Zur Beurteilung der Situation
21. August 1954
Informationsdienst Nr. 2293 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Zu politischen Tagesfragen wird allgemein wenig diskutiert. Im Vordergrund der Diskussionen steht weiterhin die Streikbewegung in Westdeutschland,1 wobei sich in Inhalt und Umfang keine wesentlichen Änderungen ergeben haben. Zu negativen Äußerungen, bei denen eine Unterstützung der Streikenden abgelehnt wurde, einige Beispiele.
Im Versuchslabor der Leuna-Werke »Walter Ulbricht« weigerten sich einige Kollegen zu spenden, da sie in der Lohngruppe III und IV selber wenig Geld hätten.2
In der Gießerei der Filmfabrik Wolfen erklärten verschiedene Kollegen: »Wir bezahlen seit 19543 FDGB-Beiträge und bei uns war noch kein Streik. Also ist doch Geld genug vorhanden, um davon die Streikenden zu unterstützen.«
Einige Rangierer vom Hauptbahnhof Magdeburg äußerten, dass sie auch mal streiken müssten, um mehr Geld zu bekommen.
Im VEB Loskond Berlin4 vertraten verschiedene Kollegen die Meinung, dass man die »Solidaritätsspenden lieber den armen Leuten in der DDR geben soll«.
Eine feindliche Haltung brachten einige Arbeiter aus dem Forstwirtschaftsbetrieb Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, zum Ausdruck. So erklärte z. B. ein Waldarbeiter: »Diese Lumpen sollen lieber arbeiten, um etwas zu verdienen. Uns hat man schön gelüftet, als wir am 17. Juni [1953] streiken wollten.«
Über die Pressekonferenz mit Dr. John5 haben die Diskussionen weiter nachgelassen.6
Zur Volkskammerwahl7 ist der Umfang der Stimmen noch ganz gering. Neben meist positiven Stimmen zur einheitlichen Kandidatenliste wird in negativen Meinungen vor allem eine getrennte Kandidatenliste nach den Parteien gefordert. Hierbei will man teilweise durch noch bestehende Unklarheiten Wahlen, wie sie früher waren, wo einzelne Parteien oder Personen gewählt wurden. So wird z. B. von verschiedenen Arbeitern des Bezirkes Frankfurt/Oder besonders aus größeren Betrieben das Weimarer Wahlsystem gefordert.
In den Kreisen Gotha und Arnstadt, [Bezirk] Erfurt, wird verstärkt die Meinung vertreten, es wäre besser, wenn jede Partei ihre Fraktionslisten aufstellen würde, damit man die wählen kann, welche die Interessen der Werktätigen vertreten.
Ein Arbeiter (parteilos) aus dem VEB Textima in Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es gibt bei uns wirklich keine richtigen Wahlen mehr, wie wir sie von früher gewohnt sind. Man muss einfach verschiedene Parteien auf einmal wählen.«
Teilweise wendet man sich gegen die SED und sagt, dass sie sich durch die einheitliche Kandidatenliste in den »Vordergrund drängen will«. Solche Meinung wird z. B. von einigen Jugendlichen aus dem EKM Finow, [Bezirk] Frankfurt/Oder, vertreten.
Eine feindliche Einstellung zu den Volkswahlen wird von einigen Kumpels aus dem Wismut-Schacht 67 in Oberschlema8 und aus dem Schacht Zobes, [Kreis] Auerbach,9 eingenommen. So äußerten z. B. zwei Kumpel von Oberschlema: »Den Schwindel mache ich nicht mit, denn die Lumpen werden sowieso wieder gewählt.« Ein Schießmeister aus Auerbach: »Anstelle einer Wahl müssten wir einen Generalstreik in Ost- und Westdeutschland durchführen, dann kriegen wir eine gesamtdeutsche Regierung.« Ein anderer Kumpel aus dem Schacht Zobes: »Erst sollen die Russen abziehen, dann können wir eine richtige Volkswahl durchführen.«
Im Vordergrund der Diskussionen stehen wirtschaftliche sowie betriebliche Fragen, welche teilweise zu Verärgerungen führen, wie Lohnfragen, Versorgungsschwierigkeiten und Schwierigkeiten in der Produktion.
Zwei jugendliche Arbeiter von der Bau-Union Tiefbau, Baustelle Kühlhaus der VEAB in Brandenburg, legten am 17.8.[1954] die Arbeit nieder, da sie mit ihrem Verdienst (DM 60,00 pro Woche) nicht zufrieden sind. Das führte dazu, dass die anderen Arbeiter der Brigade ebenfalls eine Stunde früher als sonst Feierabend machten und sich anschließend betranken. Dabei kam es zu feindlichen Äußerungen gegen die SU, die Regierung und die Volkswahl.
Der Betriebsleiter des VEB (K) Bau Schleiz,10 [Bezirk] Gera, äußerte: »Die Kollegen bei uns führen heftige Diskussionen über die Entlohnung. Sie fordern eine Vereinheitlichung der Ortsklassen.11 Da sie gegenüber den Kollegen in den Großstädten benachteiligt werden.« Viele Arbeiter von Schleiz, welches zur Ortsklasse C gehört, nehmen Arbeit auf den Baustellen in Plaue12 auf, da sie dort mehr verdienen.
Unter den Meistern im VEB Maxhütte Unterwellenborn wird heftig darüber diskutiert, dass sie ihre zustehende Erschwerniszulage nicht erhalten. Sie wollen deshalb eventuell die Maxhütte verklagen.
Unter den Transportarbeitern der DHZ Textil Berlin wird lebhaft darüber diskutiert, dass ihre Löhne zu niedrig seien. Deshalb haben sich bereits verschiedene Kollegen anderweitig Arbeit gesucht.
Unter Kollegen des VEB Zeiss Jena, [Bezirk] Gera, wird bemängelt, dass es keine billigen Zigaretten gibt. Es müsste wenigstens etwas darüber in der Zeitung geschrieben stehen.
