Zur Beurteilung der Situation
8. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2110 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Von einem großen Teil der Werktätigen werden die Verhandlungen der vier Außenminister mit Interesse verfolgt.1 Ein nicht geringer Teil der Arbeiter diskutiert positiv. Dabei ist charakteristisch, dass man sich nur sehr wenig konkret zu den einzelnen Vorschlägen äußert. Im VEB »7. Oktober« in Magdeburg vertritt z. B. ein großer Teil der Arbeiter die Meinung, dass die Vorschläge des Genossen Molotow2 eine reale Grundlage für einen Friedensvertrag haben und Dulles3 versuche, die Konferenz zum Scheitern zu bringen.4 Anerkennung finden auch die Fähigkeiten des Genossen Molotow als Diplomat.
Zu den Vorschlägen des Genossen Molotow, Abzug der Besatzungsmächte – vor freien und demokratischen Wahlen5 sowie Durchführung einer Volksbefragung,6 sind die verhältnismäßig noch gering bekannt gewordenen Meinungsäußerungen meist positiv.7
Der größte Teil der Arbeiter vom Gebäude 41 der Filmfabrik Wolfen bringt zum Ausdruck, dass Genosse Molotow den richtigen Vorschlag zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes gemacht hat.
In den Optischen Werken Rathenow, [Bezirk] Potsdam, wurden als Zeichen der Zustimmung einer Volksbefragung 1 500 Unterschriften geleistet.8 Solche und ähnliche Beispiele sind meist dort zu verzeichnen, wo eine gute Aufklärungsarbeit geleistet wird. Nur vereinzelt wurden gegenteilige Meinungen, meist von negativen Elementen, geäußert.9 Ein Arbeiter aus dem VEB Weberei Lichtenstein,10 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Unser aller Wunsch ist Abzug der Besatzungstruppen. Wenn der Vorschlag aber von Molotow kommt, so ist er mit Vorsicht zu betrachten.«
Ein Schweißer aus dem IKA-Auto-Werk Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Molotow verzögert nur die ganzen Verhandlungen. Wir brauchen keine Volksabstimmung, sondern einen Friedensvertrag.«11
Vereinzelt wird auch zum Ausdruck gebracht: »Wenn die Besatzungstruppen abziehen, gibt es einen Bruderkrieg in Deutschland.«
Ein Schlosser aus der Zemag Zeitz, [Bezirk] Halle: »Wenn die Besatzungsmächte abgehen, haben wir mit einem ähnlichen Krach wie am 17. Juni [1953] zu rechnen.«12
In den letzten Tagen haben die zweifelnden Stimmen etwas zugenommen,13 was zum Teil mit darauf zurückzuführen ist, dass bisher in den Verhandlungen keine Einigung erzielt wurde. Ein Teil hat aufgrund der ablehnenden Haltung der Westmächte die Hoffnung auf eine Einigung verloren,14 andere wieder suchen die Schuldfrage in der konsequenten Politik des Genossen Molotow. Vereinzelt wird auch zum Ausdruck gebracht, dass keiner der vier Außenminister ein Interesse an der Einheit Deutschlands habe. Mehrere Arbeiter vom Ofen 8 der Chemischen Werke Buna brachten zum Ausdruck: »Wenn sich wirklich alle Besatzungsmächte zurückziehen, wäre die Voraussetzung zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes günstiger und der Vorschlag Molotows nur zu begrüßen. Dulles wird aber diesen Vorschlag bestimmt wieder ablehnen.«
Zwei Arbeiter aus dem VEB Gießerei Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, brachten zum Ausdruck: »Die Außenminister werden in den wenigsten Punkten eine Einigung erzielen. Mit der Zeit wird die Konferenz langweilig, wir wollen schon gar nichts mehr hören. Hätten die uns mit unseren dummen Verstand nach Berlin geschickt, wir wären uns schon einig geworden.«
Neben solchen Stimmen, die geringer von Arbeitern, mehr aber von Angestellten und der Intelligenz geäußert werden, macht sich verschiedentlich eine abwartende Haltung, meist unter den gleichen Personenkreisen, bemerkbar. Im Georgi-Dimitroff-Werk in Magdeburg ist z. B. zu verzeichnen, dass sich Angestellte und Meister kaum zur Viermächtekonferenz äußern.15
Die Frage, warum werden die Reden der drei westlichen Außenminister nicht auch in unserer Presse veröffentlicht, wird immer wieder aufgeworfen.
