Zur Beurteilung der Situation
15. Juni 1954
Informationsdienst Nr. 2235 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Fragen wird weiterhin unter den Werktätigen nur im geringen Umfange diskutiert. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die Volksbefragung,1 wobei sich gegenüber dem Vortage keine wesentlichen Änderungen im Inhalt und Umfang ergeben haben.
Über die Verurteilung von Dertinger2 und den Prozess gegen die Rädelsführer vom 17. Juni 19533 wird nur gering diskutiert, meist von Arbeitern und fortschrittlichen Angestellten. Überwiegend wird dabei das Strafmaß für Dertinger als zu niedrig bezeichnet bzw. wird eine sehr hohe Strafe für die Rädelsführer gefordert. Ein Arbeiter aus der Bohrabteilung der Maschinenfabrik Sangerhausen: »Was Dertinger gemacht hat, grenzt an Hochverrat. Dafür müsste der Kopf runter. Auch für die Provokateure vom 17. Juni [1953] wäre eine Strafe von 15 Jahren viel zu gering.«
Von feindlichen Elementen wird immer wieder versucht, die Aufmerksamkeit der Werktätigen auf den 17.6. zu lenken und ihn als Befreiungstag oder einen neuen 17. Juni als »unvermeidlich« hinzustellen. Hierbei handelt es sich jedoch um Einzelerscheinungen, wobei die feindlichen Argumente meist wenig Anklang unter den Arbeitern finden.
Im Waggonbau Görlitz haben sich einige Brigaden verpflichtet, am 17.6.[1954] Hochleistungsschichten zu fahren als Beweis ihrer Treue gegenüber Partei und Regierung.
Eine Angestellte aus einem [Wismut-]Schacht in Oberschlema:4 »Das Leben ist nicht mehr schön. Nichts kann man sich mehr kaufen. Wäre der 17. Juni [1953] nicht zusammengebrochen, hätte das unsere Rettung bedeutet.«
Ein Rangiermeister vom Verschiebebahnhof Wustermark, [Bezirk] Potsdam: »Wir haben nun bald ein Jahr nach dem 17.6.[1953]. Wenn diesmal etwas zustande kommt, dann wird alles zerhauen. Diesmal wird nicht nachgegeben.«
Eine AGL-Vorsitzende vom Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld,5 [Bezirk] Halle: »Wenn die Arbeiter nicht mit einem Streik gedroht hätten, so hätten wir unseren Speiseraum bis heute noch nicht erhalten. Diesmal ist der 17.6. auf den Herbst verlegt worden.«
Ein Bauarbeiter aus Stalinstadt: »Im vergangenen Jahr wurde der Polterabend durchgeführt. Vielleicht erfolgt in diesem Jahr noch die Hochzeit. Dann geht es aber anders zu.«
Ein Arbeiter aus der Schuhfabrik Storkow, [Bezirk] Frankfurt: »Der 17.6. ist bald wieder da. Die Herren oben haben schon Angst und zittern schon vor uns.«
Ein Vorarbeiter aus Oberweimar, [Bezirk] Erfurt: »Ich weiß ganz bestimmt, dass ein neuer 17. Juni kommt. Entweder einige Tage vorher oder bald danach.«
Ein Kollege aus dem Sodawerk Buchenau, [Bezirk] Erfurt: »Die Belegschaft wartet auf einen 17. Juni. Auch die Bevölkerung ist nicht damit einverstanden, was mit ihr gemacht wird.«
Eine Jugendfreundin aus der Lehrwerkstatt des VEB Aufbau in Apolda äußerte zu anderen Jugendfreunden, dass es angebracht wäre, den 17.6. ebenso wie in Westdeutschland auch bei uns als Feiertag zu erklären.6
Diskussionen über betriebliche Probleme befassen sich hauptsächlich mit Norm-, Lohn- und Prämienfragen, worüber meist Missstimmung unter den Arbeitern besteht. Im Werk IV der GUB Glashütte Dippoldiswalde,7 [Bezirk] Dresden, wurde die Norm erhöht, was bei einer Arbeiterin monatlich 150 DM Einbuße ausmacht.
In der Schachtanlage I in Springen, [Bezirk] Suhl, wurde die gleiche Norm für Carnallit und Hartsalz festgelegt, obwohl die Arbeit im Hartsalz viel schlechter ist als im Karnallit. Die Beschwerden der Kumpel wurden bisher nicht anerkannt.