Der Werftleiter der Neptunwerft Rostock wurde wegen der schlechten Arbeitsorganisation vom 1. Parteisekretär der BPO kritisiert; daraufhin erklärte er allen Werkstattleitern, dass er den Angestellten und Meistern die Gehälter kürzen will, wenn sie die Planrückstände nicht aufholen. Darüber sind die Arbeiter und Angestellten sehr beunruhigt.
Handel und Versorgung
Örtliche Mängel in der Warenbereitstellung
Fleischmangel
Im Bezirk Dresden ist der Schlachtviehanfall sehr gering und da zzt. keine Fleischimporte eintreffen, ist die Versorgung im September gefährdet.
In Halle fehlt Rindfleisch. Die Schweinefleischversorgung ist ungenügend. Hammel- und Schweinefleisch aus Importen werden wenig gekauft.
Im Bezirk Schwerin besteht ein Mangel an Frischfleisch. Die VEB Fleischwarenfabrik Grüßen,13 [Kreis] Sömmerda, [Bezirk] Erfurt, erhielt in den letzten vier Tagen nur 53 Schweine und zehn Rinder, während der normale Bedarf 100 Schweine und zehn Rinder täglich sind. Dabei wurden die 53 Schweine nur aushilfsweise vom Schlachthof Magdeburg geliefert. Am 19.8.1954 konnte der Betrieb überhaupt nicht produzieren und die Belegschaft wurde mit Hilfsarbeiten beschäftigt.
Zigarettenmangel besteht nach wie vor in den Bezirken Schwerin, Halle, Gera und der HO Wismut, außerdem im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Im Bezirk Schwerin löst der Zigarettenmangel besonders in den ländlichen Gemeinden, z. B. beim Nachtdrusch und Zweischichteneinsatz, Unzufriedenheit aus.
Der Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, hat mit der VEAB einen Vertrag über 513 000 HO-Eier abgeschlossen und nur 223 000 erhalten. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung wird von der VEAB damit begründet, dass sie mit dem Subtilwerk Neustadt (Orla)14 einen Vertrag abgeschlossen hat. Das Werk stellt Volleipulver her.
Benzinmangel besteht immer noch im Kreis Sebnitz, [Bezirk] Dresden.
Überplanbestände bzw. dem Verderb ausgesetzte Waren
Im Speicher der VEAB Kongau,15 [Kreis] Lübben, lagern einige 100 Zentner Frühkartoffeln, die wegen Waggonmangel nicht transportiert werden können und wegen den dauernd anfallenden Neueingängen dem Verderb ausgesetzt sind. Verschiedene Bauern mussten aufgrund dessen mit ihren Sollablieferkartoffeln wieder zurückgeschickt werden und werden der Prämien für vorfristiges Abliefern verlustig.
Der Konsum Halle hat Überplanbestände an Schlachtfetten und Öl.
Landwirtschaft
In den Diskussionen über politische Tagesfragen, die nur im ganz geringen Umfang geführt werden, nimmt die Landbevölkerung vereinzelt, aber überwiegend positiv zu dem Streik in Westdeutschland und zu der Volkskammerwahl Stellung. Die sehr schwache Beteiligung wird meist mit der Inanspruchnahme bei der Ernte begründet, wie z. B. von einem werktätigen Bauern aus Priborn, [Bezirk] Neubrandenburg: »Der Zeitpunkt für die so bedeutungsvolle Wahl ist ungünstig. Es sind nur noch zwei Monate bis dahin und wir haben kaum Zeit, in die Zeitung zu sehen. Diese Wahl muss besonders gut vorbereitet werden und es wird notwendig sein, eine wirklich gute Aufklärung zu geben, da noch viele Unklarheiten darüber bestehen.«
Oft ist eine Interesselosigkeit zu verzeichnen, die auf Unklarheit beruht, wie z. B. bei einem Bauern in Möglin, [Bezirk] Frankfurt: »Es ist mir gleich, von welcher Partei der Abgeordnete ist, wichtig ist für mich, dass er seine Aufgaben ernst nimmt, die Wähleraufgaben durchführt und im Sinne unserer Regierung arbeitet.«
Negative bzw. feindliche Meinungen treten insbesondere bei Groß- und Mittelbauern stärker in den Vordergrund. Ein Mittelbauer aus Bernau, [Bezirk] Frankfurt: »Die Wahl mit der Einheitsliste ist keine Wahl. Es ist alles eine gemachte Sache.«
Über den Streik in Westdeutschland sind die Meinungen ebenfalls überwiegend positiv, hauptsächlich in den MTS, wie aus nachstehenden Beispielen ersichtlich ist. Die Jugendbrigade der MTS in Köckte, [Bezirk] Magdeburg, machte eine Sonderschicht zugunsten der Streikenden.
Ein Landarbeiter aus Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Diese Bewegung in Westdeutschland zeigt uns, dass die Arbeiter in den kapitalistischen Betrieben kein Interesse daran haben, ihre Arbeitskraft für einen Schundlohn zu verkaufen. Meiner Meinung nach hat der Streik nicht nur wirtschaftlichen Charakter, sondern vor allem einen politischen, was aus der Geschlossenheit der westdeutschen Arbeiter ersichtlich ist.«
Bei den Rechenschaftslegungen16 wird oft festgestellt, dass sie zu schwach besucht werden. Im Kreis Potsdam z. B. fielen zwei Rechenschaftslegungen aus, weil zu wenig Versammlungsteilnehmer anwesend waren. Einige Genossenschaftsbauern waren dort nur erschienen. Die Einzelbauern erklärten, dass sie keine Zeit zum Diskutieren haben, weil sie sich mit der Ernte beschäftigen müssen.
Oft versuchen Großbauern mit allerlei Argumenten, besonders gegen die Sollablieferung, die Versammlungen negativ zu beeinflussen. Ein Großbauer aus Silow,17 [Bezirk] Cottbus, sagte: »Es werden bei der kommenden Wahl nur dann die Kandidaten der Nationalen Front gewählt werden, wenn das Pflichtabgabesoll auf 30 Prozent erlassen wird.«
Vorwiegend befasst sich die Landbevölkerung mit wirtschaftlichen Fragen. Im Kreis Seelow, [Bezirk] Frankfurt, geht die Ernte nur langsam vorwärts, weil durch die Witterungsverhältnisse die Erntemaschinen nicht eingesetzt werden können und es außerdem an Arbeitskräften fehlt. Die dort eingesetzten Erntehelfer aus der Industrie verließen zum großen Teil wieder die volkseigenen Güter, weil man ihnen statt der Stadt- die ländlichen Tarife zahlte. Über Arbeitskräftemangel klagt auch das volkseigene Gut Köllitsch,18 [Bezirk] Leipzig; dort fehlen 14 Arbeitskräfte.
