Zur Beurteilung der Situation
11. August 1954
Informationsdienst Nr. 2284 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen über politische Tagesfragen sind weiterhin gering. Zum Fall John1 sowie zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten2 Otto Grotewohl3 haben die Diskussionen abgenommen. Der Inhalt hat sich gegenüber den Vortagen nicht geändert. Zur bevorstehenden Volkskammerwahl ist der Umfang der Diskussionen noch gering, jedoch werden sie aus fast allen Bezirken berichtet. Darin wird teilweise der Vorschlag auf eine einheitliche Kandidatenliste begrüßt.4 Ein kleinerer Teil wendet sich gegen die einheitliche Liste und fordert Parteiwahlen, da dies demokratischer sei. Hierbei zeigt sich der feindliche Einfluss des RIAS.
Ein parteiloser Walzenschneider im VEB Blechwalzwerk Olbernhau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin nicht damit einverstanden, dass man zur Volkswahl nur eine Kandidatenliste aufstellt. Man müsste den Wählern Gelegenheit geben, die Parteien im Einzelnen zu wählen.«
Ein Ingenieur aus der Konstruktionsabteilung im »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg: »Diese Wahlen sind ein Betrugsmanöver, denn es sind alles fertige Listen. In Westdeutschland sind die Wahlen demokratisch. Hier stellte es sich ja bei der letzten auch heraus, dass die Kommunisten nur 5 Prozent der Stimmen hatten.«5
Auf Baustellen des VEB Tiefbau Berlin vertreten hauptsächlich ältere Kollegen die Meinung, dass vier Parteien aufgestellt werden müssten, damit man von freien Wahlen sprechen könnte.
Im VEB Papierfabrik Weddersleben, [Bezirk] Halle, brachten mehrere Umsiedler zum Ausdruck, dass sie trotz der Oktoberwahlen die Hoffnung auf Rückkehr in ihre alte Heimat nicht aufgeben.
Zur Rechenschaftslegung in Vorbereitung der Volkskammerwahlen wurden folgende negative Beispiele aus dem Bezirk Magdeburg bekannt.6
Am 5.8.1954 sollte auf der Rappbodetalsperre die Rechenschaftslegung vonseiten der Kommission Handel, [Bezirk] Magdeburg, stattfinden, wozu jedoch der Referent nicht erschien. Die Kollegen waren darüber missgestimmt. Es herrscht die Ansicht, dass »der Referent bestimmt Angst hat, Rechenschaft abzulegen«.
Zu der am 4.8.1954 im »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg durchgeführten Rechenschaftslegung des Vorsitzenden des Rates des Bezirks waren nur 40 Kollegen anwesend, von 9 500 Beschäftigten. Viele Kollegen begründeten ihr Fernbleiben mit persönlichen Angelegenheiten.
Vereinzelt äußerten sich Arbeiter zu den Streiks in Westdeutschland.7 Sie brachten darin ihre Sympathie mit den Streikenden zum Ausdruck und verpflichteten sich zum Teil zu geldlichen Unterstützungen. Zwei Kollegen aus dem Stangenzug des Georgi-Dimitroff-Werkes Magdeburg: »Die Streikenden in Bayern stellen gerechte Forderungen. Wir erklären uns solidarisch mit den Arbeitern in Bayern und Westdeutschland.«
Ein Fahrdienstleiter aus den Leipziger Verkehrsbetrieben: »Wir gehen in der DDR den richtigen Weg. Die Streikbewegung in Westdeutschland beweist wieder einmal die verwerfliche Politik von Adenauer.8 Wir müssen die Arbeiter in Westdeutschland in ihrem Kampf unterstützen.« Im Bezirk dieses Fahrdienstleiters wurden von 23 Kollegen 46,00 DM gespendet.
Die Arbeiter des VEB Werkzeugmaschinenfabrik Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, stellten 1 Prozent ihres Arbeitslohnes zur Verfügung. Im VEB Zemag Zeitz, [Bezirk] Halle, haben sich die Kollegen verpflichtet, einen Stundenlohn für die Streikenden zu spenden. Die Angestellten haben sich dem Beispiel angeschlossen.
