Zur Beurteilung der Situation
15. November 1954
Informationsdienst Nr. 2367 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen über politische Tagesfragen sind nur gering. Dabei wird vorwiegend noch über die Prozesse gegen die Gehlen-Agenten gesprochen.1 Inhaltlich haben sich gegenüber den Vortagen keine Änderungen ergeben. Meist ist man mit dem Urteil für die sieben Agenten vor dem Obersten Gericht einverstanden bzw. erwartet bei den noch stattfindenden Prozessen hohe Strafen.2
Ein geringer Teil Arbeiter und auch Angestellte hat eine höhere Strafe für die sieben Agenten erhofft. So ist z. B. der größte Teil der Arbeiter im RAW Meiningen, [Bezirk] Suhl, nicht einverstanden. Sie sind der Meinung, dass die Todesstrafe für solche Verbrecher nicht hart genug ist. Ähnlich äußerten sich die Kollegen aus der großen Schmiede des »Ernst-Thälmann«-Werkes Magdeburg.
Vereinzelt wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Auswahl leitender Wirtschaftsfunktionäre und die Kontrolle über ihre Tätigkeit viel zu gering sei und deshalb verstärkt werden müsse. So sagte z. B. ein parteiloser Kollege aus dem VEB Keramische Werke Hermsdorf, [Bezirk] Gera: »Es wird nun langsam Zeit, dass man dahinter kommt und die Angestellten und Großen von oben herab unter die Lupe nimmt.«
Im VEB Böhlen, [Bezirk] Leipzig, wurde von 20 Kollegen in einer Diskussion zum Ausdruck gebracht: »Da kann man wieder einmal sehen, erst waren sie Kohlenschipper, dann wurden sie Betriebsleiter und bekamen ein klotziges Geld, das ihnen bald nicht mehr reichte. Warum setzt man solche Kreaturen überhaupt erst in solchen Funktionen ein. Wir Arbeiter können das jetzt wieder ausbaden.«
Negative Diskussionen traten nur vereinzelt mit verschiedenen Argumenten auf. Jugendliche Arbeiter aus dem VEB Vogtländische Baumwollweberei in Plauen: »Wenn für die Menschen die Todesstrafe verhängt wird, dann müsste auch John sie erhalten,3 weil der doch auch Verrat an der Bundesregierung geübt hat.«
Ein Kollege von der Aufholzung des RAW Brandenburg-West, [Bezirk] Potsdam, war erstaunt, dass für zwei Agenten die Todesstrafe beantragt wurde. Dabei brachte er zum Ausdruck, dass gegen die Hinrichtung der Rosenbergs so scharf protestiert wurde,4 während man hier ebenfalls die Todesstrafe verhängt. Mehrere Kollegen der Abteilung stimmten diesen Ausführungen zu.
Die Arbeiterinnen der Packerei in der Konsum-Keksfabrik Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, lehnten eine Versammlung zwecks Annahme einer Resolution an den Generalstaatsanwalt ab, mit der Begründung, wenn es einmal anders kommt, stünden ihre Namen vorn.
In kleinerem Umfang spricht man über die Remilitarisierungspolitik Adenauers,5 wobei man sich meist gegen die Pariser Verträge6 und vereinzelt gegen den Verbotsprozess gegen die KPD7 wendet. Solche Meinungen wurden größtenteils bei der Annahme von Resolutionen zum Ausdruck gebracht. Bei diesen Diskussionen zeigt sich, dass ein Teil der Werktätigen die Resolutionen für zwecklos hält. So äußerte z. B. ein Arbeiter aus dem EKS,8 [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Alle Resolutionen und Reden von uns und den Westdeutschen werden wenig Zweck haben. Die in Bonn sitzen, lassen sich dadurch nicht einschüchtern, denn hinter allem steht der Ami.« Diese Meinungen werden, wie der Bezirk Frankfurt/Oder berichtet, häufig vertreten.