In geringem Maße halten die negativen Stimmen weiterhin an.16 Hauptargumente, die in Erscheinung treten, sind die Oder-Neiße-Grenze, besonders bei ehemaligen Umsiedlern, sowie »freie Wahlen« nach westlichem Muster. Solche Meinungsäußerungen werden teils von Arbeitern meist aber von Angestellten und Intelligenzlern bekannt. Ein Arbeiter aus der Bauabteilung der Säurefabrik der Filmfabrik Wolfen, [Bezirk] Halle: »Der Russe soll uns ›freie Wahlen‹ lassen, aber davor haben sie die größte Angst. Was der Russe macht, ist auch nicht immer richtig. Wenn eine ›freie Wahl‹ stattfinden würde, wüssten sie alle, was los ist. Einer müsste ja dann doch weichen.«
Neben solchen negativen Äußerungen muss beachtet werden, dass teilweise durch mangelnde Aufklärung falsche Ansichten bestehen. Eine Brigade aus dem LEW Hennigsdorf,17 [Bezirk] Potsdam, diskutiert dahingehend, dass sie das kapitalistische System ablehnen, andererseits aber wollen sie »freie Wahlen«, wie sie von den westlichen Außenministern proklamiert werden.
Ein Teil der Arbeiter im Kraftwerk Finow bringt zum Ausdruck, dass erst Wahlen durchgeführt und anschließend eine Regierung gebildet werden soll. Kapitalistische Verhältnisse dürften jedoch in der DDR nicht wieder herrschen.
Kohlenmangel: Im VEB Bremsbelag Coswig, [Bezirk] Dresden, ist nur noch so viel Kohle vorhanden, um die Kessel zu heizen, damit die Anlagen nicht einfrieren. In vier Abteilungen wurde die Produktion vollständig eingestellt. 150 Arbeiter haben freiwillig Urlaub genommen oder wurden nach Hause geschickt.18
Der Kohlenmangel im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf sowie in der Brauerei, Hefefabrik und in den Molkereien im Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, hält weiterhin an.19 Der Kohlenmangel in den Betrieben ist den Arbeitern teilweise bekannt und es werden Diskussionen dadurch ausgelöst.
Handel und Versorgung
Unter den Hausfrauen im Kreis Nauen, [Bezirk] Potsdam, wird zzt. heftig über die Preise der HO-Textilien diskutiert. Man behauptet, dass die Preise von Perlonstrümpfen, Stoffen und anderem mehr im Kreis Nauen höher seien als in Berlin bei gleicher Qualität.
Landwirtschaft
Die Verhandlungen der Außenminister wurden von breiten Kreisen der Landbevölkerung mit Interesse verfolgt. Große Teile der Landarbeiter, MTS-Angehörigen, Genossenschaftsbauern, Klein- und Mittelbauern bringen in ihren Meinungsäußerungen zum Ausdruck, dass die Vorschläge des Genossen Molotow ihren Interessen entsprechen und dass die sowjetische Diplomatie dem deutschen Volk ein Helfer in seinem Kampf ist. Die Vorschläge des Genossen Molotow, freie, demokratische Wahlen bei vorherigem Abzug der Besatzungstruppen sowie eine Volksbefragung für einen Friedensvertrag gegen den EVG-Vertrag20 werden unterstützt.21 Allgemeine Äußerungen sind hierbei häufiger als Meinungen zu konkreten Vorschlägen des Genossen Molotow anzutreffen. Die fortschrittlichsten Kräfte auf dem Lande erkennen, wie die westlichen Außenminister von Tag zu Tag mehr in die Enge getrieben werden.
Ein Genossenschaftsbauer aus Forchheim, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wer den bisherigen Verlauf der Berliner Konferenz verfolgt hat, müsste endlich zu der Erkenntnis gekommen sein, dass die Westmächte keinen Funken für die Wiedervereinigung eines friedliebenden, demokratischen und unabhängigen Deutschlands übrig haben. Sie hätten sonst nicht die von Molotow eingebrachten konkreten Vorschläge, wie z. B. Volksbefragung, Abzug der Besatzungstruppen vor Durchführung freier demokratischer Wahlen, ablehnen dürfen. Der Erfolg dieser Konferenz besteht jetzt darin, dass die Westmächte mit ihrer Politik von Tag zu Tag mehr entlarvt werden.«
Aufgrund der bisherigen ablehnenden Haltung der westlichen Außenminister zu den Vorschlägen des Genossen Molotow, zweifelt ein großer Teil der Landbevölkerung an einem positiven Ergebnis der Konferenz. Diese Stimmen haben in letzter Zeit zugenommen.22 Die Einwohner der Gemeinde Ahrensfelde, [Bezirk] Frankfurt/Oder, sind über den bisherigen Verlauf der Konferenz enttäuscht und verurteilen, dass Dulles alle Vorschläge des sowjetischen Außenministers abgelehnt hat.