Im VEB Keramische Werke Hermsdorf sind die Arbeiter mit den Normen nicht einverstanden, da sie nicht den bestehenden technischen Voraussetzungen entsprechen. Besonders heftig wird darüber in der Abteilung Massekeller diskutiert, wo die Arbeiter bei gesteigerter Arbeitsleistung laufend Lohnrückgang haben.
Im VEB Zellstoff- und Papierfabrik Rosenthal, [Bezirk] Gera, gibt es in verschiedenen Abteilungen Unstimmigkeiten wegen Lohnfragen, da für verschiedene Arbeiter eine höhere Lohnstufe festgesetzt wurde. Ferner bestehen in der Hartfaserplattenanlage noch immer keine festen Normen, da es sich hier um eine neue Anlage handelt.
In der Bau-Union Suhl wird negativ über die verschiedenen Ortsklassen bei der Entlohnung diskutiert.8 Zum Beispiel bekommen die Kollegen einer Brigade auf der Baustelle in Schleusingen, [Kreis] Suhl, verschiedenartigen Lohn, weil sie nach drei verschiedenen Ortsklassen bezahlt werden (Koll. aus Eisenach nach Ortsklasse A, aus Suhl nach Ortsklasse B und aus Schleusingen nach Ortsklasse C). Die Kollegen verlangen eine einheitliche Entlohnung.
In den Betrieben der Kohlenindustrie des Bezirkes Cottbus wird viel über die Auszahlung der Bergmannsprämie diskutiert. Man bemängelt, dass es bei der Prämienauszahlung Unterschiede für Produktionsarbeiter und Produktionshilfsarbeiter gibt. Im Werk II des Braunkohlenwerkes Nachterstedt, [Bezirk] Halle, werden ähnliche Diskussionen geführt. Im vorigen Jahr erhielten sie 5 Prozent Bergmannsprämie und rechneten in diesem Jahr mit 8 Prozent. Jetzt erhalten sie aber nur 4 Prozent.
Produktionsstörungen
Am 13.6.[1954] entstand im Stahlwerk des Eisenhüttenwerkes Thale ein Herddurchbruch am Abstich des Siemens-Martinofens III,9 wodurch 45 t Stahl verloren gingen. Ursache: Überlastung des Ofens. Alle drei Öfen des Stahlwerkes werden repariert, sodass der Plan nicht erfüllt werden kann.
Im VEB »Erich Weinert«, Kreis Hohenmölsen,10 [Bezirk] Halle, wurde in der Brikettfabrik die Presse III außer Betrieb genommen, da sich an der Kolbenstange ein Längsriss zeigte. Produktionsausfall: 60 t Briketts.
In der Brikettfabrik Wählitz11 entgleiste ein Kohlenzug. Dadurch entstand ein Produktionsausfall von 350 t Briketts.
Am 10.6.1954 brach im [Wismut-]Schacht 254 in Bergen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ein Kabelbrand aus. Ursache: Überlastung des Kabels. Schaden noch nicht festgestellt. Am 11.6.1954 fiel die Fördermaschine des Schachtes (254) wegen Lagerschaden aus. Ursache: Die Welle war nicht waagerecht im Lager befestigt. (Seit April 1954 ist dies bereits der III. Vorfall dieser Art.)
Am 11.6.1954 fiel der Abraumbetrieb im Braunkohlenwerk Spreetal, [Bezirk] Cottbus, aus, da wegen Reparaturarbeiten an der Stromleitung der gesamte Abraumbetrieb abgeschaltet wurde.
Handel und Versorgung
Über Schwierigkeiten in der Versorgung mit Lebensmitteln berichtet der Bezirk Rostock, die sich besonders auf der Insel Rügen bemerkbar machen. Dort hält auch die mangelhafte Belieferung an Frischfleisch in einigen Gemeinden noch an.
Der Bezirk Erfurt meldet, dass in den Fleischwarenwerken Apolda die Anlieferung von Rindern schlecht ist, und wenn sie weiter anhält, die Mengenabgabe für die HO gekürzt werden muss. In diesen Betrieben herrscht Unzufriedenheit darüber, dass die selbstständigen Fleischermeister alle Möglichkeiten haben, an die HO zu liefern und die VEB wegen schlechter Planerfüllung vielleicht sogar kurzarbeiten müssen.
In der MTS Tessenow, [Bezirk] Schwerin, wird Klage über die mangelhafte Fleischzuteilung geführt. Außerdem berichtet Schwerin, dass Schwierigkeiten in der Warenverteilung noch vereinzelt auftreten, die örtlichen Charakter tragen.