Vorwiegend wird über betriebliche Angelegenheiten gesprochen, worüber teilweise Unzufriedenheit besteht.
Eine starke Missstimmung besteht unter den Kollegen der Dreherei des VEB Netzschkauer Maschinenfabrik, Werk III in Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Das Werk hat das Stromkontingent überschritten, hauptsächlich, weil die Abteilungsmeister alle Arbeiter, die irgendein ärztliches Attest brachten, von der Nachtschicht befreiten. Die Betriebsleitung sah sich deshalb gezwungen, ab 15.11.1954 alle Arbeiter an Maschinen, die einen großen Stromverbrauch haben, für die Nachtschicht einzuteilen. Mit dieser Maßnahme sind die Kollegen der Brigade Schaller sowie die Dreherei des Werkes III nicht einverstanden. Sie wollen ihre Arbeit ebenso wie an den anderen Tagen aufnehmen.
In der Abteilung Schweißerei des VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden, sind zwei Brigaden unzufrieden wegen der neuen Normenermittlung beim Kühlwagenbau. Es ist [sic!] die Meinung vertreten: »Wenn sie uns den Verdienst beschneiden, werden wir kündigen.«
Wie bereits gemeldet,9 lagern beim VEB Werk für Fernmeldewesen Berlin große Mengen an Rundfunkröhren, die nicht absetzbar sind. Deshalb soll die Belegschaftsstärke von 8 000 auf 7 000 Kollegen reduziert werden. Diese Maßnahme führt zu heftigen Diskussionen unter der Belegschaft, besonders unter den Angehörigen der Intelligenz.
Unter den Arbeitern der VEB FER in Broterrode,10 [Bezirk] Suhl, herrscht eine schlechte Stimmung, da das angelieferte Material für die Herstellung von Scheinwerfern in den Abmessungen und in der Qualität mangelhaft ist.
Durch die Einführung des Typenstellenplanes11 im Bereich des Ministeriums für Leichtindustrie gibt es in der Textilindustrie eine Reihe von Arbeitsgruppen, deren Bezahlung durch die neue Einstufung geringer wird. Dadurch kommt es zu Abwanderungen von Arbeitskräften, besonders in den Bekleidungswerken Güstrow und Wittenberge, [Bezirk] Schwerin.
Im VEB Welton in Meiningen,12 [Bezirk] Suhl, lagern Massenbedarfsartikel im Werte von 10 000 DM, die wegen Verzögerung der Preisgenehmigung durch den Rat des Bezirkes Suhl nicht in den Handel gebracht werden können. Die Genehmigung wurde bereits vor einigen Wochen beantragt.
Materialmangel besteht in einigen Betrieben mehrfach wegen schleppender Zulieferung, wodurch Arbeitsstockungen eintreten.
In der mechanischen Werkstatt des [Wismut-]Objektes Johann-Georgenstadt13 fehlt es bereits seit zwei Wochen an Blechen und Kugellagern, wodurch bei den Brigaden Arbeitsstockungen eintreten. Ähnlich ist es im Wismut-Objekt 101 in Zwickau bei der Versorgung mit Rohr und Elektrodraht.
Bei der Bau-Union Magdeburg ist die Materialversorgung mangelhaft, da es an Fahrzeugen fehlt. Die Kollegen müssen Ausweicharbeiten verrichten. Der Produktionsplan ist gefährdet. Schwerpunkt sind die Baustellen in Harbke, Völpke, Badelegen,14 Halberstadt, Wernigerode.
Im VEB Korbwarenfabrik Neustadt,15 [Bezirk] Dresden, bestehen Schwierigkeiten in der Versorgung mit Rohmaterialien. Es besteht die Gefahr, dass der Betrieb zwei bis drei Wochen seine Produktion einstellen muss.
In den Braunkohlenwerken im Kreis Weißwasser mangelt es an Sprengkapseln. So wurden vom 2. bis 10.11.[1954] nur 1 500, bei einem Verbrauch von ca. 10 000 Stück geliefert.
