Zur Beurteilung der Situation
18. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2130 zur Beurteilung der Situation
Stimmung in der DDR
In der Stimmung der Bevölkerung der DDR sind nach vorliegenden Berichten keine wesentlichen Veränderungen festzustellen.
Feindtätigkeit
Im Bezirk Potsdam, auf dem Bahnhof Teltow, explodierte bei der Einfahrt eines S-Bahnzuges eine Flugblattrakete mit ca. 500 000 Flugblättern. Gleichzeitig wurden in einem S-Bahnwagen ca. 500 000 Flugblätter sichergestellt. Der Inhalt dieser Flugblätter richtet sich gegen Molotow1 und die Viererkonferenz.2
Der Bürgermeister der Gemeinde Perlitz,3 [Bezirk] Potsdam, erhielt von Unbekannten einen Anruf und wurde gefragt: »Was ist bei Euch los, streikt ihr schon, oder wollt ihr heute Nachmittag demonstrieren?«
Im Bezirk Halle wurden 35 Hetzbriefe angehalten [sic!], die sich in ihrem Inhalt gegen die Regierung der DDR, gegen die SU und Funktionäre unserer Partei richteten. Unterzeichnet waren diese Briefe vom »Streikkomitee der Arbeiter Mitteldeutschlands«. Einzelne Briefe mit gleichem Inhalt wurden in den Bezirken Erfurt, Dresden, Gera und Magdeburg ebenfalls festgestellt. Neben diesen Briefen wurden noch einzelne Briefe der KgU,4 des BDJ5 und vom Tarantel-Sondertrupp »Freiheitsrat Leipzig«6 festgestellt.
Im Bezirk Leipzig wurden vereinzelt gefälschte Briefmarken festgestellt.
Im Bezirk Frankfurt/Oder wurden vier Hetzbriefe mit Hetze gegen den Genossen Molotow und den Forderungen nach »freien Wahlen«7 festgestellt. Außerdem wurden im Kreis Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder, ca. 10 000 Flugblätter der KgU älteren Datums gefunden. Am 18.2.1954 wurden in der S-Bahn in Richtung Oranienburg Flugblätter der SPD verteilt.
Im Schwermaschinenbau »7. Oktober« Magdeburg wurde das Gerücht von einem Arbeiter verbreitet, dass um 14.00 Uhr ein Schweigemarsch durchgeführt werden soll.
Im Kreis Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg, wird unter den Geschäftsleuten das Gerücht verbreitet, dass die Juweliere den Bestand an Gold und Silber aufnehmen müssen, da eine Neuregelung im Verkaufspreis über Silberwaren erfolgt.
An der Sektorengrenze in der Nähe der Ortschaften Mahlow, Teltow, Blankenfelde, Groß-Glienicke und Königs Wusterhausen fuhren heute (18.2.1954) laufend Funkwagen der Stummpolizei8 und forderten die Bewohner zur Teilnahme am Schweigemarsch auf.9
Vermutliche Feindtätigkeit
Im VEB Lippendorf, [Bezirk] Leipzig, explodierte der Transformator des Ofens 14 durch einen Stromüberschlag.