Materialmangel ist in den MTS des Bezirkes Leipzig und im Bezirk Erfurt zu verzeichnen. In der MTS Elsnig,19 [Bezirk] Leipzig, ist ein Mähdrescher ausgefallen und steht wegen Ersatzteilmangel schon acht Tage still.
In der MTS Ichtershausen, [Bezirk] Erfurt, sind die Kettenräder der neugelieferten Binder bereits nach einem Tag derart abgearbeitet, dass sie nicht mehr einsatzfähig sind. Der Leiter der MTS sagt, dass in den Fabriken, wo diese Ersatzteile hergestellt werden, Sabotage getrieben wird.
Große Verärgerung ist unter den Bauern in Bad Freienwalde, Kreis Angermünde,20 [Bezirk] Frankfurt, weil dort 800 t Kartoffeln in der VEAB lagern, die trotz wiederholter Mahnung nicht abgeholt wurden.
Wie jetzt festgestellt wurde, waren die Berichte über die Wildschweinschäden im Kreis Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, nicht wahr.21 Die Bauern benutzten das Argument der Wildschweinschäden nur dazu, um eine Herabsetzung des Ablieferungssolls zu erreichen. Aufgrund der Angaben der Bauern war bereits eine Großjagd der VP und des SfS veranstaltet worden.
Durch die Erfolge der LPG in verschiedenen Gemeinden des Bezirkes Schwerin, z. B. in Groß Pankow, erklärten sich die Mittelbauern bereit, in die LPG einzutreten.
Im Bezirk Frankfurt wird von der Landbevölkerung die Hilfe durch die sowjetischen Freunde bei der Einbringung der Ernte sehr hervorgehoben und gelobt. Ein Landarbeiter [aus] Albertshof, [Kreis] Bad Freienwalde,22 sagte dazu: »Dass die Soldaten uns helfen, ist ein Zeichen echter Freundschaft. Sehen wir nach Westdeutschland, dort werden die Roggenfelder von Panzern verwüstet und alles wird vernichtet.«23 Dieser Meinung schlossen sich auch andere Landarbeiter an.
Übrige Bevölkerung
In den verhältnismäßig wenigen Diskussionen zur bevorstehenden Volkswahl wird größtenteils die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste begrüßt und erklärt, dass nur durch die Einheit und Geschlossenheit größere Erfolge in unserem Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands erreicht werden können.
Der Intendant des Friedrich-Wolf-Theater in Neustrelitz, Mitglied der NDP, äußerte: »Die Volkskammerwahlen werden dazu beitragen, die Einheit der deutschen Kultur und Kunst schneller wieder herzustellen. Jede Zersplitterung unserer Republik wäre falsch. Deshalb begrüße ich die gemeinsame Aufstellung von Kandidaten der Nationalen Front.«
Vielfach sind die Menschen noch nicht aufgeklärt und verstehen nicht, warum eine gemeinsame Kandidatenliste aufgestellt wird.
Ein Sachbearbeiter, Mitglied der SED, aus der Konsumgenossenschaft Berlin-Prenzlauer Berg äußerte: »Ich möchte bloß wissen, warum wir für die Wahlen am 17. Oktober [1954] Einheitslisten aufstellen. Jede Partei sollte ihre eigenen Listen aufstellen.«
In der Bank für Handwerk und Gewerbe Potsdam stellten die Kollegen die Frage, warum zur Volkswahl einheitliche Listen aufgestellt werden und warum man es nicht auf Parteiwahlen ankommen lasse.
Feindlich verhalten sich zu dieser Frage hauptsächlich kleinbürgerliche Kreise, besonders Mitglieder und zum Teil Funktionäre bürgerlicher Parteien. Sie lehnen die gemeinsame Liste ab mit der Begründung, dies sei »nicht demokratisch« und [sie] fordern getrennte Parteilisten, mit der Absicht, die SED aus der führenden Stellung zu verdrängen.
Ein leitender Chemiker aus dem VEB Minimax Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, Mitglied der LDP, lehnte in einer Tagung des LDP-Kreissekretariates ab, in der Ortsgruppe zu referieren, wenn für die Kandidaten der LDP bei der Volkswahl keine extra Listen aufgestellt werden würden.
In einer Mitgliederversammlung des Ortsverbandes der NDPD in Brück, Kreis Belzig, [Bezirk] Potsdam, diskutierten fünf Mitglieder: »Warum werden keine freien Wahlen durchgeführt? Die SED weiß nämlich schon im Voraus, dass sie dann abtreten müsste.«
Ein DBD-Mitglied aus Dittmannsdorf, [Kreis] Borna, sagte: »Mit der Einheitsliste bin ich nicht einverstanden, denn es ist so, die SED trägt die Fahne und wir marschieren immer hinterher.« In diesem Ort ist die gleiche Meinung unter dem größten Teil der DGB-Mitglieder festzustellen.
In den Kreisen der CDU in Meiningen wird dahingehend diskutiert, dass man die Wahlen wie früher nach einzelnen Listen durchführen sollte. Es sollten deshalb keine Einheitslisten aufgestellt werden. Dazu sagte ein Mitglied der CDU aus Bauerbach, [Bezirk] Meiningen: »Ich sehe es nicht ein, dass wir mit den anderen Parteien auf einer Liste stehen sollen.«
Vor der Volksbefragung24 wurden den Einwohnern von Geisa, [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, Versprechungen gemacht, dass man ab sofort ohne jegliche Schwierigkeiten in das Sperrgebiet reisen könnte.25 Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten und von den dort ansässigen Funktionären der CDU ausgenutzt, indem sie die Bevölkerung aufwiegeln und ihnen erklären, ihre Stimme bei den kommenden Volkswahlen nicht den Kandidaten der Nationalen Front zu geben.