Ein parteiloser Lehrer der Gemeinde Ladeburg, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Ich setze wenig Hoffnung auf einen Erfolg dieser Konferenz, denn die Westmächte werden doch nicht nachgeben.«
Ein Teil der Landbevölkerung, jedoch kein allzu großer, gibt dem Genossen Molotow die Schuld, dass bisher keine Einigung bezüglich der deutschen Frage erzielt wurde. Hierbei ist besonders Feindeinfluss (RIAS) zu bemerken. Viele Landarbeiter des VEG Ziethen,23 [Bezirk] Potsdam, geben dem sowjetischen Außenminister die Schuld, dass bisher noch kein Friedensvertrag zustande gekommen ist. Eine parteilose Aktivistin von diesem VEG: »Ich höre den RIAS, der hat gesagt, dass die Insulaner da waren, die haben es Molotow gegeben. Die Russen sind jetzt schon solange hier und haben gestohlen, jetzt wollen sie immer noch nicht raus. Molotow geht um den Friedensvertrag immer herum, kommt aber nie zu einem Ziel.«
Ein Teil der Landbevölkerung verhält sich uninteressiert oder zweifelt, dass sie ebenfalls zu einem Erfolg etwas beitragen können. In der MTS Leutenberg, [Bezirk] Gera, wird fast überhaupt nicht über die Außenministerkonferenz diskutiert. In den durchgeführten Versammlungen wurde von der Belegschaft sehr wenig zu den Vorschlägen Molotows Stellung genommen.
Mehrere Mittelbauern aus dem Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, diskutieren wie folgt: »Ich bin für den Frieden, kann jedoch als kleiner Mann nichts machen. Kriege hat es schon immer gegeben und wird es immer geben. Auf die Außenministerkonferenz können wir nicht einwirken.«
Im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz wird besonders unter ehemaligen Umsiedlern auf dem Lande über die Oder-Neiße-Grenze diskutiert. Besonders stark vertreten im Bezirk Frankfurt/Oder. Ein Teil dieser ehemaligen Umsiedler gibt sich fälschlicherweise der Hoffnung hin, jenseits der Oder-Neiße zurückzukehren.24
Ein Teil der Umsiedler, die sich hier schon eine neue Existenz geschaffen haben, zweifelt an der Beständigkeit der demokratischen Errungenschaften (Bodenreform).25 Hierbei ist auch der RIAS-Einfluss zu spüren. Ein Landarbeiter aus Neuendorf, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich begrüße, dass die Konferenz eine Entspannung der internationalen Lage herbeiführen soll, denn einen Krieg will ich auch nicht. Aber ich verstehe nicht, warum wir nicht in die Gebiete hinter der Oder zurückkehren können, das kann ja nicht so weitergehen.«
Ein werktätiger Bauer aus Ziethen, [Bezirk] Neubrandenburg: »Mein Vater und ich selbst meinen, es wäre besser, wenn wir unseren eigenen Acker in Schlesien wieder bewirtschaften könnten, als hier den Acker des Grafen, der uns nicht gehört.«
Ein geringer Teil ehemaliger Umsiedler fordert aggressiv eine Revision der Oder-Neiße-Grenze. Ein Schlosser der MTS Großkochberg, [Bezirk] Gera: »Molotow hat viele Vorschläge gemacht, aber wie die Grenzen werden sollen, hat er nicht gesagt und die Grenzen können nicht so bleiben wie sie jetzt sind.«
Ein LPG-Vorsitzender aus der Gemeinde Neulietzegöricke, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Polen hat uns das Land weggenommen und jetzt können sie es nicht bestellen. Wir machen sofort mit, wieder in unsere alte Heimat zurückzukehren.« Diese Meinung ist sehr zahlreich in der genannten Gemeinde.
