Zur Beurteilung der Situation
5. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2105 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Mehrzahl der Werktätigen verfolgt weiterhin interessiert den Verlauf der Viererkonferenz.1 In den Diskussionen werden oft die Initiative der SU und die Reden des Außenministers Molotow begrüßt und unterstützt.2 Ein Arbeiter von der Bau-Union Potsdam in Wünsdorf, [Bezirk] Potsdam: »Die SU versucht auf der Konferenz die internationalen Spannungen zu beseitigen. Sie ist gewillt, einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen. Der Entwurf eines Friedensvertrages, den Molotow vorlegte, ist für uns Deutsche annehmbar.«3
Ein Arbeiter aus dem Mansfeld Kombinat »Wilhelm Pieck« in Eisleben, [Bezirk] Halle: »Ich muss sagen, dass sich der Außenminister Molotow tatkräftig für die Interessen des deutschen Volkes einsetzt. Wenn alle friedliebenden Menschen die Forderung auf Zulassung deutscher Vertreter zur Konferenz stellen, dann müssen die drei westlichen Außenminister dem Druck nachgeben.«4
Vereinzelt sind Stimmen bekannt geworden, die die Vorschläge der SU ablehnen. In diesem Zusammenhang werden dagegen »freie Wahlen«5 und die Revision der Oder-Neiße-Grenze gefordert.6 Ein Arbeiter aus dem Wismut-Schacht 6 in Oberschlema,7 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Molotow soll nicht immer auf dem Potsdamer Abkommen rumreiten,8 denn bei uns in der DDR ist doch auch alles geändert. Siehe die Nationalen Streitkräfte.«9
Ein Arbeiter aus dem »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg: »Ich kann mich mit Molotow nicht einverstanden erklären. Ich bin für den Vorschlag der Westmächte, nämlich erst freie Wahlen und dann eine Regierungsbildung.«
Ein Angestellter vom Wismut-Schacht 207 in Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mein Wunsch ist, zurück in unsere Heimat Schlesien zu kommen. Ich hoffe, dass ich diesen Tag bald erleben werde.«
Über das Memorandum der Regierung der DDR10 wird weiterhin von einem Teil der Werktätigen meist zustimmend diskutiert. Ein Arbeiter vom Industrie-Werk Ludwigsfelde, [Bezirk] Potsdam: »Unsere Regierung konnte in ihrem Memorandum nicht offener und ehrlicher ihre Ansichten aufzeigen. Das beweist, dass ihr der Frieden das höchste Gebot ist.«
Vereinzelt sind Stimmen bekannt, die das Memorandum ablehnen, da es störend für die Konferenz sein könnte. Ein Angestellter von der Warnow-Werft Warnemünde, [Stadt] Rostock: »Aufgrund des Memorandums kann keine Einigung zwischen den Großmächten zustande kommen, da die Westmächte es ablehnen, das Potsdamer Abkommen als Grundlage der Verhandlungen anzuerkennen. Es war nicht richtig, dass sich unsere Regierung in die Verhandlungen einmischt.« Ein Angestellter aus dem VEB Kirow-Werk Leipzig: »Das Memorandum ist etwas zu scharf gewesen. Dadurch sind die Verhandlungspartner zurückgeschreckt worden.«
Infolge des bisherigen Verlaufs der Konferenz und der ablehnenden Haltung der Westmächte nimmt der Umfang der zweifelnden Stimmen an einem Erfolg der Konferenz zu.11 Es kommt darin zum Ausdruck, dass ein Scheitern entweder durch die Haltung der Westmächte oder durch die Haltung der SU eintreten kann oder auch, weil die Gegensätze zwischen beiden zu groß sind und niemand nachgeben wird.