In der Heilstätte Beelitz, Kreis Potsdam, versucht der Gegner in Diskussionen mit den Patienten diese zu beeinflussen, »dass man die einheitliche Wahlliste ablehnen müsse, da sie nicht auf demokratischer Grundlage aufgebaut ist«.
Besonderes Vorkommnis
Am 19.8.1954 brannten im Bezirk Dresden durch Blitzschlag vier Scheunen und ein Wohnhaus nieder. Der Verlust beläuft sich auf 700 Ztr. Getreide. Schaden in Höhe von ca. 100 000 DM.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:26 Schwerin 370, Leipzig 105, Potsdam 2 000, Halle 785, Dresden 60.
UFJ:27 Potsdam 472.
NTS:28 Frankfurt 10 000, Karl-Marx-Stadt 13 000, Gera 25.
FDP-Ostbüro: Halle 250.
Versch[iedener] Art: Erfurt 2 500, Karl-Marx-Stadt 7 944, Dresden 64.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Antidemokratische Tätigkeit: In der Toilette der Gussputzerei des Stahlwerkes Gröditz, [Bezirk] Dresden, wurde eine EVG-Hetzlosung29 angeschmiert.
Diversionen: In der LPG »Fortschritt« in Ditfurt, Kreis Quedlinburg, [Bezirk] Halle, wurden von einem Mähbinder Maschinenteile entwendet, die sehr schwer zu beschaffen sind.
In der MTS Untermarxgrün, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurden am 16.8.1954 von drei Dreschsätzen die Antriebsriemen entwendet.
Oberhalb des Bahnüberganges in Gehren, Kreis Ilmenau, [Bezirk] Suhl, wurde von unbekannten Tätern ein Hemmschuh auf die Schienen gelegt. Vermutlich sollte dadurch der Personenzug aus Richtung Ilmenau zum Entgleisen gebracht werden. Auf dem Bahnhof des gleichen Ortes wurde von einem fahrplanmäßigen Personenzug durch unbekannte Täter der letzte Wagen abgehängt.
Anlage 1 vom 20. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Anhang über Produktionsschwierigkeiten in der Industrie
Durch mangelhafte Qualität der Kohlenbürsten aus dem VEB Siemens-Plania Berlin30 gehen beim VEB Kjellberg Finsterwalde,31 [Bezirk] Cottbus, laufend Reklamationen von seinen Auftraggebern ein. Aus diesem Grunde hält der VEB die Exportlieferungen nach der Türkei, China und Polen zurück, da er nicht verantworten kann, dass diese Maschinen mit bekannten Fehlern und Mängeln ausgeliefert werden.
Im VEB Rundstrickmaschinenfabrik Mittweida, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, können wegen schlechter Materiallieferung die Exportaufträge nicht erfüllt werden. Die erste Maschine sollte bereits im März dieses Jahres fertiggestellt werden, dies konnte jedoch nicht erfolgen, weil die einzelnen Betriebe die Teile nicht anliefern.
Im VEB Nähmaschinenwerk Wittenberge besteht laufend Materialmangel. Die Materiallieferungen wurden wiederholt verschoben. Dies führt zu negativen Diskussionen unter der Belegschaft.
Im Reichsbahnausbesserungswerk Schlauroth,32 [Bezirk] Dresden, besteht ein großer Mangel an Kugellagern, Spiralbohrern und Winkelstücken. Die DHZ erteilte den Bescheid, dass in den nächsten Wochen nicht mit einer Lieferung zu rechnen ist.
Im Kreis Bautzen steht die Ziegelproduktion vor Schwierigkeiten. Es fehlen finanzielle Mittel, um Trockenanlagen, Pressen und Maschinen zu erweitern und instand zu setzen.
In der Neptunwerft Rostock sind zzt. 120 betriebseigene und 70 fremde Maler beschäftigt. Diese 190 Maler haben im Moment keine Arbeit, da keine Farbe vorhanden ist.
Im Fischkombinat Saßnitz, [Bezirk] Rostock, treten Schwierigkeiten beim Löschen der Kutter auf, weil zu wenig Arbeitskräfte vorhanden sind.
Der VEB Phosphatwerk Steudnitz, [Kreis] Jena, [Bezirk] Gera, hat eine Unterbesetzung von 60 Kollegen zu verzeichnen. Die Arbeiter wandern wegen der schlechten Verkehrsbedingungen aus dem Betrieb in andere Industriezweige ab.
Anlage 2 vom 20. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Mängel, wodurch die Erntearbeiten behindert werden
In fast allen Kreisen des Bezirkes Dresden wurden die Verträge der MTS mit den LPG und den werktätigen Einzelbauern nicht erfüllt. Die Ursachen sind zum Teil schlechtes Material, der Ausfall von Traktoren, Kraftstoffmangel und die schlechte Belieferung mit Ersatzteilen. Die MTS Panschwitz, [Bezirk] Dresden, z. B. beklagt sich über die ungenügende Belieferung mit Schrauben und anderen Ersatzteilen.
Die MTS Bannewitz, Kreis Freital, [Bezirk] Dresden, klagt über das schlechte Material bei Kartoffel- und Rübenrodern. Das Material der Zinken ist so leicht, dass sie sich sofort verbiegen. Außerdem kamen die Zuckerrübenroder bereits mit Bruchstellen an. Diese und ähnliche Materialschäden wirken sich nicht nur nachteilig auf die Arbeitsmoral der Traktoristen aus, sondern auch auf den Arbeitsablauf bei der Ernte, wodurch erhebliche Ausfälle entstehen.