Andere negative und feindliche Diskussionen sind die Forderung nach westlichen sogenannten freien Wahlen und freier Wirtschaft.26 Diese werden von nur einem geringen Teil der Landbevölkerung, besonders Großbauern und auch teilweise Mittelbauern und anderen Schichten vertreten. Ein Traktorist der MTS Sangerhausen, [Bezirk] Halle: »Ich bin für die Vorschläge der westlichen Außenminister, erst »freie Wahlen« durchführen und dann die Vertreter Deutschlands hören. Bei diesen Wahlen können auch faschistische Parteien ihre Kandidaten aufstellen, denn die Arbeiter würden sie ja sowieso nicht wählen.«
Eine Großbauerntochter aus Schiffsmühle, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Die Amerikaner waren schon immer verhandlungsbereit. Wenn wir für den Frieden sind, dann verstehe ich nicht, wozu wir eine kasernierte Volkspolizei27 brauchen und die Russen, die sind nur deshalb in Uniform gekrochen, weil sie zu faul sind zu arbeiten.«
Im Kreis Rudolstadt, [Bezirk] Gera, werden die Austritte der in der LDP28 organisierten Bauern immer häufiger.
Über Futtermittelmangel wird in den Bezirken Potsdam und Frankfurt/Oder Klage geführt. Im Kreis Seelow, [Bezirk] Frankfurt/Oder, haben viele werktätigen Bauern und auch LPG wenig Futtermittel. Es besteht die Gefahr, dass die Tierbestände notgeschlachtet werden müssen.29
Von der LPG Kremmen, [Bezirk] Potsdam, mussten mehrere Tiere notgeschlachtet werden bzw. sind verendet, wegen Futtermangel.
Im Kreis Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird heftig über den neuen Viehhalteplan diskutiert, die Bauern vertreten die Meinung, dass sie unmöglich so viel Großvieh halten können, weil ihnen das Futter fehlt.
Im Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, besteht Mangel an Saatkartoffeln. Aus Futtermangel greifen die Bauern bereits ihre Bestände an Saatkartoffeln an.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Vom größten Teil der Bevölkerung werden die Verhandlungen der vier Außenminister mit Interesse verfolgt. Die Vorschläge des Genossen Molotow, Abzug der Besatzungstruppen und freie, demokratischen Wahlen, werden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung begrüßt.30 Der fortschrittliche Teil der Bevölkerung schenkt der Entlarvung der Kriegstreiber durch Genossen Molotow große Beachtung und unterstützt seine Bemühungen, ein einheitliches, demokratisches Deutschland zu schaffen.
Ein Angestellter der DHZ Lebensmittel in Marienberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Molotow tritt nach wie vor mit einwandfreien Vorschlägen auf, um die allgemeine internationale Spannung zu beseitigen. Wenn die Westmächte auch oftmals versuchen durch gewisses Manövrieren,31 konkreten Beantwortungen auszuweichen, so ist es immer wieder der Genosse Molotow, der sie dazu zwingt, Farbe zu bekennen.«
Eine Verkäuferin aus Köthen, [Bezirk] Halle: »Die Vorschläge Molotows sind gut. Diejenigen Außenminister, die bisher zu allem nein sagten, müssen endlich einmal bekennen, ob sie für oder gegen einen Friedensvertrag sind.«
Am 6.2.1954 bekundeten 2 500 Einwohner von Belzig, [Bezirk] Potsdam, dass sie für die Teilnahme von Vertretern aus Ost und West an der Viermächtekonferenz eintreten.32 Die verfasste Resolution wurde von den Versammlungsteilnehmern einstimmig angenommen.
Die an dem Erfolg der Konferenz zweifelnden Stimmen halten weiterhin an. Beachtenswert ist dabei, dass geteilte Meinungen über den Schuldigen bei erfolglosem Verlauf der Konferenz bestehen. Ein Angestellter aus Bukow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Vorschläge Molotows über Abzug der Besatzungstruppen sind gut. Was nützen aber die guten Vorschläge, wenn die Lumpen der Westmächte keinen der Vorschläge annehmen.«