Im VEB Wärmegeräte- und Armaturenwerk Berlin Köpenick besteht ein großer Mangel an Armaturen. Dadurch kommt die Badeöfenproduktion (Massenbedarfsgüter) ins Stocken.
Im VEB Kraftwerk Bitterfeld fehlt es an Ersatzteilen für zwölf Omnibusse, wodurch der Berufsverkehr sehr gefährdet ist.
Produktionsstörungen
Im Braunkohlenwerk Nachterstedt, [Bezirk] Halle, musste der Hauptdampfkessel wegen schadhaftem Mauerwerk in der Feuerung außer Betrieb gesetzt werden. Der Tagesplan kann deshalb nicht erfüllt werden.
Im Sodawerk »Karl Marx« in Bernburg, [Bezirk] Halle, musste am 12.11.1954 der Hochdruckkessel 4 infolge eines Rohrbläsers außer Betrieb gesetzt werden. Das bedeutet einen Produktionsausfall von 100 Tonnen Soda.
Handel und Versorgung
Die teilweise unzureichende Warenstreuung verursacht immer wieder Unzufriedenheit und macht sich wie folgt bemerkbar.
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Im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, fehlt es an Fleisch.
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Im Kreis Illmenau, [Bezirk] Suhl, an HO-Fleisch, Fisch, Eiern, Schokoladenerzeugnissen.
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Im Kreis Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, Herrenhemden. Dazu sagt die Bevölkerung: »Jetzt ist bald Weihnachten, da müssen sie auch eine bessere Qualität und ein größeres Angebot bringen.«
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Im Kreis Saalfeld, [Bezirk] Gera, mangelt es an Fischkonserven und Käse, Geschäftsleute sagen hierzu: »Vor der Wahl hatten wir das alles,16 jetzt ist es wieder verschwunden.«
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Im Bezirk Schwerin (Stärkeerzeugnisse, Käse). Bei Dauerback- und Süßwaren ergaben sich Schwierigkeiten durch den Mangel an Verpackungsmaterial und Transportmitteln.
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Im Bezirk Rostock fehlen Winterkonfektion und Baustoffe.
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Im Bezirk Dresden fehlen Auto- und Motorradbereifung, im Kreis Riesa17 Kinderschuhe.
Die Kollegen der Ziegelindustrie des Kreises Gransee, [Bezirk] Potsdam, beschweren sich darüber, dass die Versorgung mit Zigaretten, besonders »Turf« und »Casino«, nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht, denn gerade diese billigen Zigaretten werden am meisten geraucht.
Die HO Wismut Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erhielt aus dem Lager Rabenstein der Zentralen Verwaltung Wismut Karl-Marx-Stadt Velour-Schuhe zurück, welche dort ca. ein viertel Jahr gelagert hatten und für den Export bestimmt waren. Der Wert dieser Schuhe beträgt ca. 25 000 DM. Beim Auspacken der Schuhe im Lager Zwickau, Osterweihstraße, wurde festgestellt, dass die Schuhe zu einem Teil verschimmelt waren. Was auf unsachgemäße und feuchte Lagerung zurückzuführen ist. Der übrige Teil der Schuhe ist ebenfalls feucht und es besteht die Gefahr, wenn nicht sofort Maßnahmen zum Trocknen ergriffen werden, dass diese ebenfalls verschimmeln.