Über die Note der Sowjetregierung vom 24.7.1954 wurden nur noch einzelne positive Stimmen bekannt, deren Inhalt sich gegenüber den Vortagen nicht verändert hat.9
Teilweise besteht Unzufriedenheit wegen verschiedener betrieblicher Fragen. Unter den Arbeitern der Reparaturwerkstatt des Verschiebebahnhofs Wustermark, [Bezirk] Potsdam, diskutiert ein großer Teil negativ. So erklärte z. B. ein Arbeiter, dass sie ihre Normen bis zu 200 Prozent erfüllen könnten, jedoch dürften sie nicht 140 Prozent überschreiten. Ein anderer äußerte, dass 70 Prozent der Kollegen gewerkschaftlich nicht organisiert sind, da sie der Meinung sind, der FDGB würde die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllen. Über unsere Regierung äußerte ein anderer Arbeiter: »Wer hat denn die Regierung gewählt? Wir nicht. Die Regierung hat man uns aufgezwungen und sie vertritt gar nicht die Interessen der Arbeiter.« (Meldung ist noch nicht überprüft).
Unter den Arbeitern des VEB Neuhaus,10 [Kreis] Sonneberg, [Bezirk] Suhl, besteht eine Unzufriedenheit, die auf die schlechten Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten zurückzuführen ist. Ein parteiloser Kollege dieses Betriebes sagte dazu: »Ein neuer 17. Juni [1953] ist nicht mehr fern, wenn sich unsere Arbeits- und Lebensbedingungen nicht schnellstens bessern.«
In Glashütte, Kreis Dipoldiswalde, [Bezirk] Dresden, tritt unter den qualifizierten Beschäftigten in den volkseigenen Betrieben die Bestrebung in Erscheinung, dass sie sich selbstständig machen wollen, da sie dann eine bessere Existenzgrundlage hätten. In den VEB würden sie zu wenig verdienen. So ist z. B. im VEB Fahrzeug- und Maschinenbau in Glashütte bereits der 4. Meister weggegangen und hat sich selbstständig gemacht.
In der Bahnmeisterei Gera ist man unzufrieden über die Bezahlung während des Einsatzes bei der Hochwasserkatastrophe.11 Verschiedene Bahnunterhaltungsarbeiter von Weida, Kreis Gera, wollten deshalb in der vergangenen Woche ihre Arbeit niederlegen.
Im VEB Schumann & Co. Leipzig12 sind die Kollegen der Gussdreherei über die schlechte Anlieferung der Werkstücke sehr verärgert. Ein Kollege äußerte hierzu: »Durch die schlechte Anlieferung des Gusses können wir nicht mehr den ganzen Tag hintereinander arbeiten, wodurch unser Verdienst geringer wird. Bei uns herrscht bald so eine Stimmung wie am 17.6.1953.«
Eine ablehnende Haltung zu Ernteeinsätzen wird verschiedentlich von Arbeitern eingenommen. Darin zeigt sich eine falsche Stellung zur Bündnispolitik mit den werktätigen Bauern. So brachten z. B. einige Arbeiter aus dem VEB Jutewerk Triebes, [Bezirk] Halle,13 zum Ausdruck: »Die Bauern haben uns in der schlechten Zeit auch nicht gebraucht und manchmal sogar noch ausgenutzt. Wo es uns jetzt besser geht, haben wir es nicht mehr nötig, den Bauern unter die Arme zu greifen.« Ein anderer Arbeiter sagte: »Wir wollen mehrere Stunden im Betrieb für die Hochwassergeschädigten arbeiten, aber zum Ernteeinsatz aufs Land bringt uns keiner.« Solche Diskussionen wurden in verschiedenen Betrieben des Bezirkes Halle, besonders im Kreis Zeulenroda,14 sowie im Bezirk Frankfurt/Oder geführt.