Westberlin
In verschiedenen bekannt gewordenen Stimmen kommt der Wunsch nach Frieden zum Ausdruck. Teilweise begrüßt man die Vorschläge der SU und hofft, dass am Ende doch noch einige Erleichterungen für den Verkehr zwischen Ost und West eintreten.10
Eine Hausfrau aus Berlin SW 29:11 »Jeder Deutsche hat wohl nur den einen Wunsch, Frieden und Völkerversöhnung. Wie schön wäre es, wenn das Leben wieder in geordnete Bahnen gelenkt würde.«
Eine Angestellte aus Westberlin: »Ich verstehe nicht, warum man auf den Europa-Plan des großen sowjetischen Vertreters nicht eingegangen ist.«12
Ein Arbeiter aus Berlin-Frohnau: »Wir wollen das Beste hoffen, dass wenigstens Erleichterungen im Verkehr untereinander herauskommen.« Ein Arbeiter aus Westberlin: »Wir wollen hoffen und wünschen, dass diese Gespräche trotz der großen Gegensätze doch noch etwas fruchtbar ausgehen mögen.«
Pessimistische Stimmen sehen die Lage hoffnungslos und erkennen keinen weiteren Ausweg. Ein Arbeiter aus Westberlin: »Für die Vier sind diese Zustände wie geschaffen, die wollen ja keine Wiedervereinigung. Die Konferenz geht nun zu Ende, jedoch ohne Ergebnis. Schade um die Zeit und das Geld für diesen Aufwand, denn wir müssen dies ja bezahlen. Was wird das Jahr 1954 noch bringen.«
Eine Hausfrau aus Westberlin: »Am Donnerstag fährt Dulles13 wieder ab und die anderen müssen, ob sie wollen oder nicht, auch gehen. Das Ergebnis war nicht gerade positiv, aber wir haben es ja schon geahnt. Trösten wir uns und machen unseren alten Trott weiter.«
Negative und feindliche Stimmen bringen im Allgemeinen eine Hetze gegen die SU und die DDR zum Ausdruck. Ein Arbeiter aus Berlin-Spandau: »Die drei westlichen Außenminister bestehen auf freie Wahlen in ganz Deutschland und Molotow kann das nicht zugeben, weil er weiß, wie diese Wahl ausfallen würde. An den unausgesprochenen Worten dieses Mannes müssen nun die Millionen weiter ihr hartes Schicksal ertragen.«
Eine Hausfrau aus Berlin-Schlachtensee: »Die drei Westmächte sind sich einig, nur mit Molotow können sie sich nicht einigen, denn es sollen Wahlen in ganz Deutschland stattfinden und Molotow will nicht.«14
Eine Hausfrau aus Westberlin: »Es kommt doch nichts dabei heraus, oder wir müssen uns dem Iwan ausliefern. Nur dann werden wir wieder ein [sic!] und das wollen wir natürlich nicht.«
Ein Arbeiter aus Westberlin: »Hier in der Potsdamer Straße findet diese Sauf- und Fresskonferenz der vier Außenminister statt. Die drei Westonkels zeigen sich wenigstens noch als Welt- und Lebemänner, aber was für diesen Weihnachtsmann aus Moskau alles getan wird, spottet jeder Beschreibung. Gott sei Dank, dass diese Banausen jetzt wieder abhauen.«
Ein Arbeiter aus Berlin-Mariendorf: »Verfolge ich immer die Ost- und Westsender, das ist sehr interessant. Die Westsender berichteten alles objektiv von der Konferenz, auch das, was Molotow spricht, während die Ostsender sehr viel totschweigen und fast nie die Reden der drei anderen Außenminister bekannt geben.«
Ein Arbeiter aus Berlin N 31:15 »Das Ergebnis der Berliner Konferenz dürfte bei der sturen Haltung Molotows schon feststehen. Wann und wie diese künstliche Teilung einmal ein Ende finden wird, das liegt im Dunkel der Zukunft verborgen. Für mich steht fest, dass die zonalen Verhältnisse eher noch schlechter als besser werden. Die Herren in Pankow wissen,16 wie Millionen in der Ostzone über sie denken.«
Ein Arbeiter aus Berlin-Lichterfelde-West: »Wir wollen erst mal frei wählen und eine Regierung bilden, so war auch der Vorschlag Edens,17 aber Molotow macht da nicht mit. Vielleicht wartet er darauf wie 1813. Arme DDR. Einmal kommt der Tag, wo wir wieder einmal frei und geheim wählen können, dann ist es mit [der] Grotewohl18-Pieck19- und Ulbricht20-Wirtschaft zu Ende.«
Stimmung der Bevölkerung im demokratischen Sektor von Groß-Berlin
Die heutige Demonstration des demokratischen Berlins21 ist im Wesentlichen gut vorbereitet worden. In den meisten Betrieben wurden Kurzversammlungen durchgeführt und Entschließungen zur Teilnahme an der Demonstration angenommen.
Im VEB Bergmann-Borsig verurteilten die Arbeiter und Angestellten in Kurzversammlungen den Westberliner Schweigemarsch und traten für die sowjetischen Deutschland- und Friedensvorschläge ein.22
Der größte Teil erklärte sich für die Teilnahme an der Demonstration. Ein Technologe aus diesem Betrieb äußerte: »Für den Schweigemarsch geben sich nur 8-Groschjungs23 und Rowdies her, das wird genau solche Pleite, wie die 3-Minuten-Schweigebewegung.«24
Ein ähnliches Bild liegt von folgenden Betrieben vor: VEB Chemie Grünau, VEB »7. Oktober«,25 VEB Turbonit,26 VEB Stern-Radio,27 VEB Funkwerk Köpenick, VEB Knorr-Bremse, VEB Siemens-Plania, VEB Garbaty28 (wo allerdings die Jugendlichen noch abseits stehen), VEB Stemag29 (wo einige Kollegen ihre Meinung nicht offen zum Ausdruck brachten), VEB Lack- und Druckfarben (zwei Kollegen unterschrieben die Entschließung nicht) und anderen Betrieben.