Landwirtschaft
Die Landbevölkerung diskutiert nach wie vor nur wenig, aber überwiegend positiv über politische Tagesfragen. Die meisten positiven Stimmen stammen aus dem sozialistischen Sektor der Landwirtschaft. Vielfach kommt zum Ausdruck, dass das Urteil gegen die sieben Gehlen-Agenten zu mild ist. Allgemein hat man die Todesstrafe für alle sieben Angeklagten erwartet und ist auch heute noch der Ansicht, dass die Todesstrafe das einzig richtige Strafmaß für die Verbrecher sei. Hierzu einige Beispiele:
Ein Arbeiter von der MTS Golzow, [Kreis] Seelow, [Bezirk] Frankfurt, sagte: »Außer den beiden Todesurteilen sind die Strafen bei den anderen zu gering, denn den Schaden, den diese Banditen der DDR zugefügt haben, müssen wir durch unsere Hände Arbeit wieder gutmachen. Ich kann aber nicht verstehen, dass dieser Bandelow18 Mitglied der SED war.«
Ein Traktorist vom VEG Neuendorf, [Kreis] Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Die Strafe ist noch viel zu niedrig. Es müssen alle hingerichtet werden, aber nicht sofort, damit sie über ihre verbrecherische Tätigkeit nachdenken können und bis zu ihrer Hinrichtung seelisch zugrunde gehen.« Ähnliche Meinungen werden auch unter vielen anderen MTS-Belegschaften vertreten.
Ein werktätiger Einzelbauer aus Qualzow, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam: »Wir haben uns als werktätige Bauern wieder eine Existenz geschaffen und erhalten vonseiten unserer Regierung für die Festigung unserer Wirtschaften jegliche Unterstützung. Auf der anderen Seite aber will die Gehlen-Organisation versuchen, unseren friedlichen Aufbau zu hemmen und zu schädigen, wo sie nur kann. Man hätte nach meiner Meinung alle zum Tode verurteilen sollen.«
Ein werktätiger Bauer (parteilos), Kreis Rochlitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Diesen Verbrechern müsste allen der Kopf abgeschlagen werden. Wenn sie unseren Staat unterwühlen, gehört ihnen nichts mehr. Wir haben unsere Kinder im Krieg verloren und diese Verbrecher bereiten jetzt schon wieder einen neuen Krieg vor.«
Im Vordergrund des Interesses stehen die Hackfruchternte und die Beseitigung der Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben. So klagen im Bezirk Schwerin z. B. Bürgermeister verschiedener Gemeinden über die mangelhafte Bereitstellung von Waggons für die Zuckerrüben. In Herzfeld, [Kreis] Parchim, wurde wiederholt der Rübentransport eingeplant, aber die bereitgestellten Waggons für andere Zwecke eingesetzt. Die Bauern waren mit den beladenen Fahrzeugen am Bahnhof erschienen und mussten feststellen, dass die Waggons nicht für Zuckerrüben mehr bereitstanden. Zu bemerken ist, dass der größte Teil der Bauern eine Anfahrt von ca. zwei Stunden hatte.
In den Gebirgsgemeinden des Kreises Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden, herrscht unter den Bauern eine schlechte Stimmung, weil man aufgrund der schlechten Kartoffelernte Kontrollen zur Erfüllung des Solls durchgeführt hat und dann die gelieferten Kartoffeln von der VEAB nicht abgenommen wurden. Ein Bürgermeister sagte dazu: »Die Bauern sind darüber unzufrieden. Erst kontrollieren zwei Erfassungsinstrukteure vom Kreisrat, damit das Soll der Gemeinde zusammenkommt und nun lagern bereits 240 Ztr. Kartoffeln über acht Tage im Gasthof. Acht weitere Bauern musste ich wieder zurückschicken, die VEAB lehnte die Abnahme der Kartoffeln ab, weil angeblich die Lagerräume in Dresden voll sind.«
Oft kommen Klagen über die schlechte Arbeit der MTS. Die werktätigen Bauern des Kreises Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, beschweren sich über die schlechte Arbeit der MTS Wittstock. Ein Kleinbauer, Mitglied der SED, hat mit dieser MTS einen Vertrag abgeschlossen, die gerodeten Zuckerrüben vom Felde zu fahren, da er keine Zugkräfte besitzt. Er erklärte, dass die MTS bei Bauern mit drei Pferden die Rüben mit Traktoren und Anhängern holt, es aber nicht für nötig hält, einem Kleinbauern zu helfen.