Über mangelhafte Ausbildung der Kampfgruppen wird aus verschiedenen Betrieben berichtet.15 So sind z. B. die Kampfgruppen in den Bergbaubetrieben des Oberharzes (Kreis Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg) nur papiermäßig aufgestellt. Eine Schulung oder andere Ausbildung findet jedoch nicht statt. Ähnlich ist es im Elmo-Werk Wernigerode, bei der Rappbodetalsperre sowie in der Neptunwerft Rostock.
Produktionsschwierigkeiten
Im VEB Ostglas Schwepnitz, [Bezirk] Dresden, erhöht sich wegen Mangel an hochwertigem Stahl der Ausschuss bei der Glasherstellung.
Im VEB (K) Nordhausen, [Bezirk] Erfurt (Baubetriebe), besteht ein Mangel an Baumaterialien, wodurch mit Unterbrechung gearbeitet werden muss.
Der VEB Vobau in Treuen,16 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, konnte infolge Arbeitskräftemangels seinen Monatsplan nur mit 87 Prozent erfüllen. Es fehlen ca. 50 qualifizierte Weber, wodurch täglich 230 Webstühle ausfallen. Außerdem mangelt es an Spulhülsen.
Produktionssstörung
Am 9.8.1954 brach im Braunkohlenwerk »Friedenswacht« in Lauchhammer, [Bezirk] Cottbus, ein Brand aus. Vermutlich durch Funkenflug. Der Sachschaden beträgt ca. 10 000 DM. Produktionsausfall entstand nicht.
Handel und Versorgung
Überplanbestände bzw. dem Verderb ausgesetzte Lebensmittel
Im Hauptlager Konsumfleischerei Langensalza, [Bezirk] Erfurt, lagern 4,6 t Speck, die dem Verderb ausgesetzt sind. Dieser Überhang ist auf die verringerte Verarbeitung von Rindfleisch in den letzten Monaten zurückzuführen.
In der DHZ Osterburg,17 [Bezirk] Magdeburg, lagern 2 t Gebäck, die nicht abgesetzt werden können und 4 dz Vollschokolade, die als Überplanbestand an die Produktion zurückgeliefert werden müssen. Absatzschwierigkeiten ergeben sich auch bei dem Verkauf von Pralinen.
Mängel in der Verteilung
HO-Fleisch- und Wurstmangel besteht in mehreren Kreisen des Bezirkes Halle und in der Eisenberger Wurstfabrik, [Bezirk] Gera.
Zigarettenmangel (billige Sorten) in Weißenfels, Zeitz, [Bezirk] Halle, im Wismutgebiet,18 in einigen Kreisen des Bezirkes Neubrandenburg und in Eisenberg, [Bezirk] Gera. In Eisenberg äußern die Arbeiter hierzu: »Wenn sie nichts haben, dann sollen sie ihren Laden zumachen. Im vorigen Jahr hat es um diese Zeit mehr gegeben. Wahrscheinlich nur wegen dem Beginn des Neuen Kurses.«19
Die DHZ Neubrandenburg teilt mit, dass vorläufig keine Zigaretten geliefert werden und führt die Stockung auf die Hochwasserkatastrophe zurück. Der Rat des Bezirkes Neubrandenburg begründet den Zigarettenmangel mit nicht einwandfreien Importtabaklieferungen, die nicht verarbeitet werden können und vertröstet auf neue Importe.
Hülsenfrüchte fehlen im Wismutgebiet und Weißenfels, [Bezirk] Halle.
Missstimmung herrscht in Freital, [Bezirk] Dresden, über die schlechte Belieferung des Konsums mit Mangelwaren, die in den Privatgeschäften oft vorhanden sind. Desgleichen beklagt sich die HO Lobenstein, [Bezirk] Gera, über die bevorzugte Belieferung des Privathandels seitens des kommunalen Großhandels Saalfeld.
Der Privathandel erhält laufend Kirschen, Tomaten, Beeren und dergleichen, während die HO mit etwas Weiß- und Rotkohl beliefert wird. Dadurch kommt der staatliche Handel in Misskredit.