Ein Kleinbauer aus dem Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, sagte hierzu: »Wir selbst sind doch daran interessiert, das Getreide so schnell wie möglich abzuliefern, zumal es dafür eine Frühdruschprämie gibt. Ich hätte es mir aber nicht träumen lassen, dass uns die MTS so im Stich lässt. Im nächsten Jahr werde ich es mir schwer überlegen, ob ich mit der MTS einen Vertrag abschließe, denn eine solche Komödie wie in diesem Jahr, will ich nicht noch einmal erleben.«
Auch in einigen MTS anderer Bezirke wie z. B. im Bezirk Neubrandenburg wurden die Verträge nicht erfüllt. Ein Kleinbauer aus Franzfelde, Kreis Pasewalk, sagte: »Wenn ich mich auf die MTS verlassen hätte, so stände das Getreide heute noch am Halm. Die MTS hilft lieber den Großbauern, wie dem Großbauern [Name] in Franzfelde, als uns Kleinbauern.«
Ähnlich ist es in einigen MTS des Bezirkes Rostock. Ein werktätiger Bauer (SED) aus Stossenburg,33 [Bezirk] Rostock: »So eine schlechte und unorganisierte Arbeit, wie die MTS Zirkow in diesem Jahr geleistet hat, ist seit ihrem Bestehen noch nicht vorgekommen. Die Kreisparteileitung müsste sich hier unbedingt einschalten und einige personelle Veränderungen vornehmen, damit die MTS wieder vernünftig arbeiten kann.«
So wird auch in anderen Bezirken die Arbeit während der Ernte teilweise durch Zubehör- und Ersatzteilmangel sowie durch schlecht ausgeführte Reparaturarbeiten behindert.
Im Kreis Saalfeld, [Bezirk] Gera, fehlen z. B. Fettpressen, wodurch die Gefahr des Heißlaufens der im Einsatz stehenden Traktoren besteht. Bestellt wurden die benötigten Fettpressen bereits vor zehn Wochen beim Kontor für landwirtschaftlichen Bedarf in Gera.
Die MTS Sangerhausen, [Bezirk] Halle, klagt über Mangel an Sperrklinken für den Zella-Mehlis-Binder,34 die schwer zu beschaffen sind. Zuständig für die Auslieferung dieser Ersatzteile ist das Zweigwerk Wutha/Thüringen.35
Die Mitglieder der LPG Fortschritt in der Gemeinde Ditfurt,36 [Bezirk] Halle, sind über die schlechte Reparatur des Mähdreschers der MTS Quedlinburg empört. Die Reparatur des Stalinez 437 wurde sehr oberflächlich durchgeführt, sodass er beim ersten Einsatz wieder ausfiel. Von der Leitwerkstatt Naumburg wurde gleichfalls die Überholung eines Druschsatzes nicht termingemäß fertiggestellt und eine sehr schlechte Reparatur durchgeführt, sodass er täglich ausfällt und eine Verzögerung in der Erntearbeit eintritt.
In der VEAB Wolgast, [Bezirk] Rostock, die bereits große Schwierigkeiten in der Getreideeinbringung hat, ist eine Traktorenanlage ausgefallen, weil ein Ersatzteil fehlt, das erst in acht Tagen geliefert wird.
Anlage 3 vom 21. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Stimmen aus der DDR zum Fall Dr. John
Unter der Bevölkerung werden nur noch vereinzelt Diskussionen über den Fall John geführt. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv. Darin wird zum Ausdruck gebracht, dass der Schritt Johns ein Schlag gegen die Adenauer-Regierung38 ist und es wird betont, dass in Bonn etwas faul sein muss, wenn sich führende Politiker wie Dr. John in die DDR begeben. So sagte z. B. ein Arzt des Krankenhauses in Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Man muss sagen, dass es um den Kapitalismus nicht gut bestellt ist. Wenn man die Ereignisse der letzten Zeit betrachtet, so wird man feststellen, dass die Bonner Regierung gewaltige Schläge erlitten hat. Besonders kommt dies durch den Übertritt Dr. Johns zum Ausdruck und meine Meinung ist die, dass damit auch der Streik irgendwie in Verbindung zu bringen ist. Des Weiteren zeigt sich, dass die Bonner Regierung nicht mehr fest im Sattel sitzt.«
Ein Arbeiter der Bau-Union in Gefell, [Bezirk] Gera: »Der Übertritt Johns in die DDR zeigt, dass ein Mann, welcher eine solch hohe Stellung im Adenauer-Staat hatte, für diesen Staat einen schweren Schlag bedeuten muss.39 Der Übertritt dieses Mannes ist von großer Bedeutung und jeder müsste sich mit seinen Ausführungen befassen.«
Ein Steinsetzmeister aus Lobenstein, [Bezirk] Gera: »Ich bin in Westdeutschland gewesen und musste feststellen, dass dort kein gesundes Wirtschaftssystem herrscht. Ich bin der Meinung, dass sich in Westdeutschland bald etwas tun wird. Die Flucht Dr. Johns in die DDR hat drüben einen großen Aufruhr verursacht.«
Während einer Versammlung der NDPD in Neubrandenburg kam es zu folgender Diskussion: »Die kurzen und klaren Antworten Dr. Johns auf der Pressekonferenz haben ganz verblüffend auf die Pressevertreter gewirkt. Besonders die Frage des ›Hamburger Anzeigers‹, ob Dr. John in Moskau war und die Antwort darauf ›Nein, leider nicht‹.«
Ein geringer Teil hegt Zweifel an der ehrlichen Absicht Dr. Johns, in die DDR gegangen zu sein, um hier für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zu wirken. So äußerte z. B. ein Arbeiter aus Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt: »Es ist ganz gut, dass Dr. John in die DDR gekommen ist, aber man weiß ja nicht, was dahintersteckt. Ein Rudolf Heß40 ist auch einmal nach England geflogen.«
In den nur ganz vereinzelten negativen und feindlichen Stimmen zeigt sich eine Beeinflussung durch die Westsender und zwar wird dahingehend argumentiert, dass John ein Verräter ist und von der DDR für schmutzige Zwecke ausgenutzt wird. So äußerte z. B. ein Angestellter vom VEB Elfe,41 [Bezirk] Erfurt: »Solche Lumpen wie Dr. John brauchen die gerade hier. Er will ganz Europa bolschewisieren. Dafür wird er gut bezahlt. Ich lebe lieber im Kapitalismus als im Bolschewismus, da geht es mir besser.«
Eine Einwohnerin aus Erfurt: »Mit Dr. John ist ein gemeines Spiel getrieben worden. Man hat ihn unter Einwirkung einer Rauschgiftnarkose in die DDR gebracht und hier muss er alles machen, was die Regierung will, sonst wird er umgebracht.«
