Zur Beurteilung der Situation
16. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2125 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Das Interesse an der Viermächtekonferenz1 geht weiterhin zurück, da meist keine Ergebnisse in der Deutschlandfrage mehr erwartet werden, wogegen pessimistische Stimmen und Gleichgültigkeit zum Verlaufe der Viererkonferenz anwachsen. Auf einer Belegschaftsversammlung im VEB Thüringer Fleischwaren in Eisenberg, [Bezirk] Gera, sprach ein Referent vom Rat des Bezirkes über die Außenministerkonferenz. In der nachfolgenden Diskussion ergriff keiner der Betriebsangehörigen das Wort zu den Ausführungen.
Im Privatbetrieb Baubeschläge-Fabrik Gerold2 in Schlettau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sollte auf einer Betriebsversammlung über die Außenministerkonferenz eine Resolution abgefasst werden, jedoch verließen sämtliche Arbeiter nach dem Referat den Versammlungsraum mit der Begründung, dass es zwecklos sei, dazu etwas zu sagen, sie wollten lieber über Lohnfragen sprechen.3
Ein Arbeiter aus der Brikettfabrik Lobstädt, [Bezirk] Leipzig: »Ich begrüßte die Vorschläge Molotows,4 glaube aber nicht daran, dass die Konferenz einen Erfolg bringen wird, da diese Vorschläge nicht angenommen werden.«5
Von einem nicht geringen Teil der Werktätigen werden die Vorschläge des Genossen Molotow zustimmend aufgenommen, wobei meist nicht auf die einzelnen Vorschläge selbst eingegangen wird. Im Zusammenhang hiermit wird des Öfteren gegen die ablehnende Haltung der westlichen Außenminister Stellung genommen. Weiterhin werden der Abzug der Besatzungsmächte und die Teilnahme deutscher Vertreter an der Konferenz in einzelnen Stimmen gefordert.6
Eine parteilose Kollegin vom VEB Feintuch Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus: »Es zeigt sich, dass die westliche Bande keinen Frieden haben will, denn sie lehnten ja alle Vorschläge von Molotow ab. Sie wollen, dass wir es so machen, wie sie es wollen, aber die haben sich in den Finger geschnitten.«
Von einem kleineren Teil der Werktätigen wird in negativer Art über die Viererkonferenz gesprochen, wobei weiterhin die Forderungen nach »freien Wahlen«7 und Revision der Oder-Neiße-Grenze Hauptargumente sind. Daneben treten negative Äußerungen noch in verschiedenen Formen auf, wobei des Öfteren RIAS-Argumente zum Ausdruck kommen.
Ein großer Teil der Arbeiter ist im Privatbetrieb Göthel8 in Scheibenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, der Meinung, dass die letzten Wahlen in der DDR keine freien Wahlen gewesen sind.9
Einige Kollegen der Mechanischen Werkstatt des Karl-Marx-Werkes in Potsdam10-Babelsberg sind der Ansicht, dass es gleichgültig sei »ob Pieck,11 Adenauer,12 Grotewohl13 oder sonst wer oben ist, wenn freie Wahlen durchgeführt werden, entscheiden sich die Arbeiter selbst«.14
Ein Arbeiter aus dem VEB Lowa Görlitz,15 [Bezirk] Dresden: »Die westlichen Außenminister haben tausende Briefe aus der DDR erhalten, die ihnen wirklich zeigen, wie die Bevölkerung denkt. Molotow dagegen musste sich mit 80 Briefen begnügen.«16
Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Lowa Görlitz, [Bezirk] Dresden: »Im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz hat in der Ostzone eine neue Verhaftungswelle eingesetzt. Jeder, der etwas äußert, wird hinter Schloss und Riegel gesetzt. In Chemnitz allein hat man in den letzten Tagen 33 Personen verhaftet.«
Ein Angestellter vom VEB Zinnerz, Altenberg, [Bezirk] Dresden: »Es war mir von vornherein klar, dass die Konferenz nichts wird. Vor lauter Vorschlägen kommen die ja gar nicht zum Verhandeln.«
Ein Kollege aus dem Clement-Gottwald-Werk Schwerin: »Der sowjetische Vorschlag betreffs Abzug der Besatzungstruppen vor den Wahlen ist falsch. Das Ergebnis wäre Mord und Totschlag. Das ist noch von den Wahlen von 1933 bekannt.«
Eine schlechte Stimmung besteht unter den Kollegen des Industriewerkes Ludwigsfelde, [Bezirk] Potsdam, da der Produktionsplan 1954 noch nicht in Angriff genommen wurde. Außerdem entstehen durch Stromabschaltungen Wartezeiten, die nur mit 90 Prozent des Durchschnittslohnes bezahlt werden.17
Kohlenmangel besteht im Kabelwerk Köpenick, [Bezirk] Berlin, wodurch am 17.2.1954 die Produktion eingestellt werden muss, wenn bis dahin keine neuen Kohlenlieferungen eintreffen.