Ein Unternehmer aus Niederwiesa, [Kreis] Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Sämtliche Außenminister sind nach Berlin gekommen, obwohl bereits vorher feststand, dass nichts aus dieser Konferenz wird. Mir ist klar, dass besonders der Amerikaner gern den deutschen Landser haben möchte, da dieser bisher gezeigt hat, dass er zu kämpfen versteht.«
Ein Angestellter einer HO-Gaststätte in Frankfurt/Oder: »Die vier Außenminister werden drei Wochen zusammensitzen und dann genau wieder so auseinandergehen, wie sie zusammengekommen sind.«
Die Diskussionen über »freie Wahlen« im westlichen Sinne werden weiterhin, besonders von einem Teil kleinbürgerlicher Kreise mit der Hoffnung auf einen Sieg der Reaktion geführt. Im Kreisentwurfsbüro Schwerin wurde folgende Meinung von den Angestellten in einer Diskussion vertreten: »Mit den Ausführungen des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl33 in seiner Regierungserklärung über den Punkt freie Wahlen in ganz Deutschland sind wir nicht einverstanden.34 Warum haben wir 1950 nicht nach Parteien gewählt. 1950 wurden offene Wahlen durchgeführt, da getraute sich niemand, andere Personen zu wählen.«35
Im Entwurfsbüro für Hochbau in Schwerin tritt folgendes Argument auf: »Noch haben wir keine gesamtdeutsche Regierung, da sollen sich doch die vier Großmächte selbst eine Wahlordnung ausarbeiten, nach der gewählt wird.«
Ein Molkereimeister aus Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die kommen sowieso zu keinem Ziel, denn unsere freien Wahlen sind niemals die, die es eigentlich sein müssten. Man müsste den Druck ausschalten. Unter freien Wahlen verstehe ich, die Wahlen, die in Westdeutschland durchgeführt wurden.«
Ein Friseurmeister aus Fürstenberg/Oder: »Auf ›freie Wahlen‹ lassen sich unsere doch nicht ein, weil man genau weiß, was dann los ist. Wir können deshalb hier nur hoffen und warten.«
Ein Friseurgeselle aus Gramzow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Dieser Strolch von Molotow soll machen, dass er aus Deutschland verschwindet. Ich will vom Deutschlandsender nichts mehr hören, der RIAS ist mir viel sympathischer.«
In Umsiedlerkreisen wird weiterhin im Zusammenhang mit der Konferenz über die Oder-Neiße-Grenze diskutiert. Leitmotive sind dabei oft RIAS-Parolen. Ein ehemaliger Umsiedler aus Hohen Neuendorf, [Bezirk] Potsdam: »Nach meiner Meinung setzt sich Molotow nicht für Deutschland ein, weil er nicht dafür sorgt, dass die brachliegenden Ostgebiete wieder an Deutschland zurückfallen.«
Feindtätigkeit
Am 7.2.1954 wurde in Magdeburg mit roter Kreide die Hetzlosung »freie Wahlen« angeschrieben.
In Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, wurden am 5.2.1954 vier Hetzzettel mit der Aufschrift: »Warum noch verhandeln, wir wollen wählen für eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung«.
Vereinzelte Flugblätter werden aus Potsdam berichtet (Fahrkarten36 und 100 Rubelscheine). Bei Kontrollen auf den Bahnhöfen im Bezirk Potsdam wurde festgestellt, dass Besucher der »Grünen Wochen«37 Hetzschriften bei sich trugen.38
Westpresse: Im »Montag-Morgen« wird unter der Aufschrift: »Pankow39 befürchtet neuen Aufstand« geschrieben,40 dass die Alarmstufe für KVP und SfS verstärkt worden sei. Das ZK der SED hätte führende Funktionäre in die Großbetriebe geschickt, um die Arbeiter zu beruhigen. Vom SfS wurde angeordnet, lieber einen mehr als zu wenig festzunehmen. Nach ihren Angaben wurde in der DDR durch die »ablehnende Haltung gegenüber freien Wahlen« eine Protestwelle ausgelöst. Wörtlich: »Hauptzentren der teilweise offen gezeigten Opposition sind die vom Juni 1953 bekannten Industriebetriebe Leuna, Stahlwerk Hennigsdorf, Leipziger Kirow-Werk und andere Großbetriebe«. Ähnlich schreibt »Die Welt am Sonntag« unter der Überschrift: »Unruhe in der Ostzone über Molotows starre Haltung«.41
Einschätzung der Situation
Außer zunehmenden Zweifeln am Erfolg der Konferenz gab es über das Wochenende keine weiteren Veränderungen der Lage.