Verschiedentlich kommt die Unzufriedenheit über die ungenügende Warenbereitstellung zum Ausdruck. In den Kreisen Stadtroda und Greiz, [Bezirk] Gera, fehlt es an Perlonstrümpfen und in Stadtroda besonders an Kleiderstoffen für Sommerkleider.
Im Kreis Guben, [Bezirk] Cottbus, beklagt man sich darüber, dass Salzheringe, Fischkonserven und Hülsenfrüchte fehlen, während private Händler besser damit bedacht werden. In Schwerin fehlt es an Verkaufspersonal, sodass in Kürze einige Verkaufsstellen geschlossen werden müssen.
Aus dem Kühllager Wismar wurde befleckte Butter geliefert, wovon 2 t vom Kreis Ludwigslust zurückgeschickt wurden.
Im Zusammenhang mit dem Neuen Kurs12 werden teilweise negative Äußerungen gemacht. Im Bezirk Potsdam z. B. äußerten viele Hausfrauen, dass es nach einem Jahr Neuen Kurs nicht mehr vorkommen dürfte, dass verschiedene Waren wie Wirtschaftsartikel, Kinderschuhe und Bohnenkaffee fehlen. In den Randgebieten Berlins beschwert sich die Bevölkerung, dass die Verarbeitung und die Muster der Bekleidung sowie Stoffe geschmacklos sind.
Ein HO-Verkaufsstellenleiter aus Sangerhausen, [Bezirk] Halle, berichtet, dass im Kreis Weißenfels ein HO-Inventurverkauf eingeleitet wurde, warum alle Branchen ihre Überplanbestände nach Halle-Trotha zum Einlagern bringen mussten. Nach einigen Tagen wurde mitgeteilt, dass diese Aktion sich zerschlagen habe und die Waren im Werte von 1,2 Millionen DM mussten wieder zurückgeholt werden. Die Folgen waren erhöhte Kosten, Vernachlässigung der Anlieferung von Industriewaren und dadurch Rückgang im Umsatz.
Landwirtschaft
An politischen Tagesfragen ist die Landbevölkerung weiterhin wenig interessiert. Die wenigen Diskussionen zur Volksbefragung sind überwiegend positiv und stammen meist aus den Kreisen des sozialistischen Sektors. In der Mehrzahl wird die Volksbefragung begrüßt, weil man den Frieden und die Einheit Deutschlands wünscht. Hierzu äußerte ein Landarbeiter vom VEG Albertshof, [Bezirk] Frankfurt: »Wir brauchen keine EVG13 oder Atomgeschütze, sondern wir brauchen die Einheit und den Frieden. Zur gleichen Zeit wie bei uns sollte man auch im Westen die Volksbefragung durchführen, denn dann würde sich zeigen, wer für Krieg oder Frieden ist.«
Ein parteiloser Mittelbauer sagte: »Ich betrachte es als meine Pflicht, am Tag der Volksbefragung mit meiner Familie meine Stimme abzugeben, denn ich weiß, dass ich meine Arbeit auf dem Felde nur im Frieden ausführen kann.«
Vereinzelt, besonders unter den Groß- und Mittelbauern, äußert man sich negativ bzw. feindlich zur Volksbefragung. Ein Mittelbauer aus Wormstedt: »Die Abstimmung war in normalen Zeiten eine gute Sache, aber in dieser Zeit wird viel gemacht. So wird es kommen, dass man die Nein-Stimmen mit zu den Ja-Stimmen zählt.«
In Kieve, [Bezirk] Neubrandenburg, lehnten ein werktätiger Bauer und ein Milchkontrolleur die Einladung zur Teilnahme einer Versammlung des DGB [sic!]14 mit der Begründung ab, dass sie sich nicht mit 200-Prozentigen an einen Tisch setzen.
Vorwiegend befasst sich die Landbevölkerung mit wirtschaftlichen Fragen, die im Mittelpunkt der Gespräche stehen. In Aschersleben, [Bezirk] Halle, beklagen sich die Bauern, dass die BHG Zwischenfruchtsaat nur gegen Abgabe von Getreide aushändigt. Dadurch entstehen Schwierigkeiten, weil die werktätigen Bauern die Rücklieferung des Getreides erst nach der Ernte vornehmen können.
In der MTS Gerdshagen, [Bezirk] Potsdam, beschweren sich die Traktoristen, dass sich die Eisenteile bei der Arbeit verbiegen.