Landwirtschaft
Unter der Landbevölkerung hat die Diskussion über den Verlauf der Viererkonferenz stark nachgelassen. Da in der Deutschlandfrage bisher keine Ergebnisse erzielt wurden, kommen in den Diskussionen der Landarbeiter, werktätigen Einzelbauern und Genossenschaftsbauern immer wieder Zweifel zum Ausdruck,18 die durchblicken lassen, dass das Deutschlandproblem ohne Krieg kaum zu lösen ist. Es wird von diesen Kreisen betont, dass die Bemühungen des sowjetischen Außenministers Molotow einmalig waren und den Interessen der Werktätigen Deutschlands entsprachen, dass aber viele nicht verstehen können, dass die Westmächte auf diese Vorschläge nicht eingehen. Diese Frage und die der Wahlen sind großen Kreisen der Landbevölkerung unklar. Der aggressive Charakter der Bestrebungen der Westmächte und im Gegensatz dazu die Bemühung der SU zur Erhaltung des Friedens werden von großen Teilen der Landbevölkerung nicht erkannt.19
Die negativen großbäuerlichen und feindlichen Kräfte nutzen diese Unklarheiten aus, sprechen von der Unvermeidlichkeit eines Krieges, von der Notwendigkeit der Durchführung »freier Wahlen«, der Einführung der »freien Wirtschaft«. Die großbäuerlichen Elemente, die in den letzten Wochen mit ihren Diskussionen teilweise etwas im Hintergrund blieben, treten momentan wieder etwas stärker hervor.20
Ein werktätiger Bauer, wohnhaft in Schwaneberg, [Bezirk] Neubrandenburg: »Es wäre besser, wenn wir erst die Wahlen durchführen würden und dann die provisorische Regierung gründen. Die Menschen in Westdeutschland wollen doch auch nur Frieden.«
Ein Kleinbauer aus Hof-Mummendorf, [Bezirk] Rostock, sagte: »Wenn sich alle Deutschen in Ost und West einig wären, brauchten wir die Außenministerkonferenz nicht. Wenn die sich nicht einig werden, dann hauen wir die Polen aus unserem Vaterland heraus. Lieber sollen Millionen sterben, als wenn Deutschland dauernd von Polen besetzt bleibt.«
Ein Kleinbauer aus Hildebrandshagen, [Bezirk] Rostock: »Ich bin mit diesem Regime nicht einverstanden, hier bei uns in der DDR geht es zu hart zu. Im Westen ist wenigstens freie Wirtschaft.«
Ein Großbauer aus Henningen, [Bezirk] Magdeburg: »Mit der Außenministerkonferenz werden sie keinen Erfolg haben. Wenn es zu einem Krieg kommen wird, werden die Russen sich wundern. Ich war bei meiner Tochter drüben in der Nähe des Teutoburger Waldes. Dort liegt der ganze Wald voller Geschütze und Amilager. Ich wollte dort spazieren gehen, aber überall war es abgesperrt. Die Bevölkerung sagte, die sollen dort riesige Geschütze haben.«
Ein Bauer aus Kuhfelde,21 [Bezirk] Magdeburg: »Mit der Außenministerkonferenz in Berlin wird es nie was werden. Als ich aus dem Gefängnis 1953 entlassen wurde, habe ich meinen Hof wieder zurückerhalten, der Hof war sehr schwer wieder in Gang zu bringen. Aber es kommt Gott sei Dank nach dieser Zeit wieder eine andere. Auch für uns kommt bald wieder Frühling.«