Anlage vom 8. Februar 1954 zum Informationsdienst Nr. 2110
Stimmung zur Viermächtekonferenz
Betriebe
Über die Vorschläge des Außenministers Molotow diskutiert ein großer Teil der Werktätigen meist positiv. Dabei wird nur in geringem Umfang zu den einzelnen Vorschlägen selbst Stellung genommen. Der Arbeiter [Name 1] vom VEB Borna,42 [Bezirk] Leipzig: »Erst sah es so aus, als wollten die Außenminister wieder auseinandergehen, aber Molotow hat es gut verstanden, die Konferenz nicht sprengen zu lassen. Er vertritt unsere Interessen auf der Konferenz wirklich tadellos.«
Zu den Vorschlägen des Genossen Molotow, Abzug der Besatzungsmächte vor demokratischen Wahlen und Durchführung einer Volksbefragung, sind die bisher noch vereinzelt bekannt gewordenen Stimmen meist positiv. Die Arbeiterin [Name 2] vom VEB Trikotagenwerk Glauchau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich begrüße mit Freuden, dass erst die Besatzungstruppen abziehen sollen. Hoffentlich wird der Vorschlag des sowjetischen Außenministers angenommen.«
Nur vereinzelt wurden gegenteilige Meinungen, meist von negativen Elementen geäußert. Ein Arbeiter aus dem VEB Weberei Lichtenstein, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Unser aller Wunsch ist Abzug der Besatzungstruppen. Wenn der Vorschlag aber von Molotow kommt, ist er mit Vorsicht zu betrachten.«
Ein Schweißer aus dem IKA Auto-Werk Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Molotow verzögert nur die ganzen Verhandlungen. Wir brauchen keine Volksabstimmung, sondern einen Friedensvertrag.«
Ein Schlosser aus der Zemag Zeitz, [Bezirk] Halle: »Wenn die Besatzungsmächte gehen, haben wir bei uns einen ähnlichen Krach wie am 17. Juni [1953].«
In geringem Umfang halten die negativen Stimmen weiterhin an, wobei die Hauptargumente die Oder-Neiße-Grenze (besonders bei Umsiedlern) und »freie Wahlen« nach westlichem Muster (meist von Angestellten und Intelligenzlern) sind. Der Kollege [Name 3] von der Bauabteilung der Säurefabrik der Filmfabrik Wolfen, [Bezirk] Halle: »Der Russe soll uns freie Wahlen lassen, aber davor haben sie die größte Angst. Einer müsste dann weichen.«
Der Kollege [Name 4] vom VEB Modul Karl-Marx-Stadt: »Man sollte freie Wahlen unter internationaler Kontrolle durchführen, doch unsere haben Angst, dass sie dabei absaufen und dann arbeiten müssen.«
Der Arbeiter [Name 5] vom VEB Sägewerk Wittstock, [Bezirk] Potsdam: »Die Russen sollen uns unsere Gebiete wiedergeben, die die uns weggenommen haben.«
Der Abteilungsleiter [Name 6] vom Eisenwerk Waren, [Bezirk] Neubrandenburg: »Von der Konferenz halte ich nichts. Jedoch Molotows Vorschläge lehne ich ganz und gar ab, denn so freundlich sind die Russen nicht, ich kenne sie genau.«
Vereinzelt sind Stimmen zu den Reden der westlichen Außenminister bekannt geworden, worin von Arbeitern die Vorschläge des Westens abgelehnt werden. Eine Brigade des Chemischen Werkes Buna, [Bezirk] Halle: »Wir erklären Herrn Dulles, dass die Regierung der DDR, die im Jahre 1950 gewählt wurde, unser Vertrauen genießt.«
97 Kumpel der Butadienfabrik der Chemischen Werke Buna, [Bezirk] Halle: »Wenn Herr Eden43 meint, freie Wahlen unter Kontrolle der Westmächte durchzuführen, dann sind wir der Meinung, wo Faschisten an der Macht sind, gibt es keine Freiheit und Demokratie.«44
Der parteilose Kollege [Name 7] von den Chemischen Werken Buna, [Bezirk] Halle: »Der Russe will ja das Gute. Bloß der Franzose, der Engländer und der Schweinehund Dulles sind immer dagegen und die sind nun mal in der Mehrzahl.« Er erklärte weiter: »Wenn Eden denkt, dass das zukünftige Gesamtdeutschland wie Westdeutschland aussehen soll, dann sagen wir: ›Da machen wir nicht mit‹.«
Landwirtschaft