Bei einem Teil der Betriebe herrscht Gleichgültigkeit oder Zurückhaltung. In diesen Betrieben wurde die Entschließung zwar angenommen, man diskutierte jedoch wenig oder überhaupt nicht. VEB Trafo »Karl Liebknecht«: Hier wurde sehr wenig diskutiert. Verschiedene Kollegen sagten: »Es wäre besser, wenn wir genügend Arbeit hätten und nicht rumstehen brauchten.« In der Elektrowerkstatt dieses Betriebes riefen mehrere Kollegen nach der Kurzversammlung: »Morgen werden wir demonstrieren, da gibt es nämlich Geld.« Ein Kollege machte dabei die Handbewegung des Trinkens.
VEB Fortschritt Werk I,30 wo man sowohl den Schweigemarsch Westberlins als auch die Demonstration des demokratischen Berlins als Blödsinn von mehreren Kollegen hinstellte. Viele Kollegen äußerten sich: »Mal sehen, ob wir Zeit haben.« Ein ähnliches Bild trifft für folgende Betriebe zu: VEB Secura (wo kein Kollege diskutierte), VEB medizinische Gerätefabrik, VEB Wälzlager, VEB Gießerei- und Maschinenfabrik, VEB Fleisch- und Fettverarbeitung, VEB Fleischwarenwerke Stern und Elite, VEB Yachtwerft Köpenick, eine Reihe Betriebe von Berlin-Mitte und andere Betriebe.
Die negativen und feindlichen Kräfte konzentrierten sich teilweise in den volkseigenen Baubetrieben und der privaten Bauindustrie. VEB Industrie-Bau, Baustelle Humboldt-Universität: In der Kurzversammlung wurde der BGL-Vorsitzende bei seinen Ausführungen durch Zwischenrufe: »Wir wollen freie Wahlen« unterbrochen. Bei der Abstimmung über die Entschließung wurde mehrmals gerufen: »Wir geben keine Unterschrift«. Im gleichen Augenblick läutete die Glocke zur Mittagspause. Die Zwischenrufer sprangen sofort auf mit dem Ruf: »Raus an die Arbeit«. Die Kollegen folgten diesem Ruf.
Baustelle Staatsoper: »Von 210 Kollegen lehnten 65 Kollegen ab, die Resolution zu unterschreiben.31 Es waren dies im Wesentlichen die Brigade VEM,32 die Zimmerer-Brigade »Vater«, VEB Rohrleitungsbau und die Maurerbrigade »Albrecht«. Sehr deutlich zeigte sich dabei, dass überall RIAS-Argumente in der Diskussion auftraten.«
Firma Gromas, Baustelle [Rosa-]Luxemburg-Platz: Der erste Diskussionsbeitrag war: »Wir wollen die Oder-Neiße-Grenze beseitigen.«33 Ein anderer Kollege: »Wir lassen uns nicht Eure Politik aufzwingen. Ich bin alter Kommunist und will den deutschen Kommunismus.« Mehrere Kollegen: »Wir verlangen freie Wahlen«. Die Entschließung wurde nicht angenommen.
Firma Frank, Holzbau: In der Tischlerei wurde die Diskussion über die Entschließung abgelehnt.34 Die Kollegen forderten eine Vollversammlung, in der man über die Oder-Neiße-Grenze sprechen wollte.
Die Demonstration des demokratischen Berlins
Nach vorliegenden Berichten ergibt sich folgendes ungefähres Bild:
Die Organisation an den Stellplätzen war im Wesentlichen gut. Von den Betrieben war die stärkste Beteiligung. Teilweise gingen auch größere Teile der übrigen Bevölkerung in der Demonstration mit, wie z. B. aus dem Bezirk Weißensee, wo sich 6 000 Personen dem Demonstrationszug anschlossen. Eine gute Beteiligung zeigten unter anderem folgende Betriebe: Berliner Bremsenwerk mit 1 400 Kollegen, VEB Kälte mit 600 Kollegen von 650 Beschäftigten, VEB Glühlampenwerk mit 2 500. Eine ausgesprochen schlechte Beteiligung ist vom VEB medizinische Geräte festzustellen, von 3 000 Belegschaftsangehörigen beteiligten sich nur 1 200.