Fischer der Ostsee erklärten, dass die DDR von ihnen ausreichend mit Aalen versorgt werden könnte. Sie hätten aber ihr Soll bereits im Mai erfüllt. Freie Spitzen dürfen sie nicht verkaufen20 und wenn sie Übersoll abliefern, sind die Steuern so hoch, dass sich für sie der Arbeitsaufwand nicht lohnt.
Diskussionen über politische Tagesfragen sind in der Landbevölkerung durch die Inanspruchnahme bei der Ernte unverändert gering. Etwas stärker als die übrige Landbevölkerung beteiligen sich die Werktätigen des sozialistischen Sektors der Landwirtschaft. Ihre Stimmen sind auch in der Mehrzahl positiv.
Zur Genfer Konferenz21 u[nd] z[um] Schritt Dr. John22 wurden nur einige wenige Stimmen mit dem bereits in den Vortagen berichteten Inhalt bekannt.
Zur Regierungserklärung Otto Grotewohls sagte ein Traktorist des VEG Geilsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Hier sieht man immer wieder, dass unsere Regierung ständig bemüht ist, die Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege zu lösen.«
Zum großen Streik in Westdeutschland sagte ein Arbeiter der MTS Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Solch einen riesigen Umfang wie jetzt hat der Streik in Westdeutschland noch nie gehabt. Wenn die Arbeiter fest zusammenstehen kann Adenauer gestürzt werden und die Einheit Deutschlands wird dadurch schnell erreicht.«
Zur Volkskammerwahl im Oktober 1954 vertreten die Mitglieder der CDU im Kreis Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, die Ansicht, dass getrennte Listen der einzelnen Parteien aufgestellt werden müssten. Diesen Standpunkt vertrat auch der Vorsitzende der CDU des Kreises Eilenburg.
Vorwiegend befasst sich die Landbevölkerung mit wirtschaftlichen Fragen bzw. mit der Einbringung der Ernte und den Schwierigkeiten die sich teilweise dabei ergeben.
Die LPG »Thomas Müntzer« Stolzenburg, [Bezirk] Neubrandenburg, beklagt sich über die mangelhafte Unterstützung bei der Einbringung der Ernte vonseiten des Patenbetriebes,23 Wurstfabrik Pasewalk.
Im Bezirk Leipzig klagen die werktätigen Bauern über den häufigen Ausfall von Dreschsätzen und in einzelnen Fällen über die Stromschwankungen beim Dreschen. Der Ausfall von Dreschsätzen ist oft auf eine schlechte Reparaturarbeit zurückzuführen. Die MTS Großzössen z. B. erhielt vier Dreschsätze aus der Leitwerkstatt Liebertwolkwitz, [Bezirk] Leipzig, welche bei Inbetriebnahme schon nach kurzer Zeit wieder ausfielen. In einem Falle wurde ein Arbeiter erheblich verletzt, da die Antriebsscheibe nur locker in der Nute steckte. Die MTS Wiesenau erhielt ebenfalls einen Dreschsatz von der Zentralwerkstatt Halle, der generalüberholt war und ebenfalls schon nach kurzer Zeit wieder ausfiel. Die gleichen Schwierigkeiten hat die LPG Mellensee,24 [Bezirk] Potsdam, die von der MTS Zossen eine Dreschmaschine erhielt, die nicht einsatzfähig war.
Andere LPG aus dem Bezirk Potsdam klagen darüber, dass die MTS die Erntearbeit nicht richtig unterstützen, weil sie entweder ihre Arbeiten planlos durchführen oder weil die Maschinen nicht in Ordnung sind.