Das MTS-Agronomkollektiv Poserin, [Bezirk] Schwerin, wird den Beschlüssen der Parteileitung und der Regierung nicht gerecht. Die Ursache liegt in der ungenügenden Qualifizierung des Kollektivs. So werden Arbeiten durchgeführt, die im Arbeitsplan nicht vorgesehen sind und zwangsläufig zu Unstimmigkeiten führen. Auf diese Zustände wurde der Kreisrat wiederholt aufmerksam gemacht, ohne eine Änderung herbeizuführen.
Übrige Bevölkerung
Weiterhin ist zu verzeichnen, dass verhältnismäßig wenig zu aktuellen politischen Tagesfragen Stellung genommen wird. Die bekannt gewordenen Stellungnahmen sind jedoch überwiegend positiv. Noch immer wird in den verschiedensten Bevölkerungskreisen über die Aburteilung der sieben Gehlen-Agenten vorm Obersten Gericht gesprochen. Neben den Äußerungen, die die Urteile als gerecht bezeichnen, kommt es vielfach noch immer zu der Meinung, dass alle sieben Agenten die Todesstrafe verdient hätten. Zum Beispiel erklärte ein Lehrer aus Altthymen, [Bezirk] Potsdam, dass er mit den Urteilen einverstanden ist. Unter anderem sagte er: »Als ehemaliger Stabsoffizier verabscheue ich auf das Tiefste die Handlungsweise dieser Banditen. Als Menschen kann man sie nicht mehr bezeichnen. Als ehemaliger Offizier weiß ich, was Krieg bedeutet. Darum bin ich mit dem Urteil über die sieben Banditen voll einverstanden, denn sie haben ja durch ihre Tätigkeit geholfen, einen neuen Krieg vorzubereiten.«
Im Gegensatz dazu sagte ein Malermeister aus Zarrenthin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich habe die Verhandlungen gegen die sieben Gehlen-Agenten ständig im Rundfunk verfolgt. Ich bin der Meinung, dass die Strafe nicht hoch genug ist, und dass alle die Todesstrafe verdient haben.«
Eine Hausfrau aus Ebersbach, [Bezirk] Dresden: »Die ausgesprochenen Strafen sind viel zu gering. Solche Leute, die einen neuen Krieg wollen, haben alle die Todesstrafe verdient.«
Ein Angestellter vom Rat des Kreises Angermünde, [Bezirk] Frankfurt: »Wenn man bedenkt, für welche Kriegsvorbereitungen diese Verbrecher gearbeitet haben, so ist diese Strafe viel zu niedrig. Alle sieben Agenten hätten den Kopf verlieren müssen.«
Zu dem Prozess gegen die acht Gehlen-Agenten in Erfurt19 sagte der Bürgermeister (CDU) von Leinefelde, [Bezirk] Erfurt: »Wenn man sieht, dass es alles leitende Angestellte sind, dann weiß man gar nicht mehr, wem man noch trauen kann. Zu mir als Bürgermeister kommt oft jemand und will alles Mögliche wissen. Man muss sich tatsächlich erst immer Gewissheit verschaffen, ob derjenige das immer zu wissen braucht.«
Nach dem Prozess in Magdeburg20 fand zwischen den Delegierten der Betriebe und dem Bezirksstaatsanwalt eine Aussprache statt. Dabei wurde vorwiegend über den Strafantrag diskutiert. Es wurde vielfach die Meinung vertreten, dass die Strafe – 15 Jahre Zuchthaus für den alten Faschisten Knoll21 – viel zu gering sei. Darauf erwiderte der Bezirksstaatsanwalt, dass nach 15 Jahren nur eine Strafe von lebenslänglichem Zuchthaus erfolgen könne und dass dieses Strafmaß dann zu hoch sei. Des Weiteren wurde von den Anwesenden kritisiert, dass die Verteidiger an dieser Aussprache nicht teilnehmen. Für sie wäre es doch gerade angebracht, die Meinung der Bevölkerung über ihr Verhalten beim Prozess zu hören.