Ein Bürger aus Mahlsdorf, Berlin: »Die Ausführungen, die Dr. John auf der Pressekonferenz gemacht hat, wurden in Moskau ausgearbeitet. Von sich aus wird so ein Mann nicht so etwas erzählen. Das ist doch alles nur Propaganda gegen den Westen.«
Ein Angestellter der Schiffswerft Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt: »Ich bin der Meinung, dass es sich bei Dr. John um einen gekauften Menschen handelt und dass alles nur Zirkus ist. Man kann die ganze Sache nicht ernst nehmen.«
Anlage 4 vom 21. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Westdeutsche und Westberliner Stimmen zum Fall Dr. John
In den verschiedensten westdeutschen sowie Westberliner Kreisen wird über den Fall John gesprochen. Dabei kommt es überwiegend zu positiven Äußerungen. Es wird dabei betont, dass sie ihrer Presse keinen Glauben schenken, die die schmutzigsten Dinge über Dr. John zu berichten weiß. Sie erklären übereinstimmend, dass sie den Schritt Johns billigen, da die Politik Adenauers nicht gutgeheißen werden kann. So erklärte zum Beispiel ein Angestellter aus Westberlin: »Ich kann die Flucht Dr. Johns voll und ganz verstehen. Bei den Nazis wurde ihm großes Leid zugefügt, indem sein Bruder im KZ umgebracht wurde.42 John hasste die Nazis aus tiefstem Herzen, nun musste er feststellen, dass sich diese in der Bonner Regierung befinden und sich wieder breitmachen. Das war ausschlaggebend für seine Handlungsweise.«
Ein Architekt aus Westberlin: »Ich hoffe, dass noch recht viel solcher aufrechter Deutscher in verantwortlichen Positionen den gleichen Weg gehen mögen, wie ihn Dr. John gegangen ist, um der kriegstreiberischen Adenauer-Regierung endgültig die Maske vom Gesicht zu reißen.«
Ein Arbeiter aus Westberlin: »Ich bin davon überzeugt, dass Dr. John freiwillig nach dem Osten gegangen ist. Er konnte es scheinbar nicht länger mit seinem Gewissen vereinbaren, der Regierung Adenauers anzugehören. Ich bin der Meinung, dass man jetzt das ›Amt für Verfassungsschutz‹ auflösen muss und an dessen Stelle eine andere Organisation aufbauen muss.«
Eine Angestellte aus Westdeutschland: »An dem Beispiel Dr. John, der sich der Adenauer-Regierung entzog, sieht man, dass viele hier bei uns mit der Regierung nicht einverstanden sind. Der Fall John ist auch ein Ausdruck dessen, wie schlecht es mit der Adenauer-Regierung steht.«
Ein Arbeiter aus Westdeutschland: »Es ist ganz offensichtlich, dass unsere Blätter lügen, weil sie nicht wissen, wie sie den Fall John begründen sollen. Er hatte eben erkannt, dass die westdeutsche Politik zum Krieg führt und die alten Nazis, die an einem Krieg interessiert sind, wieder [in] ihren Stellungen sitzen.«
Ein Angestellter aus Westberlin: »Wenn jemand wie Dr. John in so einer Stellung in den Osten geht, so muss in Bonn schon etwas faul sein. Die Pressekonferenz hat der Weltöffentlichkeit schlagartig die Augen geöffnet und erkennen lassen, dass die Adenauer-Regierung mit ihrer amerikanischen EVG-Politik in eine Sackgasse geraten ist.«
Ein Geschäftsmann aus Stuttgart: »Das Gefasel des Innenminister Schröder43 über den Fall John, dass er entführt worden sei, ist barer Unsinn, einfach kalter Kaffee. Er ist eben übergelaufen und die Blamage können sie nicht offiziell zugeben, denn es war doch einer der höchsten Beamten, der recht viel Einblick hinter die Kulissen hatte.«44
Ein Arbeiter aus München: »Durch die Flucht Johns wurde das Adenauer-Regime ganz schön erschüttert, unsere Minister sind außer Rand und Band. In der Presse wurde es als eine Entführung hingestellt, aber das Volk glaubt ihnen das nicht. Es herrscht eine höllische Freude über die gelungene Flucht Dr. Johns. Ich hoffe, dass dadurch bei den nächsten Wahlen Konrad45 nicht wieder durchkommen wird.«
Ein Arbeiter aus Coburg: »Als die Leute erfuhren, dass John nach dem Osten ist, da war etwas los hier. Die Regierung stellte es so hin, als wenn er entführt worden wäre. Nach der Pressekonferenz bezeichnen sie ihn als Verräter, der schon seit 16 Jahren mit Russland in Verbindung stand.«
Ganz vereinzelt wurden negative Äußerungen bekannt. Darin zeigt sich eine Beeinflussung durch die Westpresse und eine Wiedergabe deren Argumentation. So sagte zum Beispiel ein Intelligenzler aus Bayern: »Es ist gar nicht verwunderlich, dass der Chef des Bundesverfassungsschutzamtes nach dem Osten geflohen ist. Er hat schon einmal im Trüben gefischt und zwar in der Zeit von 1940–1945.46 Solche Herren sind als Durchreisende zu betrachten. Hoffentlich geht es ihm mal an den Kragen.«
Ein Angestellter aus Köln: »Mit John ist es eine tolle Angelegenheit. So ein Mann würde in der Ostzone sicher nicht mehr leben, wenn er gefasst würde. Wir Kleinen sind ja in solchen Sachen machtlos. Bedauerlich ist nur die Blamage unserer Regierung, sie hat dadurch viel Vertrauen verloren. Leider ist das wieder ein Sieg des Kommunismus, sie haben wahrscheinlich eine gute Konstellation der Sterne.«
Ein Angestellter aus Frankfurt/Main: »Hier waren die Zeitungen voll von Meldungen über den Hochverräter John. Das Schlimmste dabei ist nicht das Wissen, das er mitnahm, sondern die Erschütterung des Glaubens der Ostzone an den Westen. Ein Glück ist nur, dass Adenauer ihn niemals ins Vertrauen gezogen hat, denn er kannte ihn. Wahrscheinlich hatte er noch keine Machtmittel, um ihn abzusägen, da er ja nur durch die Engländer zu diesen Posten kam. Aus Dankbarkeit dafür, dass er im Kriege für sie gegen uns spioniert hat. Solche Gesinnungslumpen sind dann in verantwortlicher Stellung.«
Anlage 5 vom 21. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Der Fall John im Blickpunkt englischer Wochenzeitungen
Der Londoner Rundfunk47 kommentierte am 18.8.1954 in seiner allwöchentlichen Presseschau englische Pressestimmen, die sich mit den Beweggründen des Verhaltens von Dr. John und dessen Auswirkung befassen.