In einer Gastwirtschaft in Veckenstedt,22 [Bezirk] Magdeburg, diskutierten mehrere Bauern wie folgt: »Die Viererkonferenz kommt sowieso zu keinem Ergebnis, die sind sich alle einig, uns kaputt zu machen. Wenn das so weiter geht, wird es genauso wie vor dem 17.6.1953, dann werden wir wohl alle in der Produktionsgenossenschaft sein.23 Man sollte es so machen wie früher, eine freie Wirtschaft, dann könnte man wieder leben. Oder es müsste so wie in Westdeutschland sein, wo man für 1 Zentner Weizen 20[,00] Westmark bekommt. Dann könnten sie uns alle mal gern haben, dann hätten wir wieder das Wort.«24
Wie schlecht es noch in einigen Gemeinden der DDR mit der politischen Aktivität aller fortschrittlichen Kräfte steht, welchen Einfluss hier die Kirche ausübt und die politische Uninteressiertheit und Gleichgültigkeit stärkt, zeigt ein Beispiel aus der Gemeinde Bertelsdorf, Kreis Sebnitz, Bezirk Dresden. Hier wurde die Sammelliste der BHG zur Unterstützung der westdeutschen Patrioten ohne eine Einzeichnung zurückgegeben.25 Eine in der gleichen Gemeinde durchgeführte Sammlung für die Kirche zum Neubau eines Glockenstuhles brachte Spenden von 50,00 DM bis 500 DM.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Es ist ein weiterer Rückgang der Diskussionen über die Viererkonferenz auch unter der übrigen Bevölkerung festzustellen. Diese gleichgültige Haltung begründet man damit, dass die Konferenz bereits dem Ende zugeht und noch keine positiven Resultate in der Deutschlandfrage vorhanden sind. Während der fortschrittliche Teil der Bevölkerung klar erkennt, dass die Westmächte kein Interesse an einer Einigung haben, sind bei einem größeren Teil der Bevölkerung Unklarheiten in dieser Frage vorhanden.
Ein parteiloser Angestellter beim Rat der Stadt Stavenhagen, [Bezirk] Neubrandenburg: »Sie haben schon so viele Sitzungen abgehalten und noch über keinen Punkt eine Einigung erzielt. Dies ist ein Zeichen, dass die westlichen Außenminister einen neuen Weltkrieg haben wollen. Ich halte es daher für meine Pflicht, für die Einheit Deutschlands und einen Friedensvertrag mit Deutschland einzutreten.«
Ein Straßenwärter aus Marienberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wie können sie mit der Einheit rechnen, solange sie sich noch gegenseitig beschimpfen. Es gibt nur Aufsehen und sie können sich doch nicht einig werden. Abends sitzen sie dort zusammen und leben gut und das wird dem deutschen Volk entzogen.«
Ein Gastwirt (DBD) aus Porstendorf,26 [Bezirk] Gera: »Ich glaube nicht, dass es zu einer Einigung zwischen den Großmächten kommt, da sich zwei verschiedene Systeme gegenüberstehen.«
Eine Hausfrau aus Schönberg, [Bezirk] Rostock: »Wenn der Mist doch bloß erst vorbei wäre. Was Ordentliches kommt doch nicht dabei heraus. Ich glaube überhaupt an nichts mehr. Die Nazis haben uns belogen und heute machen sie es auch nicht viel anders.«
Besonders negativ treten kleinbürgerliche Kreise in Erscheinung. Hierbei wird vor allem über »freie Wahlen« diskutiert und behauptet, dass die Wahlen in der DDR keine demokratischen Wahlen gewesen seien.