In der MTS Putlitz, [Bezirk] Potsdam, fehlen Keilriemen für den Traktor 30.15 Zwei Traktoren liegen still und fehlen bei der Rübenbearbeitung.
In Grillenburg, [Bezirk] Dresden, ist die Zuteilung des Sprithermin16 zum Pflanzenschutz viel zu gering, sodass kein ordnungsgemäßer Pflanzenschutz vorgenommen werden kann.
In der MTS Berggießhübel, [Kreis] Pirna, stehen seit vier Wochen drei Traktoren still. Es fehlen Düsen für die Rückmotoren.
In der LPG Wellhausen,17 [Bezirk] Erfurt, werden die Felder und Fahrzeuge von den verantwortlichen Agronomen und Politikleitern vernachlässigt.
In verschiedenen Kreisen des Bezirkes Cottbus sind die Eichen durch starken Raupenbefall gefährdet.
Im Kreisgebiet Herzberg, [Bezirk] Cottbus, wurden 1 090 Kohlen [sic!] den Bauern für freie Spitzen noch nicht geliefert.18
In Stellshagen, [Bezirk] Rostock, haben sich fünf Umsiedler nach Westdeutschland abgesetzt, weil im Dorf das Gerücht verbreitet wurde, dass Bauern aus Ostpreußen, die 40 Morgen Land besessen haben, eine Abfindung bekommen.
Zum 17. Juni äußerte sich eine Landarbeiterin aus Adamshoffnung wie folgt: »Wenn die Normen so bleiben, wird es nicht mehr lange dauern und es wird so sein, als vor dem 17. Juni 1953.«
Übrige Bevölkerung
Im Mittelpunkt der politischen Diskussionen steht die Volksbefragung. Jedoch ist der Umfang der Diskussionen noch gering. Die bekannt gewordenen Stimmen sind meist positiv, darin bringt man zum Ausdruck, dass sich doch alle für Friedensvertrag und gegen EVG entschließen werden.
Vereinzelt treten negative bzw. feindliche Diskussionen, besonders in kirchlichen Kreisen auf. Uns wurde bekannt, dass die Angehörigen der Sekte »Zeugen Jehovas«19 die Anweisung erhalten haben, nicht an der Volksbefragung teilzunehmen, und auch dann nicht, wenn gegen sie Maßnahmen eingeleitet werden.
Im VEB Schering Berlin äußerte eine Betriebsärztin, dass sie nicht zur Wahl gehen wird. Gegen EVG kann man doch nicht stimmen. Als Katholikin kann sie eine Beteiligung an der Wahl mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren.
Ein Pfarrer aus Grimma, [Bezirk] Leipzig: »Die Volksbefragung ist eine politische Frage und hat mit Kirche nichts zu tun. Ich bin nicht befugt, eine Stellungnahme zur Volksbefragung abzugeben, das darf ich nicht.«
Zur Verurteilung der Verschwörergruppe Dertinger wird im Allgemeinen wenig gesprochen. In den Diskussionen wird eine höhere Strafe gefordert. Ein parteiloser Angestellter beim Rat des Kreises Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es wundert mich, dass Dertinger nicht wie Slánský20 zum Tode verurteilt wurde.«
Ein CDU-Kreisvorsitzender aus Greiz, [Bezirk] Gera: »Nehmen wir an, dass ich die Fähigkeiten hätte, Außenminister zu werden, so müsste ich doch auch in dieser Eigenschaft mit Angehörigen imperialistischer Staaten verkehren. Es ist dann möglich, dass sich unter den Regierungsvertretern der genannten Staaten, derartige Menschen befinden, die danach trachten, durch die gegenseitige Aussprache meine Äußerungen als Spionage auszulegen, ich aber selbst gar nicht unterrichtet bin. Ich komme also dann, ohne dass ich weiß, Spionage getrieben zu haben, hinter Gitter.«
Über den 17. Juni wurden uns nachstehende Stimmen aus den Kreisen der übrigen Bevölkerung bekannt.