In der MTS Frischnitz,25 [Bezirk] Dresden, haben bereits vier Traktoristen ihre Arbeit aufgegeben. Dadurch können die Arbeiten auf den LPG nicht realisiert werden. Der beste Traktorist dieser MTS sagte beim Verlassen der MTS: »Mir tut es leid, dass ich gehen muss, ich würde gern meinen Beruf weiter ausführen, aber die jetzigen Verdienstmöglichkeiten sind zu gering, sodass ich es vorziehe, in die Industrie zu gehen.«
Unter den Bauern der Gemeinde Dretschen, [Bezirk] Dresden, herrscht Missstimmung über die VEAB, weil sie ihnen keine Säcke zur Verfügung stellt. Die Bauern sagen, »wenn uns die VEAB keine Säcke stellt, liefern wir auch kein Getreide ab«.
Im Kreis Obhausen, Querfurt,26 [Bezirk] Halle, ergaben sich Schwierigkeiten bei der Abnahme des Getreides, weil die VEAB nicht in der Lage war, in jedem Ort eine Erfassungsstelle einzurichten. Dieser Zustand ruft bei den Bauern allgemein Missstimmung hervor, was sich nachteilig auf die Sollablieferung auswirkt.
Aufklärungsaktivs im Bezirk Gera, die in Gemeinden mit schlechten Ergebnissen zur Volksbefragung eingesetzt wurden,27 haben festgestellt, dass die Bauern vielfach keine klare Vorstellung über die Vorteile der Planwirtschaft gegenüber der »freien Wirtschaft« haben. In solchen Bauernversammlungen versuchen immer wieder Großbauern die werktätigen Bauern zu beeinflussen. Im Zusammenhang mit der Sollablieferung knüpfen sie an wirtschaftliche Fragen an, bemühen sich, die Unmöglichkeit der Sollablieferung zu begründen und fordern die »Freie Wirtschaft«. Die gleichen Bestrebungen sind auch im Bezirk Leipzig und Potsdam zu bemerken.
Übrige Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird nur ganz wenig diskutiert. Bei diesen wenigen Diskussionen spricht man über die Volkskammerwahlen im Oktober, jedoch treten diese Diskussionen nur vereinzelt auf. In den positiven Stimmen begrüßt man die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenlisten der Nationalen Front und bringt zum Ausdruck, dass man dadurch nicht die Kräfte für den Kampf der einzelnen Parteien vergeuden braucht.
Ein Gewerbetreibender aus Frankfurt, Mitglied der LDPD: »Die Aufstellung einer gemeinsamen Liste kann sich nur zum Vorteil auswirken, weil die in der Blockpartei vereinigten Parteien eine Zersplitterung verhindern können. Dass unsere Wahlen dadurch einen rein demokratischen Charakter haben, kann nun niemand bestreiten. Die Wahlen in Westdeutschland sind das Gegenteil. Man müsste unserer Bevölkerung sagen, wie man sich dort Mandate gegenseitig zuspielt und die fortschrittlichen Parteien unterdrückt, während aber bei uns die Abgeordneten Rechenschaft leisten müssen und nicht wie in Westdeutschland leere Versprechungen machen können.«
Eine Hausfrau aus Auerswalde, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die gemeinsame Aufstellung der Kandidaten ist die einzig richtige Methode, da wir ja sowieso als Blockparteien gemeinsam arbeiten müssen.«
In den negativen Diskussionen nimmt man gegen die gemeinsame Kandidatenliste Stellung und fordert Parteiwahlen.
Ein Mitglied der LDPD aus Marienberg: »Mit der Aufstellung gemeinsamer Wählerlisten bin ich keinesfalls einverstanden. Wir müssen unbedingt sechs Listen haben, wo sämtliche Parteien Gelegenheit haben, ihre eigenen Kandidaten aufzustellen, dann wird es auch richtig werden.«
Aus Halle wird bekannt, dass unter den Geschäftsleuten die Wahlen im Oktober 1954 nicht als freie Wahlen bezeichnet werden, da bei diesen Wahlen nur jeder das wählen könnte, was auf der Liste steht und nicht die Partei, die er haben möchte. Weiter kam zum Ausdruck, dass man bei der Auszählung der Stimmen, die Nein-Stimmen als Ja[-Stimmen] berechnen müsse, um eine Mehrheit zu erzielen.