Trotz der Kälte verlief der Marsch zum Ziel ohne besonders große Abwanderungen. Die Stimmung war positiv für unsere Regierung und die Vorschläge der SU.35 Es wurde unter den Losungen des ZK demonstriert. Zu größeren Abwanderungen kam es beim Bezirk Lichtenberg, wo von 10 000 Demonstranten gegen Ende der Demonstration 2 000 abwanderten. Ebenfalls wanderte eine größere Menge vom Bezirk Weißensee gegen Ende der Demonstration ab. Beim S-Bahnhof Treptow wanderte infolge schlechter Transportmöglichkeiten eine größere Menge ab.
Gesamtbeteiligung an der Demonstration: 159 000 laut VP-Bericht.36
Bei der Kundgebung auf dem Marx-Engels-Platz, wo der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke37 sprach,38 war eine gute, teilweise begeisterte Stimmung zu verzeichnen.39 Die Diskussion während der Rede war überwiegend ein Bekenntnis für die sowjetischen Vorschläge gegen die Bonner und Pariser Kriegsverträge40 und für einen Friedensvertrag. Der Abschlussgesang war stark und drückte die Entschlossenheit der Arbeiter aus. Nur ca. 5 Prozent wanderten während der Kundgebung ab.41 Eine gute Stimmung war auch Unter den Linden zu verzeichnen, wo es ebenfalls zu wenigen Abwanderungen kam.42
Auf der Westseite des Potsdamer Platzes waren gegen 16.40 Uhr ca. 150 bis 200 Personen, um sich unsere Kundgebung anzuhören.
Im Allgemeinen ist während der ganzen Demonstration eine gute Disziplin zu verzeichnen gewesen. Lediglich über die Absperrung des S-Bahnhofes Friedrichstraße äußerten die Demonstranten Missfallen, dieser wurde um 18.00 [Uhr] geöffnet.
Folgende feindliche Tätigkeit wurde bekannt:43
Im Bezirk Berlin-Mitte, insbesondere am Spittelmarkt und in der Wallstraße gingen eine größere Menge feindliche Flugblätter nieder. Zwei Flugzeuge wurden beobachtet. In der Wilhelmstraße gingen Flugblätter mit der Aufschrift: »freie Wahlen« nieder. Im Bezirk Friedrichshain wurden feindliche Ballons mit Flugblättern gesichtet.
Der Gegner versuchte, in der Friedrichstraße und Oranienburger Straße die Demonstration zu stören.44 Eingeschleuste Westberliner Rowdies versuchten vor der Staatsoper Drängeleien im Demonstrationszug zu entfachen. Worte, wie: »Los alle ran, damit es denen vergeht, zu solchen Sachen zu kommen« fielen. Die Demonstranten drängten die Rowdies ab.
Gegen Ende der Demonstration waren in der Friedrichstraße und Oranienburger Straße Demonstrationsgruppen, in denen Westberliner Jugendliche eine Diskussion über »freie Wahlen« zu entfachen suchten. Die Gruppen wurden aufgelöst.
Von der VP wurden in der Wallstraße 75 Personen angetroffen, die von der westlichen evangelischen Hilfsaktion Pakete herüberbrachten.45
Anlage vom 18. Februar 1954 zum Informationsdienst Nr. 2130
Die Lage in Westberlin
(Information der Verwaltung Groß-Berlin)
Ein Genosse des FDGB teilt mit, vom DGB ist geplant, dass sich die Demonstranten vom Wittenbergplatz bis zum Kontrollratsgebäude vorschieben und sich vor dem Kontrollratsgebäude aufstellen.
Ein Genosse von den Westinstrukteuren hat per Telefon im Namen eines Betriebsrates bei Köppchen46 angerufen, ob sie Transparente mitbringen sollen. Köppchen sagte: »Die Transparente werden vom DGB zentral gestellt. Ihr könnt ja auch schon welche mitbringen mit der Losung ›freie Wahlen‹.« Köppchen sagte weiter: »Wir bleiben solange vor dem Kontrollratsgebäude stehen, bis Molotow herauskommt, das andere kann ich dir durchs Telefon nicht sagen.« Der DGB rechnet, dass sie 30 bis 40 000 Personen auf die Beine bringen.47