Zu den letzten Vorschlägen des Genossen Molotow gibt es unter der Landbevölkerung weniger konkrete Äußerungen. Die einzelnen Stimmen hierzu sind überwiegend positiv, sprechen sich für freie demokratische Wahlen bei vorherigem Abzug der Besatzungstruppen aus und heben die Überlegenheit der sowjetischen Diplomatie hervor, die Verdienste im Interesse des deutschen Volkes. Die fortschrittlichen Kräfte erkennen, wie die westlichen Außenminister von Tag zu Tag mehr in die Enge getrieben werden. Der Genossenschaftsbauer [Name 8, Vorname] aus Forchheim, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wer den bisherigen Verlauf der Berliner Konferenz verfolgte, müsste endlich zu der Erkenntnis gekommen sein, dass die Westmächte keinen Funken für die Wiedervereinigung eines friedliebenden demokratischen Deutschlands übrighaben. Sie hätten sonst nicht die von Molotow eingebrachten konkreten Vorschläge wie Volksbefragung u. a. ablehnen dürfen. Der Erfolg dieser Konferenz besteht jetzt darin, dass die Westmächte mit ihrer Politik von Tag zu Tag mehr entlarvt werden.«
Der Landarbeiter [Vorname Name 9] MTS Einwinkel, [Bezirk] Magdeburg: »Die Viermächtekonferenz ist ein hartes Problem, aber ich bin überzeugt, dass der Außenminister Molotow es verstehen wird, mit seiner guten Diplomatie ein positives Ergebnis auf der Konferenz zu erreichen.«
Der LPG-Bauer [Name 10] aus Kehnert, [Bezirk] Magdeburg: »Nur Verbrecher gegen das deutsche Volk können gegen den Vorschlag Molotows sein. Wir Deutschen sind stark genug, unsere Wahlen ohne fremde militärische Beeinflussung durchzuführen. Wenn die Werktätigen zusammenstehen, können die westlichen Außenminister mit ihrer sturen Haltung nichts erreichen.«
Ein großer Teil der Landbevölkerung zweifelt jedoch am positiven Ausgang der Konferenz, da die letzten Vorschläge des Genossen Molotow von den westlichen Außenministern abgelehnt wurden. Die negativen Elemente fordern sogenannte freie Wahlen, freie Wirtschaft, Beseitigung der Oder-Neiße-Grenze. Der Großbauer [Name 11], wohnhaft Glasow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Konferenz ist wie ein Puppenspiel, in dem man sich nicht einigen wird. Ich bin der Meinung, dass die Außenminister ohne ein Resultat erreicht zu haben auseinandergehen. Wenn Hitler noch wäre, würde es vielleicht anders aussehen.«
Die Landarbeiterin [Name 12, Vorname] sagte: »Ich höre den RIAS, der hat gesagt, dass Insulaner da waren, die haben es Molotow gegeben. Die Russen sind jetzt schon lange hier und haben gestohlen, jetzt wollen sie immer noch nicht raus. Molotow geht um einen Friedensvertrag immer herum, kommt aber nie zu einem Ziel.«/VEG Ziethen,45 [Bezirk] Potsdam.
Der Schlosser von der MTS Großkochberg, [Bezirk] Gera, [Name 13]: »Es ist ja keine Kunst, denn Molotow beherrscht vier Fremdsprachen und kann sich in der Zeit, in der die anderen Außenminister sprechen, sich vorbereiten. Er hat viele Vorschläge gemacht. Aber wie die Grenzen werden sollen, hat er nicht gesagt und die Grenzen können nicht so bleiben, wie sie jetzt sind.«
Ein Traktorist aus Sangerhausen, [Bezirk] Halle: »Die Vorschläge der westlichen Außenminister, erst freie Wahlen durchführen und dann die Vertreter Deutschlands hören, sind richtig. Zu diesen Wahlen muss man auch die faschistischen Parteien und ihre Kandidaten aufstellen können, die Arbeiter würden sie ja sowieso nicht wählen.«
Übrige Bevölkerung
Die Mehrzahl der Stimmen zu den Vorschlägen Molotows und zur Haltung der sowjetischen Delegation zeigt positiven Charakter, wobei jedoch auch geteilte Meinungen über einen Erfolg der Konferenz vorhanden sind. Der Hausmeister [Name 14] aus Rostock: »Ich glaube nicht, dass die Westmächte auf den Vorschlag des Genossen Molotow über den Abzug der Besatzungstruppen eingehen werden. Aber es ist klar, dass sie so immer mehr in die Enge getrieben und vor der ganzen Welt entlarvt werden. Dieser Vorschlag zeigt wieder die große Diplomatie des Genossen Molotow.«
Der parteilose Angestellte [Name 15] vom Konsum in Bukow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Vorschläge Molotows über Abzug der Besatzungstruppen sind gut, ebenfalls die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung. Was nützen aber die guten Vorschläge, wenn die Lumpen der Westmächte keinen der Punkte annehmen.«