In den Randgebieten von Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird von der Bevölkerung die neue Sperrgebietsregelung kritisiert.28 Mehrere Rentner aus Scheibenberg brachten zum Ausdruck, dass sie versuchen, ohne Bescheinigung ins Sperrgebiet zu kommen, um ihre Kinder sowie Enkelkinder zu besuchen. Als Begründung gaben sie an, dass man nicht verlangen kann, mit DM 75,00 noch nach Annaberg zu fahren, um sich die Einreisegenehmigung zu holen, man diskutiert in der Form, dass es doch möglich sein müsste, die Ausstellung der Bescheinigungen den örtlichen VP-Dienststellen zu übertragen.
Unter den Rentnern wird darüber diskutiert, dass sie mit ihren Renten nicht auskommen. Ein Rentner aus Tangermünde, [Bezirk] Magdeburg, äußerte sich wie folgt: »Ich fahre lieber nach dem Westen, da bekomme ich eine Kriegsrente von DM 55,00, dort bedeutet das Geld etwas. Doch von dieser Hungerkarte und von DM 105 hier kann man ja verhungern. Aber man darf hier bloß nichts sagen, sonst wird man gleich eingesperrt. Die Polizei ist ja nur dafür da.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:29 Karl-Marx-Stadt 352, Gera 11, Potsdam 339.
DGB-Ostbüro: Erfurt 800.
KgU:30 Potsdam 2 670.
NTS:31 Suhl 3 000.
Versch[iedener] Art: Dresden 119.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Antidemokratische Tätigkeit: In Ottendorf, Kreis Sebnitz, [Bezirk] Dresden, wurden im Textilkonsum Ansichtskarten mit dem Text: »BDM – Führerinnenschule Ottendorf«32 verkauft.
In Großenhain, [Bezirk] Dresden, wurde auf die Plantafel des Berufsschulneubaues ein Hetzzettel mit dem Text: »Großenhain sagt nein« geklebt.
Im VEB Walzengießerei Coswig, [Bezirk] Dresden, wurde ein selbstgefertigtes Plakat gefunden, auf dem es heißt: »Weil wir für den Frieden sind, stimmen wir für eine HO-Preissenkung.«
Diversionen: In einen Mähdrescher des VEG Pirna wurde eine verrostete Schraube geworfen, wodurch einige Leisten zerbrachen und die Kette zerriss.
In der Nacht vom 8. zum 9.8.1954 wurde vor die Bauernhöfe, über die Tore in die Höfe und vor die Arbeiterwohnungen in Artern, [Bezirk] Halle, Giftweizen gestreut, wodurch 52 Hühner und sieben Enten verendeten.
In das Rüttelwerk eines Dreschsatzes in Schenkendöbern, [Bezirk] Cottbus, wurde eine Holzspeiche geworfen, in die Reinigung eines anderen Dreschsatzes der gleichen Gemeinde wurde eine Eisenbrechstange geworfen.
Nach Mitteilung der VP wurde durch einen Jugendlichen in Neubrandenburg mit der Heugabel in die Bereifung eines Mähdreschers gestoßen (Meldung noch nicht überprüft).
In der Gemeinde Hammelspring, Kreis Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurden infolge äußerer Einwirkung der Schlauch und Mantel des Rades eines Mähbinders aufgerissen.
Vermutliche Feindtätigkeit
Durch unbekannte Täter wurde in der »Chemnitzer Volksstimme«33 ein Inserat aufgegeben, wonach angeblich der VEB Tiefbau Berlin N 434 Arbeitskräfte sucht. Aufgrund dieser Anzeige meldete sich ein Arbeiter aus Burgstädt. Die Zeitung wurde verständigt, dass eine derartige Anzeige nicht von dem VEB aufgegeben worden war.
Am 10.8.1954 wurde das Wohnhaus und die Scheune mit den Erntevorräten eines werktätigen Bauern in Naußlitz, Kreis Kamenz, [Bezirk] Dresden, durch einen Brand vernichtet. Ursache bis jetzt noch nicht geklärt.