Weiterhin werden Protestkundgebungen durchgeführt und Resolution gegen die Schandverträge von London22 und Paris verfasst. In positiven Stellungnahmen spricht man sich gegen die Handlungsweise Adenauers in der Saarfrage23 aus. Zum Beispiel sagte ein Angestellter der Konsumfleischerei in Zeitz, [Bezirk] Halle: »Das ganze Volk müsste gegen den Landesverräter Adenauer mobilisiert werden, der 1 Million Deutsche im Saarland an die Imperialisten verschachern will.«
In den vereinzelt negativen Diskussionen – vorwiegend aus bürgerlichen Kreisen – wird die Politik Adenauers befürwortet: Zum Beispiel sagte ein Sägewerkbesitzer (parteilos) aus Möser, [Bezirk] Magdeburg: »Adenauer weiß schon, was er will. Er kriegt seine Verträge unter Dach und Fach. Ich bin drüben gewesen und weiß, wie es da aussieht.«
Ein Fuhrunternehmer (parteilos) aus Burg, [Bezirk] Magdeburg: »Wir kriegen doch erst dann die Einheit, wenn der Westen sich stark zeigt.«
Aus dem Bezirk Suhl wird berichtet, dass des Öfteren unter der Bevölkerung über die Begünstigung der Rückkehrer aus Westdeutschland gesprochen wird. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau aus Suhl: »Erst sind diese Menschen abgehauen, als es uns auch noch nicht gut ging. Erst haben sie sich vor dem Aufbau der DDR gedrückt und jetzt kommen sie wieder. Sie bekommen gleich Wohnung und erhalten auch noch 2 000 DM Kredit.24 Diejenigen, die sich von Anfang an am25 Aufbau unserer Republik beteiligt haben, werden dadurch in der Wohnungsfrage zurückgesetzt.«
In einer Vorstandssitzung der NDPD des Stadtbezirkes West in Magdeburg kritisierten die Mitglieder den »Ernst Thälmann«-Film.26 Vor allem wurde über die Szene, in der die Arbeiter im Kampf gegen die damalige Polizei erfolgreich waren, gesprochen. Es wurde der Standpunkt vertreten, dass diese Polizei die deutsche Wehrmacht verkörperte und durch so eine Darstellung dieselbe herabgewürdigt wurde. Die deutsche Wehrmacht wäre vorbildlich gewesen.
Aus den Kreisen der Kirche
In der Gemeinde Braschwitz, [Kreis] Saalkreis, [Bezirk] Halle, hat sich nach der Volkswahl die Tätigkeit der Jungen Gemeinde verstärkt. Zum Beispiel werden in der Wohnung eines Kreisvorstandsmitgliedes der CDU jeden Freitag Zusammenkünfte durchgeführt. Dabei werden Lebensmittelpakete aus dem Westen verteilt.27
Über wirtschaftliche Fragen wird in einem weit größeren Rahmen gesprochen. Dabei sind es vor allem die Mängel in Handel und Versorgung, die Verärgerung hervorgerufen. Außerdem entstehen negative Diskussionen in geringem Maße. Zum Beispiel sind im Kreis Wittenberg, [Bezirk] Halle, die Taxifahrer darüber ungehalten, dass sie keine Reifen für ihre Fahrzeuge bekommen. Zu dem gleichen Problem äußerte ein Angestellter des VEB Textilveredlung Zittau, [Bezirk] Dresden: »Ich habe mich schon überall bemüht, Reifen in der Größe 3,25 und 3,40 mal 19 zu erhalten. Nirgends sind diese Reifen vorrätig, außer in Berlin. Man kann aber nicht verlangen, dass man wegen dieser Reifen extra nach Berlin fährt. Dann kosten sie mich genauso viel wie vor der Preissenkung.«28
Im Kreis Riesa besteht eine schlechte Belieferung mit Kinderschuhen. Dazu äußerte eine Hausfrau: »Wenn unsere Kinder nicht die nötigen Schuhe bekommen, schicken wir sie einfach nicht mehr in die Schule.« (Es handelt sich dabei vorwiegend um die Größen 27–29.)