Ein Einwohner aus Niesky, [Bezirk] Dresden: »Ich war drei Jahre bei der VP und dort habe ich nur Menschen umlegen und Ohren abschneiden gelernt. Am 17. Juni [1953] hat man die besten Kämpfer und Vertreter eingesperrt.«
Ein Gaststättenbesitzer aus Grevesmühlen, [Bezirk] Rostock: »Im Monat September 1954 ist der Zeitpunkt, wo die DDR zusammenbricht.«
Ein selbstständiger Handwerksmeister aus Storkow, [Bezirk] Frankfurt: »Der 17.6.1953 war eine große Dummheit, weil er nicht richtig organisiert war. Jetzt sollte man so schlau sein und dem Ami vorher Bescheid geben, damit Hilfe von drüben kommt. Wenn es klappen würde, dann wären wir frei und der ganze Schwindel wäre vorbei.«
Eine Hausfrau aus Eilenburg (parteilos): »Die Fürsorgepflegerin aus Karl-Marx-Stadt hänge ich auf, wenn es nochmals zum Umsturz kommt. Die SED zittert vor einem neuen 17.6. und ich wünsche, dass so etwas wiederkommen möge.«
Ein Flaschenbierhändler aus Gispersleben, [Stadt] Erfurt: »Diesmal habe ich Angst vor dem 17.6., denn diesmal geht es mir an den Kragen.« Seine Frau sagte weiter, dass am 17.6.[1954] etwas los sei, dass sich da etwas rühre.
Ein selbstständiger Schmied aus Creuzburg, [Bezirk] Erfurt: »Wie wird es nur noch ausgehen? So kann es doch nicht weitergehen. Wenn hier nicht bald etwas geschieht, dann erleben wir wieder ein Fiasko, vielleicht wie am 17.6.1953. Wir sitzen doch zu tief im Dreck drinnen und bekümmern tut sich niemand, wie es besser wird.«
Ein Einwohner aus Gispersleben, [Stadt] Erfurt: »80 Prozent der Arbeiterklasse sind ja mit diesem Regime nicht einverstanden. Der 17. Juni [1953] war schon ganz schön, aber was in Zukunft kommt, wird noch viel schöner werden. Diese Lumpen (Funktionäre unserer Partei) müsste man mit Kind und Kindeskind ausrotten.«
Ein Geschäftsinhaber aus Jena, [Bezirk] Gera, äußerte sich wie folgt, als man ihn nach Strümpfen fragte: »Es sind keine Strümpfe da. Aber kommen sie nach dem 17.6.[1954] wieder, dann gibt es bestimmt welche.«
In der Konsumgroßküche Zittau, [Bezirk] Dresden, wird für 850 Personen gekocht. Am 12.6.1954 erkrankten 280 Personen an Durchfall, davon sind sechs Pers. arbeitsunfähig.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:21 Schwerin 2 000, Karl-Marx-Stadt 300, Neubrandenburg 1 505, Erfurt 800, Wismutgebiet 420, Erfurt 65, Dresden 34, S-Bahnhof Mahlsdorf 314 000 (in S-Bahnzügen).
KgU:22 Suhl 3 000.
NTS:23 Neubrandenburg 134, Dresden 2, Magdeburg 5 (in Briefkästen von Funktionären und VP-Angeh.) Halle 4.
Neue Art von »Deutsche in der Bundesrepublik«: Potsdam 2 200, Schwerin 25 000, Karl-Marx-Stadt 3 026, Magdeburg 28, Dresden 23, Neubrandenburg 504, Leipzig 845, Halle 5 800, Erfurt 1, Frankfurt 10 000, Rostock 1 300.
In tschechischer Spr[ache]: Karl-Marx-Stadt 90, Dresden 530.
In Wittenberg, [Bezirk] Halle, wurden fünf selbstgefertigte Hetzzettel: »Für die EVG – hinweg mit der SED« gefunden.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen mit Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Diversion: Am 12.6.1954 verendeten drei Schweine eines werktätigen Bauern in Jännersdorf, Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, durch Fütterung mit Giftweizen, den es in der dortigen BHG in jeder Menge zu kaufen gibt (Täter unbekannt).
Antidemokratische Tätigkeit: In den Kreisen Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, Warnemünde,24 [Stadt] Rostock, Grimma, [Bezirk] Leipzig, und Magdeburg wurden Schmierereien gegen die Volksbefragung und für den EVG festgestellt. In Güstrow, [Bezirk] Schwerin, wurden mehrere Plakate zur Volksbefragung abgerissen.
Auf einer Baustelle in der Stalinallee, Block 108/114 wurden Kinokarten zum unentgeltlichen Besuch einer Kinoveranstaltung in Westberlin verteilt (wird noch überprüft).