Ein Angestellter aus der Gärungschemie in Dessau, [Bezirk] Halle: »Die Außenminister der Westmächte waren sich schon vorher einig, dass eine Einigung über die Deutschlandfrage auf keinen Fall zustande kommen dürfe, denn dann würde in Kürze Europa für den Kapitalismus verloren gehen.«
Ein Arbeiter aus dem Benzinwerk Böhlen,12 [Bezirk] Leipzig: »Die Konferenz wird wahrscheinlich kein positives Ergebnis bringen, da es dem Iwan gar nicht um Deutschland geht. Im Vordergrund steht einzig die Verbreitung des Kommunismus über die ganze Erde. Wenn die Konferenz scheitert, liegen die Ursachen alleine aufseiten der SU.«
Ein Arbeiter aus dem Kaliwerk »Glückauf« in Sondershausen, [Bezirk] Erfurt: »Hoffentlich bringt die Konferenz den Frieden. Nach dem bisherigen Verlauf sieht es aber so aus, dass keiner nachgeben will.«
Ein Angestellter vom VEB Jenapharm, [Bezirk] Gera: »Ich glaube nicht, dass es zu einer Einigung kommt, denn die Gegensätze zwischen dem Osten und dem Westen sind viel zu groß.«
Ein Arbeiter vom VEB Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera: »Viermal hat man uns nun schon aufgefordert zu unterschreiben.13 Aber die westlichen Außenminister erkennen das nicht an, sondern lachen höchstens darüber. Ich unterschreibe nichts mehr.«
Weitere Produktionsschwierigkeiten infolge Kohlenmangels aus den Bezirken Gera, Karl-Marx-Stadt, Halle und Dresden gemeldet.14 Der VEB Emaillierwerk Neustadt, [Bezirk] Dresden, der VEB Schott Jena, [Bezirk] Gera, und das Kraftwerk im Hydrierwerk Zeitz, [Bezirk] Halle, mussten deswegen die Produktion einstellen.
Absatzschwierigkeiten bestehen im VEB Märkische Ölwerke Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, wodurch die Gefahr der Betriebsstilllegung besteht.
Missstimmung herrscht unter den Rangierern des Güterbahnhofes Halle, da der Unfallschutz mangelhaft ist.15 So fehlt z. B. Viehsalz oder Sand, um das Glatteis zwischen und neben den Gleisen zu beseitigen. Dadurch sind in den letzten Tagen die Unfallziffern erheblich angestiegen.
Bei den Kunstseidewirkern im Feinstrumpfwerk »Drei Tannen« in Thalheim, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt,16 besteht eine schlechte Stimmung, da sie gegenüber den Kollegen der Monofilabteilung 140 DM weniger Lohn erhalten. Die Kunstseidewirker arbeiten nach technisch begründeten Arbeitsnormen, während in der Monofilindustrie noch keine TAN eingeführt sind.17
Landwirtschaft
Auf dem Lande hält bei dem größeren Teil der Landarbeiter, werktätigen Bauern und Genossenschaftsbauern die zweifelnde Stimmung an.18 Es werden Bedenken geäußert, die besagen, dass es nach dem bisherigen Verlauf der Konferenz zu urteilen, unwahrscheinlich ist, dass die Konferenz mit einem für das deutsche Volk fruchtbringenden Ergebnis enden wird. Viele Landarbeiter und werktätige Bauern schätzen die Bemühungen des Genossen Molotow und lehnen die Ausführungen der westlichen Außenminister entschieden ab.19 Ein werktätiger Bauer aus Thierbach, [Bezirk] Gera: »Ich habe ja vorausgesehen, dass bei dieser Konferenz nichts herauskommt. Man hat es ja bei der gestrigen Sitzung wieder gesehen, dass Dulles20 einfach die Vorschläge Molotows über die Einheit Deutschlands ablehnt.«
In einer Betriebsversammlung der MTS Thale, [Bezirk] Leipzig,21 wurde von der gesamten Belegschaft ein Dankschreiben an den Genossen Molotow gesandt. In diesem Schreiben sprach diese der SU ihr volles Vertrauen aus.