Ein Fuhrunternehmer aus Putbus, [Bezirk] Rostock: »Das Einzige27 was richtig wäre sind freie Wahlen, denn nur dadurch können wieder normale Verhältnisse hergestellt werden. Ich will auch keinen Krieg und auch keinen Faschismus, aber so wie es hier ist, kann es auch nicht weitergehen. Vom demokratischen Staat wird hier bei uns viel gesprochen, bloß man merkt nichts davon. Wenn man etwas laut sagt, was einen nicht passt und was auch nicht richtig ist, dann heißt es gleich, man liegt schief und man ist ein Feind.«
Ein Gastwirt aus Ribnitz, [Bezirk] Rostock: »Der Trubel mit der Viererkonferenz kostet dem Staat nur Geld. In Westdeutschland hat man freie Wahlen durchgeführt,28 die ohne Aufsicht vonstattengeht [sic!]. Wogegen man in der DDR nicht frei wählen kann.«
Ein Baumeister aus Gröbelein,29 [Bezirk] Rostock: »Von vornherein konnte man wissen, dass bei der Konferenz nichts herauskommt. Der Russe versucht sein Möglichstes, die Einheit Deutschlands und freie Wahlen zu verhindern, sowie die Konferenz zum Scheitern zu bringen.«
Ein parteiloser Holzbearbeitungsfabrikant aus Grünhainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, äußerte zur Unterschriftensammlung:30 »Es hat ja überhaupt keinen Zweck zu unterschreiben, sie sollen lieber einmal die Wahlen wieder so durchführen, wie es früher war, aber nicht so wie bei uns im Oktober 1950. Drüben im Westen ist die richtige Demokratie.«
Aus Anlass der Außenministerkonferenz fand in der Gemeinde Manebach, [Bezirk] Suhl, eine Einwohnerversammlung statt. Von den 2 700 Einwohnern waren 70 erschienen. Einige Tage später fand eine Kinovorstellung statt, die sehr zahlreich besucht war. Dort sprach in einer Pause ein Genosse über die Außenministerkonferenz. Hierbei wurde er während seiner Ausführungen durch lautes Schreien und Pfeifen am Weitersprechen verhindert [sic!].
Aus Magdeburg wird eine stärkere Arbeit der »Jungen Gemeinde« insbesondere in der Werbearbeit gemeldet.
Feindtätigkeit
In geringer Anzahl wurden Flugblätter in den Bezirken Potsdam, Karl-Marx-Stadt und Leipzig aufgefunden. Im VEB Kombinat Espenhain wurden an verschiedenen Stellen des Werkes selbstgefertigte Hetzzettel mit der Parole: »Wir fordern freie geheime Wahlen unter der Kontrolle der UN« gefunden.
Ein Betriebsschutzangehöriger der Großkokerei Lauchhammer wurde in der Nacht vom 14. zum 15.2.[1954] tätlich angegriffen und durch einen Messerstich schwer verletzt. Die drei Täter wurden festgenommen.
Einschätzung
Die Diskussionen über die Konferenz lassen weiterhin nach. Die pessimistischen Stimmungen wachsen an, weil keine Einigung in der Deutschlandfrage erzielt wurde. Die Vorschläge Molotows werden zum großen Teil besonders von Arbeitern zustimmend aufgenommen.
Gegen die ablehnende Haltung der Westmächte wird vorwiegend von Arbeitern Stellung genommen, dagegen bestehen besonders auf dem Lande und bei der übrigen Bevölkerung größere Unklarheiten über die aggressive Rolle der Westmächte.
Die negativen Diskussionen werden im gleichen Umfang wie bisher unter einem kleinen Teil der Bevölkerung geführt. Dabei zeigt sich immer wieder ein verhältnismäßig großer Einfluss der West-Sender.