Vermutliche Feindtätigkeit
Aus dem Bezirk Potsdam liegen mehrere Meldungen vor, dass an den Tagen der Volksbefragung (besonders am 26. und 27.6.1954) Ausflüge und Treffen organisiert werden, vor allem durch die Kirche und Vereine. Zum Beispiel will der Pfarrer von Großwoltersdorf, Kreis Gransee, einen Ausflug mit dem Omnibus am 27. und 28.6.[1954] organisieren. Zu diesem Zweck wurden Einzeichnungslisten verteilt.
In der MTS Haldensleben, [Bezirk] Magdeburg, wurde die Schaltanlage einer Dreschmaschine vollständig zertrümmert.
Am 14.6.1954 verkaufte ein Mechanikermeister aus Bischofswerda, [Bezirk] Dresden, einen schwarz-weiß-roten Wimpel. Bei einer Hausdurchsuchung wurden weitere 16 Wimpel gefunden.
Im Stahl- und Walzwerk Riesa wurde im Teerkeller das Ventil für das Kühlwasser aufgedreht, wodurch der Teerkeller überschwemmt wurde. Vier Pumpen mit Motor standen dadurch still. Schaden: ca. 1 000 DM.
In der LPG Rodewitz, Kreis Bautzen, [Bezirk] Dresden, sind acht Läuferschweine durch noch unbekannte Ursache verendet.
Im VEB Süßwaren, ehemals Hartwig und Vogel, Dresden, flog am 14.6.1954 die Ölscheideanlage in die Luft. In dem gleichen Betrieb war vor einigen Tagen eine Wasserüberschwemmung in der Abteilung Marzipan. Der damalige Schaden betrug an Waren ca. 1 500 DM. Der Schaden vom 14.6.1954 ist noch nicht bekannt.
In der Nacht vom 12. zum 13.6.1954 wurden in der Hardt, Bezirk Erfurt, 14 Wallfahrtstationen des Kreuzweges beschädigt und eine Statue des »Heiligen Antonius«25 vom Altar gestürzt und zerstört.26 Es ist anzunehmen, dass die noch unbekannten Täter durch ihre Handlung Unzufriedenheit vor der Volksbefragung unter der zum großen Teil katholischen Bevölkerung dieses Gebietes erzeugen wollten.
Anlage 1 vom 14. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2235
Missstimmungen, die in Industrie und Verkehr wegen Lohn- und Prämienfragen, Materialschwierigkeiten u. a. auftraten
In der Abteilung Zwirnerei des Kunstseidenwerkes Premnitz, [Bezirk] Potsdam, beklagen sich die Arbeiter, dass die Kunstseide viele Fehler hat und ständig reißt, sodass die Normerfüllung dadurch gehemmt wird.
Im VEB Maschinenbau Nordhausen, [Bezirk] Erfurt, ist zurzeit ein geringer Arbeitsanfall für Dreharbeiten. Aus diesem Grunde liegt die Normerfüllung der Dreher nicht über einer voll ausgelasteten Arbeit. Von einzelnen Drehern wird versucht, im Maschinenbau zu kündigen und die Arbeit im Schlepperwerk aufzunehmen.
Im VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden, beklagen sich die ehemaligen Umsiedler über ihre schlechten Wohnverhältnisse, da sie zzt. immer noch in vollbesetzten Barackenlagern untergebracht sind. Von der Wohnungskommission Niesky werden sie immer wieder vertröstet, was die Umsiedler sehr verärgert.
Ein großer Teil der Kollegen des Gaswerkes Langensalza, [Bezirk] Erfurt, diskutieren darüber, dass das Gaswerk verwaltungsmäßig von Mühlhausen betreut wird, dass aber im Betriebskollektivvertrag die Nebenstelle Langensalza überhaupt nicht erwähnt wird. Ein Arbeiter aus Langensalza sagte hierzu: »In Mühlhausen bauen sie große Kulturhäuser für die Belegschaft und hier in Langensalza haben wir nicht einmal einen Raum, wo wir zusammenkommen können, alles deswegen, weil wir kein selbstständiges Werk sind.« Langensalza wird auch mit Lebensmitteln und Textilien durch die HO-Mühlhausen nur mangelhaft beliefert, sodass dadurch die Stimmung der Bevölkerung in dieser Stadt ungünstig beeinflusst wird.