Der Vorsitzende der LPG Hirschfelde erklärte: »Molotow ist doch ein ausgezeichneter Diplomat und den kapitalistischen Außenministern in Kultur, Benehmen und anderem weit überlegen. Seine Vorschläge sind ehrlich und werden auch von uns richtig verstanden. Wenn man dagegen die anderen hört, dann hat man immer das Gefühl, dass eine Schlechtigkeit dahintersteckt. Ich sehe immer klarer, dass auch wir mehr dem Beispiel der Sowjetmenschen folgen müssen.«
Ein Genossenschaftsbauer aus der Gemeinde Zehren, [Bezirk] Dresden: »Wenn man dem Verlauf der Konferenz folgt, erkennt man, wie Dulles versucht, von dem wichtigsten Verhandlungspunkt abzulenken und Eden22 und Bidault23 ebenfalls in seinem Fahrwasser ziehen. Molotow dagegen hält [sich] bei [den] Verhandlungen konkret an die Beschlüsse von Potsdam.«
Durch negative Diskussionen versuchen großbäuerliche Elemente verstärkt, Unsicherheit zu verbreiten, die Zweifel unter den werktätigen Bauern zu bekräftigen. Hier besondere Aktivität im Bezirk Frankfurt/Oder. Die Fragen der Diskussion sind nach wie vor die Oder-Neiße-Grenze, »freie Wahlen« und »freie Wirtschaft«. Einige Großbauern aus Kleinromstedt, [Bezirk] Erfurt, hetzten werktätige Bauern dadurch auf, dass sie agitieren, nicht mehr als 60 Prozent an Soll abzuliefern. Zur Viererkonferenz sagte einer von diesen: »Freie Wahlen sind eine gute Sache, aber freie Wahlen werden ja nur im Westen gemacht. Bei uns gibt es so etwas nicht.« Ein anderer Bauer aus dem gleichen Ort: »Na wartet nur, es kommt bald wieder der Tag, wo auch wir wieder etwas zu sagen haben, aber da.«24
Großbauern aus Gahritz,25 [Bezirk] Frankfurt/Oder, sagten zum LPG-Vors[itzenden] der LPG dieses Ortes, die erst im Januar dieses Jahres gegründet wurde: »Wir brauchen keine LPG, wir bleiben freie Bauern. Die LPG ist nur eine ›Wilhelm Pieck‹-Garde.«26
In Hohensaben,27 [Bezirk] Frankfurt/Oder, gab es Diskussionen in einer öffentlichen Versammlung, in der ein Kreistagsabgeordneter sprach. Diskussionen, vertreten durch einen Gemeindevertreter, dass er nicht genau wüsste, ob es bei uns auch KZ gäbe, und wo diejenigen denn waren, die 1945 verschwanden und nur »PG«28 waren. Als die Diskussion die Arbeit der Nationalen Front29 berührte und an den Sekretär der SED vom Kreistagsabgeordneten die Frage gerichtet wurde, wie der Ausschuss der Nationalen Front arbeitet, antwortete dieser völlig uninteressiert: »Der Ausschuss besteht wohl schon zwei Jahre. Die anderen haben jedoch nichts gemacht und ich deshalb auch nicht.« Aufgrund dieser Erklärungen erfolgte bei den Versammlungsteilnehmern lautes Gelächter und es ertönten Zwischenrufe »die Nationale Front wird auch weiterschlafen«.30
Ein Großbauer aus Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg: »Die in Berlin fressen sich bloß richtig satt und alles auf unsere Kosten. Wenn die auseinandergehen, ist noch nichts zustande gekommen. Die westlichen Außenminister geben nicht nach und eines Tages wird es richtig krachen und die ganze Herrlichkeit ist verschwunden.«
MTS: In der MTS Friesag,31 [Bezirk] Schwerin, gibt es Unzufriedenheit unter den Arbeitern über die mangelnde gesellschaftspolitische Arbeit.32 In der Diskussion brachte ein parteiloser Kollege zum Ausdruck: »Unsere Kollegen sind heute mit einem Pferd ohne Kutscher zu vergleichen, welches ziellos in der Gegend herumspringt, weil der Kutscher im Bett liegt und vollkommen betrunken ist.« Der Direktor und andere Funktionäre widmen sich dem Alkohol und die Parteileitung sieht die Fehler nicht und zieht die Genossen nicht zur Verantwortung.
Mangel an Ersatzteilen besteht auf der MTS Setzin, [Bezirk] Schwerin. Dadurch ist die Erfüllung des Winterreparaturprogramms gefährdet.
Die Auftragswerbung der MTS Rochlitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, liegt nur bei 43 Prozent. In dieser MTS bestehen außerdem Schwierigkeiten in der Heranschaffung von Mähbalken, da die Mittel hierfür gestrichen wurden. Der Einsatz der Mähmaschinen ist dadurch nicht möglich.