Die Einstellung der »Times«, die von einer »persönlichen Tragödie« spricht und es »einen tragischen Widerspruch« nennt, »dass sich Dr. John freiwillig in den Bereich eines Regimes begeben hat, das die von ihm am meisten gehassten Merkmale des Nazismus aufweist«, wird von dem Sender als charakteristisch auch für andere führende Zeitungen genannt.48 Es werden auch noch andere Pressestimmen gebracht, die verurteilen, dass Dr. John aus Angst vor dem Nazismus in die DDR ging.
Weiterhin beschäftigt man sich mit der Frage, ob die Anschuldigungen Dr. Johns betreffend des Nationalismus echt seien. Nach Meinung des Kommentators »begegnet man in der Presse dabei widersprechenden Meinungen«, und er sagt: »Die links-sozialistische Wochenschrift ›Tribüne‹49 bejaht die betreffende Frage mit Hinweis auf die Bundesminister Oberländer,50 Kraft,51 Preusker«52 und sagt, »Dr. Adenauer habe zwar versichert, dass es zu keinem Wiederaufleben des Nationalsozialismus kommen werde, aber was seien diese Worte gegenüber seinen Taten?«
Ein anderes Blatt bestreitet keineswegs, dass in Bonn ehemalige Nationalsozialisten wichtige Ämter bekleiden. Unterstreicht aber, dass gegen keinen von ihnen Schwerwiegendes vorliegt und gibt dann die Gründe im Einzelnen an, weswegen es Johns Anschuldigen ablehnt: »Die ehemaligen Nazis, die in der Bundesrepublik hohe Ämter bekleiden, sind vielleicht nicht sehr sympathisch, aber es besteht kein Grund, sie für Psychopathen zu halten oder zu meinen, dass sie sich nach der Hitlerzeit zurücksehnen. Noch weniger besteht Grund zur Annahme, dass Dr. Adenauer für sie persönlich oder für ihre Parteien viel übrig hat. Da er nun einmal an die Demokratie glaubt, musste er sie in seine Koalition aufnehmen; aber sie beeinflussen seine Politik in keiner nennenswerten Weise, denn im Augenblick macht Dr. Adenauer die deutsche Politik und sonst niemand. Demnach gibt es kein einfacheres Mittel, Dr. Adenauers Politik zum Fall zu bringen, als den, ehemaligen Nazis Gelegenheit zu geben, diese Politik zu beeinflussen. Sollten aber Dr. Johns Anschuldigungen stimmen und die ehemaligen Nationalsozialisten tatsächlich versuchen, in der Bundesrepublik die Macht in die Hand zu bekommen, dann ist die engere Eingliederung Deutschlands in das westliche Bündnissystem eine umso dringlichere Aufgabe und das beste Mittel, einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken.«
Zur Frage der Auswirkungen des Falles John auf die Politik Englands gegenüber Deutschland wird aus dem Leitartikel des »Observer«53 zitiert: »Wir haben seinerzeit sehr wenig getan, um die demokratische Weimarer Republik zu unterstützen und zu festigen. Heute die Bundesrepublik zu zwingen, in isolierter Abhängigkeit zu bleiben, ist bestimmt kein Schutz vor einer neuen deutschen Gefahr. Wir müssen nun damit rechnen, dass sich Deutschland dem Westen zum Trotz wiederbewaffnet, nachdem ihm das Recht verweigert wurde, sich als Partner der Westmächte zu bewaffnen. Die Russen werden hier natürlich die Deutschen in ihrer Haltung gegen den Westen bestärken. Soll Deutschland mit Einwilligung des Westens wieder aufgerüstet werden, dann sind bestimmte Vorkehrungen notwendig. Gerade diese Vorkehrungen soll der EVG-Vertrag ermöglichen. Selbst in dem mehr als lockeren Gefüge der NATO54 wird eine deutsche Armee unter Aufsicht eines internationalen Hauptquartiers stehen. Schließt man Deutschland aus, dann wird es damit zum Paria, der sich mit List und Gewalt nimmt, was er erlangen kann. Wolle man aber verhüten, dass Deutschland wieder militaristisch wird und herrschsüchtig, dann gibt es kein besseres Mittel, als es zum Partner in der demokratische Gemeinschaft der westlichen Völker zu machen«.
Anlage 6 vom 21. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2293
Hetzschriftenverbreitung
Die Funde von Hetzschriften haben in der 1. Augusthälfte sehr stark zugenommen, sodass sich die Zahl der gefundenen Hetzschriften in der 2. Julihälfte von ca. 335 000 auf ca. 647 000 in der 1. Augusthälfte fast verdoppelt hat. Das Ansteigen der Zahlen ist [auf] die große Anzahl der erst jetzt während der Erntearbeiten auf den Feldern gefundenen aber schon früher verbreiteten Hetzschriften zurückzuführen. Es handelt sich dabei im überwiegenden Maße um »Stimmzettel« des SPD-Ostbüros,55 Hetzschriften der KgU,56 die sich gegen die Ergebnisse der Volksbefragung richten und alte Hetzschriften des CDU-Ostbüros mit der Überschrift »Es gibt nur einen deutschen Staat« mit der Regierungserklärung Adenauers.57 Neue Arten von Hetzschriften, die mittels Ballons o. Ä. verbreitet werden, traten nicht auf. Schwerpunkt bilden die Bezirke Schwerin, Potsdam und Neubrandenburg.