Zum Tag des Eisenbahners27 traten im RAW Kirchmöser, [Bezirk] Potsdam, und unter den Kollegen des Bahnhofes Seddin Unstimmigkeiten auf. Im RAW Kirchmöser konnten alle Verwaltungsangestellten an der Festveranstaltung teilnehmen, aber nur ein Sechstel der Produktionsarbeiter. Die Arbeiter sind darüber sehr ungehalten. Ein Arbeiter, der an der Festveranstaltung nicht teilnehmen konnte, diskutierte folgendermaßen: »Am Sonnabend gehen nur die Bonzen hin. Kollegen, die weniger als drei Sterne haben,28 kommen nicht rein. Diejenigen, die am Sonnabend zur Festveranstaltung gehen, sollen auch Sonntag demonstrieren.«
Die Kollegen des Bahnhofes Seddin sind mit der Auszeichnung eines Kollegen als »Verdienter Eisenbahner« nicht einverstanden. Sie diskutieren, »dass nicht er die Erfolge allein erlangt hätte, sondern dass die Kollegen aus seiner Kollonne die gleichen Leistungen vollbracht haben«. Ferner nehmen sie dagegen Stellung, dass in der Betriebszeitung geschrieben wurde, alle Kollegen hätten ihn als »Verdienter Eisenbahner« vorgeschlagen.
Innerhalb der Fischfangflotte Saßnitz – Fischkombinat Bergen,29 [Bezirk] Rostock, ist eine Fluktuation von Arbeitskräften besonders bei den PS-Kuttern30 zu bemerken. Grund hierfür ist, dass die Kutter nur einen kleinen Aktionsradius haben und somit der Fang und der Verdienst geringer sind.
In der Falzfabrik Marlow,31 [Kreis] Ribnitz, [Bezirk] Rostock, ist in den letzten Tagen eine Fluktuation von Arbeitskräften zu verzeichnen. Grund hierfür ist, dass die Falzfabrik sich noch in Treuhandverwaltung befindet und die Arbeiter gegenüber den VEB hier weniger verdienen.
Im RAW Cottbus wurde im letzten Monat der Plan nicht erfüllt, weshalb keine Prämien ausgezahlt wurden. Zum »Tag des Eisenbahners« sollten die Kollegen Prämien erhalten, was jedoch von ihnen abgelehnt wurde, mit der Bemerkung: »Einmal hat man uns eine Prämie [vor]enthalten, jetzt verzichten wir darauf.«
Feindliche Diskussion
Im VEB Öl- und Fettwerke »Hans Schellheimer«, Magdeburg, äußerte ein Genosse über Prämien und Leistungslohn: »Früher mussten wir gegen den Fabrikbesitzer kämpfen und heute gegen den Staat.« Weiterhin versuchte er, Missstimmung unter den Kollegen hervorzurufen, indem er erklärte, dass der Betrag für Kinder, die in das Ferienheim des Werkes fahren, zu hoch sei (5,00 DM). (Solche negativen Diskussionen werden noch immer von drei bestimmten Genossen geführt.)
Anlage 2 vom 14. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2235
Auswertung der Westpresse (11. bis 14. Juni 1954)
Hetze gegen den neuen Kurs
Der RIAS versuchte bezüglich der Produktion von Massenbedarfsgütern die Arbeiter der DDR negativ zu beeinflussen. In einer hetzerischen Sendung gegen unsere Volkswirtschaft verleumdete er unserer Regierung, indem der angab, dass von ihrer Seite nichts unternommen wird und auch nichts unternommen werden könne, die Massenbedarfsgüter im Werte von einer Mrd. DM herzustellen.32
Die gleiche Verleumdung wird gegen die HO-Gaststätten angewandt. Da angeblich die HO-Gaststätten nicht rentabel seien, wurde zu sogenannten Familienbetrieben übergegangen, d. h. nach RIAS, dass die Familienangehörigen der Objektleiter für wenig Geld mitarbeiten müssten und sämtliches andere Personal würde entlassen.
Verhöhnung unserer Aktivisten
Mit der Aufzählung einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die in der DDR und im demokratischen Sektor stattfanden, will der Londoner Rundfunk33 die Arbeit unserer Aktivisten verunglimpfen und gleichzeitig versuchen, die Arbeiter der DDR gegen unsere demokratische Entwicklung zu beeinflussen. Durch die Aufzählung der Veranstaltungen soll gesagt werden, dass die Aktivisten ständig zu Tagungen, Kongressen u. a. seien und keine produktive Arbeit leisten.