Unter der Landbevölkerung verschiedener Kreise des Bezirkes Karl-Marx-Stadt herrscht Unzufriedenheit über die häufig stattfindenden Stromabschaltungen.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
In der übrigen Bevölkerung ist eine Zunahme der zweifelnden Stimmen über die Viererkonferenz festzustellen. Insbesondere kommt dies bei Geschäftsleuten und Angestellten der unteren Verwaltungsstellen zum Ausdruck, wobei sich oftmals Beeinflussung durch den RIAS bemerkbar macht. Oftmals kommt zum Ausdruck, dass es aufgrund der Gegensätze der zwei Lager zu keiner Einigung kommen kann. Ein nicht geringer Teil bezweifelt, dass auch nur ein Verhandlungspartner den Willen zur Herstellung der Einheit Deutschlands hat.33
Eine Angestellte der Stadtverwaltung Schwedt, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Die politischen Gegensätze zwischen den Westmächten und der SU sind zu groß und deshalb kann es auch zu keiner Einigung kommen.«
Ein Taxibesitzer (parteilos) aus Rudolstadt, [Bezirk] Gera: »Das war ja vorauszusehen, dass bei dieser Konferenz nichts herauskommen wird. Jeder der Außenminister verharrt auf seinem Standpunkt und keiner gibt nach.«
Ein Gastwirt aus Saalfeld, [Bezirk] Gera: »Der Russe stellt solche Anträge, wo er von vornherein weiß, dass sie von der Gegenseite nicht angenommen werden. Sie müssen ja vor aller Welt so tun, als ob sie den guten Willen hätten. Molotow kann reden, was er will, ehrlich meint es keiner mit uns.«
Einzelne Stimmen, besonders aus kleinbürgerlichen Kreisen, äußern sich offen gegen die Vorschläge der sowjetischen Delegation. Ein Viehkäufer aus Stendal, [Bezirk] Magdeburg: »Die Konferenz wird niemals zum Erfolg führen. Der Amerikaner lässt sich von Molotow nicht ins Schlepptau nehmen. Sie würden auch unklug handeln, wenn sie die Vorschläge der SU akzeptieren, denn diese Vorschläge sind nicht für die Menschheit, sondern für die Errichtung des Staatskapitalismus bestimmt.«
Vielfach, und aus allen Schichten, werden die diplomatischen Fähigkeiten des Genossen Molotow bewundert. Ein Mitglied der NDPD aus Genthin, [Bezirk] Magdeburg: »Bei der Verfolgung des Ablaufes der Konferenz muss man die Geschicklichkeit Molotows bewundern. Er versteht es immer wieder, die Gegner zurechtzuweisen.«
Viele, insbesondere kleinbürgerliche Elemente, unterstützen die westlichen Vorschläge über die Durchführung »freier Wahlen« und hoffen dabei auf eine Niederlage der fortschrittlichen Kräfte. Mehrere Handwerker aus Sonneberg, [Bezirk] Suhl: »Die Vorschläge der westlichen Außenminister, zuerst wählen, dann eine Regierung, sind richtig. Molotow macht deshalb Gegenvorschläge gegen diese Wahlen, weil er befürchtet, dass bei der Wahl die Kräfte der DDR den Kürzeren ziehen.«
Ein Friseur aus Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir brauchen eine Regierung, welche aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Erst dann wird vieles besser werden. Sollen sie doch dem Willen der westlichen Konferenzteilnehmer entsprechen und freie Wahlen durchführen. Was wir jetzt haben ist genau wie bei den Nazis, auch bloß Diktatur.«
Neben den zustimmenden Äußerungen zum Memorandum der Regierung der DDR wird aber auch seine Zweckmäßigkeit angezweifelt, da es von den Westmächten sowieso nicht beachtet würde. Ein SED-Genosse, Kaderleiter beim Rat der Stadt Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Viererkonferenz hat keinen Erfolg, denn die da drüben kehren sich doch nicht an das Memorandum der DDR, noch weniger an die Vorschläge der SU. Es ist doch alles Blödsinn.«
Feindtätigkeit
Flugblätter: Lediglich in den Bezirken Halle, Potsdam, Frankfurt/Oder wurden in geringer Anzahl Flugblätter zum Teil in sowjetischer Schrift festgestellt.
Vermutliche Feindtätigkeit
Im VEB Hartpappenwerk Lehnamühle, [Bezirk] Gera, wurden durch ein Eisenteil zwei Holländer schwer beschädigt.34 Durch den dadurch erfolgenden Ausfall dieser Maschinen für mindestens 14 Tage entsteht ein Schaden von ca. 55 000 DM. Diese Maschinen sind im Werk Schwerpunkte.
Im VEG Lietzow, [Bezirk] Potsdam, wurde ein Stall durch Feuer zerstört.