkehr. Die anderen 13 Omnibusse stehen wegen Ersatzteilmangel still. Außerdem fehlt es an Autoreifen.
Die Schwierigkeiten in der Schuhfabrik Lysia, Kreis Weißenfels,40 liegen immer noch an [sic!] der Heranschaffung der Formgummisohlen und -Absätze durch die Schönebecker Gummiwerke sowie Canna-Schweinsleder von sämtlichen Lederfabriken. Der Produktionsplan wurde zu 90,6 Prozent erfüllt.
Im VEB Kaliwerk Marx-Engels, Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, fehlen zum Bau einer Elektrofilteranlage 190 000 Mauersteine. Die Intelligenzler bringen zum Ausdruck, dass das Fehlen dieser Steine einen Stillstand des Werkes nach sich ziehen kann.
Im VEB Kraftverkehr Meißen, [Bezirk] Dresden, bestehen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Reifen. Es besteht Missstimmung darüber, dass die neu aufgesetzten Zylinderköpfe schon nach 3[00] bis 400 km wieder zerreißen. Es wird vermutet, dass es sich um alte Zylinderköpfe handelt, die wieder hergerichtet wurden. Außerdem besteht ein Engpass an Zündkerzen.
In der Autobuswerkstatt Dresden/Blasewitz bestehen Schwierigkeiten in der Ersatzteilbeschaffung für die Horch-Busse.41 Die in der DHZ Zwickau lagernden Teile sind nur für den Export bestimmt.
In dem VEB Pumpenfabrik Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, treten Schwierigkeiten in der Anlieferung von Kolbenringen und Ventilfedern auf.
Im »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg42 fehlen für die Dieselmotorenfertigung unlegierte Kohlenstoffstähle. Für die Ventilkegelfertigung fehlt hitzebeständiger Ventilkegelspezialstahl aus Importlieferungen.
Arbeitskräftemangel besteht in der Warnow-Werft Warnemünde, [Stadt] Rostock. Für das Objekt »Sowj[etski] Sojus«43 fehlen ca. 60 Entroster. Auf der anderen Seite im Schiffbau müssen jeden Tag Wartestunden geschrieben werden. Die Arbeiter des Schiffbaues weigern sich aber, Entrostungsarbeiten durchzuführen, da sie einer anderen Lohngruppe angehören.
Mangelhafte Qualität der Materialien
Aus der Neptunwerft Rostock berichtete der Werkzeugleiter der Wergzeugmacherei, dass der von Thale kommende Werkzeugstahl eine sehr schlechte Qualität aufweist und sich die Kollegen weigern, diesen Stahl zu verarbeiten.
In der Walzendreherei des Stahlwerkes Riesa, [Bezirk] Dresden, wird über die schlechte Qualität der von der Walzengießerei Coswig gelieferten Walzen Klage geführt. Sie sind nur beim 1. Arbeitsgang qualitätsmäßig in Ordnung.
Terminverzug
Aus der Werft Warnemünde wurde bekannt, dass die für den Frachter Typ IV44 benötigten Motor[en] nicht vor dem 31.12.1954 vom EKM-Werk Halberstadt geliefert werden können, andererseits aber die Werft den Termin hat, das 1. und 2. Schiff schon bis Oktober 1955 herzustellen.
Absatzschwierigkeiten
Im VEB Feintechnik in Eisfeld, [Bezirk] Suhl, bestehen Absatzschwierigkeiten für Rasierklingen. Zurzeit lagern dort 10 000 000 Stück. Trotzdem werden durch die DIA Klingen laufend eingeführt und der Betrieb erhält weiterhin laufend Aufträge, Klingen zu produzieren. Dem Ministerium ist diese Situation schon wochenlang bekannt.
Mangel an Leerwagen
Im Thomas-Müntzer-Schacht in Sangerhausen,45 [Bezirk] Halle, besteht ein Mangel an Leerwagen. Es wurden schon vor längerer Zeit beim Kombinat in Eisleben 100 Wagen angefordert. Das Fehlen der Leerwagen ruft bei den Bergarbeitern Missstimmung hervor.