Im Bezirk Frankfurt fehlt es an einzelnen Orten an Kinderkleidung sowie an Hülsenfrüchten, Gemüse und zum Teil auch an Speck und Fett auf Lebensmittelkarten. Neben den abfälligen Bemerkungen über die wirtschaftliche Lage kommt es vereinzelt auch zu feindlichen Äußerungen wie z. B. in einem Geschäft in Frankfurt, wo eine Hausfrau sagte: »Es muss wohl erst wieder ein neuer 17. Juni [1953] kommen, damit es genügend Hülsenfrüchte gibt.«
Im Demokratischen Sektor von Groß-Berlin sind die Kohlenhändler sowie die Bevölkerung darüber ungehalten, dass von der DHZ Kohle die Belieferung des Kohlenkontingents größtenteils nur mit Halbsteinen erfolgt. Vielfach wird von der Bevölkerung geäußert, dass man die Gelder, die man für Prämien ausschüttet, lieber dazu verwenden sollte, Kohlenpressen zu bauen, damit endlich die »Schweinerei« mit Halbsteinen aufhöre. Die Ursache der Ablehnung liegt darin, dass die Räumlichkeiten für die Unterbringung der Halbsteine fehlen und dass es einen Großteil gibt, die ihre [sic!] Kohlen in der Wohnung lagern müssen.
Aus den Kreisen der Handwerker
Im Bezirk Frankfurt herrscht unter den Handwerkern über die Kohlenzuteilung Unzufriedenheit. Ihrer Meinung nach, müssten sie mehr Kohle geliefert bekommen. Der Besitzer einer Schreinerei aus Brotterode, [Bezirk] Suhl, der im Durchschnitt drei bis vier Arbeiter beschäftigt, äußerte: »Wenn wir unseren Arbeitern keine höheren Löhne zahlen können, dann sind wir nicht mehr in der Lage, die Aufträge der Genossenschaft zu erfüllen. Die Arbeiter verlassen uns und gehen in volkseigene Betriebe, wo sie mehr verdienen.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD-Ostbüro:29 Gera 1 000, Frankfurt 6 000, Potsdam 5 000, Rostock und Dresden einige.
NTS:30 Frankfurt 1 000, Dresden 740, Karl-Marx-Stadt 140, Halle 20 und Gera 20.
In tschechischer Sprache: Karl-Marx-Stadt 1 640, Cottbus 5 300, Dresden 2 200.
KgU:31 Cottbus 4 000, Halle und Dresden einige.
Die Hetzschriften wurden größtenteils durch Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Terror
Im Stadtbezirk Dessau-Süd wurde am 12.11.[1954] ein Genosse gegen 21.50 Uhr von unbekannten Tätern in der Straße Ecke Augustastraße32 niedergeschlagen. Verletzungen im Gesicht und an den Augen machten eine Einlieferung in die Augenklinik notwendig.
Diversion
Am 12.11.1954 brach gegen 18.00 Uhr in der LPG »8. Mai« in Falkensee, [Bezirk] Potsdam, im Kuhstall der LPG ein Brand aus. Täter festgenommen. Sachschaden: ca. 8 000 DM.
Gerücht
In der Halle 46 des »Karl-Marx«-Werkes Babelsberg, [Stadt] Potsdam, verbreitete ein Schichtführer das Gerücht, dass es zu Weihnachten in Westberlin Liebesgabenpakete (6 kg) für Bewohner der DDR gibt. Er äußerte weiter, dass schon 140 000 Pakete in Westberlin lagern.