Neue Hetzschriften werden vorwiegend von dem UFJ auf dem Postwege verbreitet. Im geringen Maße versenden die KgU und das SPD-Ostbüro (ein Fall) neue Hetzschriften durch die Post.
Auswertung der Hetzschriften
»Untersuchungsausschuss der freiheitlichen Juristen«
Immer wieder treten in den Hetzschriften des UFJ Drohungen gegen Bürger der DDR auf. Benutzt werden dabei vor allem die sogenannte Belastetenkartei des UFJ,58 Berichte über in Westberlin oder Westdeutschland geahndete »Unrechtshandlungen« ehemaliger Funktionäre und persönliche Drohbriefe. Diese Drohungen werden mit der Aufforderung verbunden, bekanntwerdende »Unrechtshandlungen« dem UFJ zu melden.
An die Ehefrauen von Angestellten der Reichsbahn werden persönliche Drohbriefe gesandt, in denen diese mit Hinweis auf »die letzte Verhaftungswelle bei der Deutschen Reichsbahn« aufgefordert werden, sich um die Tätigkeit ihres Mannes zu kümmern. Es heißt: »Schon morgen vielleicht kann es ihr Mann sein, der sich wegen seiner drohenden Verhaftung mit der Familie nach dem Westen absetzen muss.« Folgende »Ratschläge« werden gegeben: »Versuchen sie einmal in einer ungestörten Stunde mit ihrem Mann über seine Tätigkeit zu sprechen … und bemühen sie sich, ihn unmerklich im Sinne des Guten immer wieder zu beeinflussen … Legen sie ihrem Mann nahe, seine Stellung zu benutzen, um Unrecht zu verhindern oder zu mindern. Halten sie ihn davon ab, politische Gegner zu denunzieren. Nehmen sie jede Gelegenheit wahr (eventuell anonym), gefährdete Menschen zu warnen!« Zum Schluss wird »empfohlen«, mit dem UFJ in Verbindung zu treten.
In der 2. Ausgabe der für das Land Thüringen bestimmten Hetzschrift »Das grüne Herz Deutschlands« wird unter der Überschrift »Das Ende einer Volksrichter-Karriere« von dem ehemaligen jetzt republikflüchtigen Volksrichter Hammer gesprochen, der jetzt »seinem Strafverfahren wegen Rechtsbeugung« in Westberlin entgegensehe.59
»Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«
Unter der Überschrift »Die Atempause« werden die Lehrer und Erzieher der DDR aufgefordert, ihren Urlaub dazu zu benutzen, um sich Gedanken zu machen, wie sie die Ziele unserer demokratischen Schule im kommenden Schuljahr sabotieren können. In Verhetzung unserer demokratischen Schule heißt es in den an Lehrer u. a. gesandten Schreiben, dass »der schulische Raum im vergangenen Jahr bedrückend eng geworden ist, das Ziel der SED-Politik die ›Verstaatlichung des Menschen‹ sei, die Lehrer manches Wort gegen ihre Überzeugung, gegen ihr Gewissen sprechen müssten und es von den Lehrern abhängt, ob die Ideologie des Hasses in den Herzen und Hirnen der Kinder Wurzel schlägt«.
Die KgU fordert: »Solange sie die befohlenen Phrasen nur als Verpackung, nicht aber als Inhalt in ihren Unterricht hineinnehmen, werden sie leere Worte bleiben, die ebenso wenig zünden wie leeres Stroh keimt. Diese Aufgabe ist sinnvoll und braucht sie.« Gleichzeitig sollen die Lehrer mehr Verbindung mit dem Elternhause suchen, um dort die Ziele der demokratischen Schule zunichtezumachen.
Die Tatsache der teilweisen Schulgeldforderung bezeichnet die KgU in einem weiteren Absatz des Schreibens als »missbrauchtes Verfassungsrecht« und fordert die Lehrer auf, »sich endlich für verfassungsgemäße Anordnungen einzusetzen … Beweisen sie die von ihnen gepriesene demokratische Gesetzlichkeit, indem sie verlangen, dass die seit 1949 auf dem Papier bestehende Schulgeldfreiheit endlich für den Schulgebrauch verwirklicht wird«.60
Die KgU beginnt jetzt in persönlichen Schreiben [an] »Bürgermeister, Verwaltungsfunktionäre und die ländliche Bevölkerung« mit der Hetze gegen die Volkskammerwahlen. Nach üblen verleumderischen bereits bekannten Ausführungen über die Lage in der DDR wird gefordert, »recht viele ungültige Stimmen abzugeben«. Gleichzeitig sollen die Empfänger der Briefe »Anonyme Mitarbeiter« werden und den Inhalt der Schreiben anonym weitergeben. Die Schreiben mit sinngemäß gleichem Inhalt treten in verschiedenen Ausführungen auf.
SPD-Ostbüro
Das SPD-Ostbüro versendet eine neue Hetzschrift mit der Überschrift »Arbeit und Aufbau« mit dem angeblichen Herausgeber »Eine Gruppe Sozialdemokraten im Stahlwerk Hennigsdorf«.
Die erste Seite der Hetzschrift enthält den gleichen Artikel über angebliche Versuche der Normenerhöhung durch die Wirtschaftszweiglohngruppenkataloge,61 wie er in der Hetzschrift des SPD-Ostbüros »Tribüne« enthalten war und [über] den am 12.8.1954 berichtet wurde.62
Andere Artikel beschäftigen sich mit örtlichen Problemen aus dem Stahlwerk Hennigsdorf, deren Darstellung eine starke Verleumdung der führenden Funktionäre bedeutet. So wird z. B. berichtet über Verkauf von gesundheitsschädlichen weißen Bohnen in dem Betriebskonsum, die Verweigerung der Gehaltszahlung an Angestellte wegen Nichtbesuch einer Versammlung, mangelnde Sparsamkeit der leitenden Funktionäre, »Lügenmeldungen« in der Betriebszeitung usw.