Volksbefragung
Unter der Überschrift »Volksbefragung lohnt keine Opfer« versucht der »Telegraf« vom 13.6.195434 mit einem Interview mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Wehner35 die Bedeutung der Volksbefragung herabzusetzen. Er wertet die Bedeutung der Volksbefragung gleichzeitig mit für die gegnerische Tätigkeit aus, indem es heißt: »… keinerlei Einfluss auf eine wirkliche Entscheidung haben. Schon deshalb braucht keiner, der seinen Stimmschein abgibt, etwa ein schlechtes Gewissen zu haben. Für eine solche Frage lohnt sich kein Opfer.«
Der RIAS versucht weiterhin, Teile der Bevölkerung durch Meldungen über zu erwartende »undemokratische Maßnahmen« zur Volksbefragung zu beeinflussen. Am 11.6.1954 richtete er sich dabei gegen die abgegebenen Verpflichtungen von Betrieben u. a. zur gemeinsamen und frühen Stimmenabgabe. Er hetzt, dass hierdurch zu befürchten ist, dass am ersten Tage die Wahllokale überfüllt sind und eine für den Einzelnen ungestörte Ausfüllung des Stimmzettels nicht möglich ist. Er will damit erreichen, dass entweder bei etwaigem Andrang durch Provokateure gestört wird oder leichtgläubige Menschen erst an einem späteren Tage zur Abstimmung gehen.
Meldungen zum 17. Juni 1954
In einer Stellungnahme zum 17. Juni 1953 versucht der RIAS erneut zu beweisen, dass der neue Kurs infolge der Ereignisse des 17. Juni 1953 durchgeführt wurde und »als eine notwendig gewordene Konzession des Regimes« verstanden werden muss. Die Sendung schließt mit der Drohung, dass trotz »Milderung der Methoden … sich die Gewalt gegen die Regierung selbst richtet …«, also auch hier wieder die indirekte Aufputschung der Bevölkerung der DDR durch die Westsender.
Westlichen Pressemeldungen zufolge, veranstaltet der »Verband deutscher Studentenschaften«36 in der Woche vom 15. bis 19.6.1954 eine »Solidaritätswoche für die freiheitlich gesinnten Studenten in der Sowjetzone«. Aus den gespendeten Geldern sollen Pakete mit Lebensmitteln, Fachbüchern und hochwertigen Medikamenten zusammengestellt werden.
Landwirtschaft
Die Hetze gegen die Landwirtschaft der DDR richtet sich diesmal gegen die Anbaupläne und es wird gefordert, die Aufstellung der Anbaupläne den Bauern selbst zu überlassen. Die Anordnung des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft37 wird in verleumderischer Art u. a. so ausgelegt, dass Mitglieder der LPG bestrebt seien, sich zur eigenen Bewirtschaftung mehr Land anzuschaffen, dabei werden Vergleiche zu Volkspolen gezogen.
Verleumdung der SED
Die Westzeitungen vom 14.6.1954 verbreiten die Meldung über eine angebliche »Agentenschleuse«. Danach wäre in der Villa »Frohsinn« in Nordhausen38 unter direkter Anleitung des ZK der SED eine »staatsgefährdende Organisation, die sich mit Menschenschmuggel befasste«, untergebracht gewesen. Um die Meldung glaubwürdiger zu machen, werden einige Decknamen genannt. – Die Zeitungen stützen sich bei dieser Meldung angeblich auf Unterlagen der Lüneburger Staatsanwaltschaft, die gegen zwei Einwohner von Osterode (Mitglieder der KPD) geschaffen wurden.
Hetze gegen SfS
Die Westpresse berichtet in den Zeitungen vom 14.6.1954 unter großaufgemachten Schlagzeilen über angebliche Werbungen von Spitzeln vonseiten des SfS unter dem Personal der Westberliner Justizverwaltung. Unter anderem heißt es in »Der Abend«: »Es liegen zahlreiche Anzeichen dafür vor, dass der SSD mit inhaftierten Kommunisten Fühlung aufnahm und ihnen Anweisung über ihre Aussagen geben konnte.«39
Nach Abschluss des II. Deutschlandtreffens40 ging die Westpresse sofort dazu über, Gräuelmärchen über angebliche Verhaftungen und andere Maßnahmen gegen Teilnehmer, welche in Westberlin waren, zu verbreiten. In Dresden sei es daraufhin angeblich zu Unruhen unter den FDJlern gekommen.
Im »Porträt der Woche« vom Londoner Rundfunk am 11.6.1954 wurde gegen den Genossen Hermann Matern41 gehetzt.