Eine Anzahl Stimmen meint, in der Haltung der sowjetischen Delegation die Ursache zu sehen, falls die Konferenz scheitern sollte, da die sowjetische Delegation zu stur und unnachgiebig sei. Der Vorsitzende der CDU im Bezirk Gera Neumann:46 »Ich weiß nicht, was sich der Molotow mit seinen Vorschlägen eigentlich einbildet, darauf gehen doch Dulles und die anderen niemals ein. Berlin bringt kein Ergebnis, wenn nicht Molotow nachgibt.«
Der Tischler [Name 16] (parteilos) aus Rostock: »Ich bin der Meinung, dass aus der Viererkonferenz nichts Positives herauskommt, denn der sowjetische Außenminister Molotow ist zu stur, und gibt den Westmächten gegenüber nicht nach. Falls die Konferenz scheitert, hat die sowjetische Delegation schuld.«
Eine Hausfrau aus Frankfurt/Oder: »Wenn Molotow mit seinem Dickkopf nicht dabei wäre, wären sie sich schon bestimmt einig geworden.«
Der Friseurmeister [Name 17] aus Fürstenberg/Oder: »Die westlichen Außenminister werden Molotow noch fertigmachen und ihn ganz schön einwickeln. Das merkt er erst, wenn er nicht mehr zurückkann. Auf freie Wahlen lassen sich unsere doch nicht ein, weil man genau weiß, was dann los ist. Wir können deshalb hier nur hoffen und abwarten.«
Jedoch gibt es auch eine Reihe negativer Stimmen, die sich gegen diese Vorschläge äußern und den westlichen Standpunkt einnehmen. Im Entwurfsbüro für Hochbau in Schwerin tritt folgendes Argument auf: »Noch haben wir noch keine gesamtdeutsche Regierung. Da sollen doch die vier Großmächte selbst eine Wahlordnung ausarbeiten, nach der gewählt wird.«
Ein Angestellter der DHZ Textil Erfurt: »Eine Wahl wird nicht zustande kommen, wenn Ost und West ein Ganzes wären. Ohne Besatzungsmacht würde ein Bürgerkrieg entstehen.«
Der ehemalige Umsiedler [Name 18] aus Hohen Neuendorf, [Bezirk] Potsdam: »Nach meiner Meinung setzt sich Molotow nicht für Deutschland ein, weil er nicht dafür sorgt, dass die brachliegenden Ostgebiete wieder an Deutschland zurückfallen.«
Stimmen aus Westberlin
Ein ehemaliger SA-Mann: »Ich glaube, dass es Molotow ehrlich meint, nicht uns zuliebe, sondern weil sie in der SU keinen Krieg wollen. Der Vorschlag über eine Volksabstimmung ist zumindest diskutabel. Von mir aus können alle Vier gehen, denn sie leben ja alle nur auf unsere Kosten.«
Ein junger Arbeiter aus Schöneberg: »Molotow ist ein erstklassiger Diplomat, ich bedaure sehr, dass er allein dasteht. Hoffentlich gelingt es ihm, sich gegen die anderen drei durchzusetzen, damit wir endlich zur Einheit und zu einem Friedensvertrag kommen.«
Mehrere Arbeiter in der Dynamo-Abteilung bei Siemens & Halske sind enttäuscht über den schleppenden Verhandlungsgang. Sie kritisieren sehr scharf die Ausführungen Molotows zu freien Wahlen und meinen, die Westmächte sollten mehr auftrumpfen.
Die Frau eines Stummpolizisten:47 »Die sollen alle Vier abhauen, aber den Gefallen tun sie uns nicht, denn dann sind wir ihnen eines Tages wieder zu stark geworden. Und dann haben sie auch keine billigen deutschen Facharbeiter mehr, die sie nach Übersee verfrachten können.«
Eine Hausfrau: »Ich glaube nicht, dass es anders wird durch die Viererkonferenz. Die gehen genauso auseinander wie sie gekommen sind, da ist einer wie der andere. Sie wollten sich nur mal Berlin ansehen.«
Einige Arbeiter meinten: »Die vier werden sich nicht einig. In zwei Tagen fliegt die Konferenz bestimmt auf. Was das bedeutet, kann man voraussagen: Erst einmal vollkommene Abriegelung Westberlins, noch schlimmer als die Blockade.48 Das lassen sich aber die Westmächte nicht gefallen, und dann sind wir mitten in einem Krieg. Das Osterfest erleben wir nicht im Frieden.«
Eine Angestellte aus Steglitz: »Drei von den Herren sind sich einig, dass Deutschland wieder groß werden soll wie 1938. Sie wollen uns die Möglichkeit geben, dass Deutschland wieder der Mittelpunkt in Europa wird. Nur der Eine macht immer einen Strich durch die Rechnung und sagt zu allem ›njet‹.«
Ein Angestellter: »Es wird höchste Zeit, dass die Außenminister auseinandergehen und dass die Kanonen anfangen zu sprechen.«