Gefälschte Schreiben
Am 11.11.1954 wurde dem Leiter des VPKA Brandenburg ein gefälschtes Schreiben zugesandt. In diesem Schreiben werden zwei VP Offiziere des VPKA Neubrandenburg aufgefordert, am 1.12.[1954] an einer kurzen Besprechung in Berlin über durchzuführende Sicherungsmaßnahmen teilzunehmen. Unterzeichnet ist dieses Schreiben: Stellvertretender Hauptabteilungsleiter, Siegemund,33 VP-Inspekteur, Dienstsiegel: DDR, HVDVP Siegel Nr. 12. Als Absender des Briefes ist weiter angegeben, Siegemund, Berlin-Lichtenberg, Gudrunstraße 18/II.
Vermutliche Feindtätigkeit
In der Nacht vom 11.11. zum 12.11.[1954] wurde aus einer Feldscheune der MTS Tanna, [Bezirk] Gera, von einem Dreschsatz ein 10 m langer Ledertreibriemen entwendet.
Dem Großhandelskontor Lebensmittel Meißen, [Bezirk] Dresden, wurde am 8.11.1954 ein Rundschreiben zur Qualifizierung der Mitarbeiter zugestellt. Bei der Durcharbeitung dieses Planes zu dem Thema: »2 Wege der Entwicklung Deutschlands nach 1945« wurde die Literatur ausgegeben: Herrnstadt34: »Der Weg in die DDR«.35
Am 11.11.1954 befand sich ein Traktorist von der MTS Fretzdorf, [Bezirk] Potsdam, gegen 20.30 Uhr auf dem Feld der LPG, um dort zu pflügen. Der Traktorist bemerkte in einiger Entfernung mehrere unbekannte Personen, die sich zum nahen Wald entfernten. Als er zwei andere Traktoristen holen wollte und sich auf dem Weg befand, wurde ihm plötzlich die Windschutzscheibe zertrümmert.
Westberlin
Am 8.11.1954 fand in der Aula der Schule Schillerstraße Berlin-Charlottenburg eine Wahlversammlung der CDU statt. Anwesend ca. 160 Personen. Referent: Tiburtius.36 In der Diskussion sprachen sechs Redner, parteilos
Als erste sprach eine christlich eingestellte Mutter von drei Kindern, die gegen eine europäische oder westdeutsche Wehrmacht Stellung nahm, weil sie darin eine Gefahr für ihre Kinder sieht. Dann wandte sich ein Jugendlicher gegen die 4-jährige Grundschule und bezeichnete die Schulpolitik des Senats als einen großen Rückschritt.
Eine 70-jährige Frau sprach über die Verwahrlosung der Jugend durch Schundfilm und Schundliteratur. Sie verlangte ein Gesetz, in welchem der Druck der Schundliteratur unter Strafe gestellt wird. Sie rief aus: »Wozu baut ihr die großen Paläste. Baut lieber anständige Wohnungen und stellt die Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands in den Vordergrund.«
Ein junger Mann, der im Kriege Eltern und Wohnung verloren hatte, stellte die Frage, ob unsere Jugend wie unter Hitler zu Mördern erzogen werden sollte. Er geiselte mit scharfen Worten die Ursachen der Westberliner Verkehrsunfälle und sagte, dass man ihn bei der Stummpolizei37 in der Friedensstraße auf seine Vorstellung geantwortet habe, man verfüge nicht über genügend Personal. Er verlangte in diesem Zusammenhang, dass man die Bereitschaftspolizei für die Verkehrssicherheit einsetzen soll, statt sie für den Bürgerkrieg zu drillen.
Als Letzter sprach ein erwerbsloser Architekt über Wohnungswesen und Mietpreiserhöhungen und verlangte, Erhöhung der Unterstützungssätze und Senkung der Mieten.