Lage in Westberlin
Zum Fall Dr. John liegen nur Einzelstimmen vor, die eine Gesamteinschätzung nicht zulassen.
Ein Mitglied einer westdeutschen Delegation aus München sagte: »Drüben bei uns wird von der reaktionären Presse und dem Funk Dr. John als asozialer und verkommener Mensch, als Säufer usw. hingestellt. Jedoch ist ein großer Teil der Menschen bei uns in München anderer Meinung. Sie kennen genau die Machenschaften der Kapitalisten, dass diese damit nur ihre erlittene Pleite verschleiern wollen. Die Menschen bei uns stehen auf dem Standpunkt, dass diese Verleumdungen nicht der Wahrheit entsprechen, sonst hätte man Dr. John diese Funktion nicht übertragen.«35
Der Inhaber eines Zeitungsladens in Neukölln sagte: »Der Fall John hat uns einen Krieg vereitelt. Wir werden von den Russen restlos überfahren. Man weiß nicht mehr, woran man ist. Aber es kann kommen wie es will, Ostzeitungen verkaufe ich nicht.«
Anlage vom 11. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2284
Auswertung der Westsendungen
In Fortsetzung der Hetze gegen den FDGB beschäftigt sich Robert Bialek36 im Londoner Rundfunk37 in seinem Interview mit den Aufgaben der Gewerkschaft in der DDR, wobei er Ausführungen Lenins zugrundelegt und feststellt, dass die Aufgaben des FDGB in den VEB und den Privatbetrieben grundsätzlich verschieden seien. Diese Aufgaben gibt er dann in verleumderischer Form wieder und sagt u. a. zu den Aufgaben in der Privatindustrie, mit denen er beweisen will, dass der FDGB gegen die Arbeit in der Privatindustrie sei:
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Kampf gegen ein gutes Verhältnis zwischen den Arbeitern und der Betriebsleitung,
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staatliches Überwachungsorgan,
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Niederhaltung des Verdienstes der Arbeiter in der Privatindustrie gegenüber den VEB,
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Kampf gegen Verbesserungen der sozialen und sanitären Einrichtungen in den Privatbetrieben.
Abschließend zu den Aufgaben heißt es: »Also praktisch müssen die Gewerkschaften in den Privatbetrieben einen Kampf gegen die Interessen der Arbeiter führen, um die Fiktion des sich verschärftenden [sic!] Klassenkampfes in den Privatbetrieben aufrechtzuerhalten.«
Im Zusammenhang mit den Spenden für die Hochwassergeschädigten hetzen die Westsender, dass das Geld nicht in die Hände der Geschädigten selbst gelangt. So meldet z. B. der RIAS, dass der Oberbürgermeister von Gera erklärt habe, »dass erst einmal die Schäden in der volkseigenen Industrie und dem sonstigen Volkseigentum beseitigt werden müssen, ehe die Einzelnen mit der Erfüllung ihrer Ansprüche rechnen können«.
RIAS meldet gleichzeitig die Aufschlüsselung eines Betrages von 1 060 000 DM für die einzelnen betroffenen Bezirke mit der Bemerkung, dass beim zentralen Hilfskomitee 14 Mio. DM eingegangen seien. RIAS hetzt, dass dieses Geld für erhöhte Verwaltungskosten in den Kreisen und Bezirken verwandt werden soll und das für westdeutsche Kinder Bekleidungsstücke gekauft würden.
Die Annahme des Hilfsangebotes für die Hochwassergeschädigten38 benutzen die Westsender zu einem großen propagandistischen Feldzug über die »Humanität der USA«. In einer Sendung des RIAS heißt es u. a.: »Sie bedeutet einen ersten großen Triumpf der Menschlichkeit in den Nachkriegsjahren.«
Hinweis: Vom Londoner Rundfunk39 wird nachstehende Adresse als weitere Anschrift für Post aus der DDR genannt: Frl. Herta Lehmann, Berlin-Charlottenburg, Bleibtreustraße 44.40