Zur Beurteilung der Situation
20. September 1954
Informationsdienst Nr. 2318 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Probleme wird allgemein unter den Werktätigen nur wenig gesprochen, sodass der Umfang der Diskussionen gering ist. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen die Volkswahlen,1 während man sich über die Preissenkungen2 nur noch vereinzelt äußert. Zu den Volkswahlen wird überwiegend der einheitlichen Kandidatenliste zugestimmt und werden Kollektiv- und Einzelverpflichtungen übernommen, die Produktion zu erhöhen, Planrückstände aufzuholen sowie die Kandidaten der Nationalen Front3 bereits am Vormittag des 17.10.[1954] zu wählen. Der Umfang solcher Verpflichtungen nimmt zu.
Überwiegend stammen die Diskussionen und Verpflichtungen von Arbeitern. Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Zeiss Jena: »Für mich gibt es nur eins, die Kandidaten der Nationalen Front anzuerkennen, denn sie sind bis jetzt für den Frieden eingetreten und haben uns wirtschaftlich vorwärtsgebracht.«4
Die Abteilungsleiter des Stahlbaues Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, verpflichteten sich, mit den Kollegen über die Volkswahl zu sprechen, damit alle für die Einheitsliste stimmen. Im VEB »Hermann Matern« in Roßwein, [Bezirk] Leipzig, verpflichteten sich die Kollegen einiger Abteilungen, bis zur Wahl die Planrückstände aufzuholen. Die Jugendbrigade Pranik5 aus dem VEB Espenhain, [Bezirk] Leipzig, verpflichtete sich, in den Vormittagsstunden des 17.10.[1954] die Kandidaten der Nationalen Front zu wählen. Die Kollegen vom Kraftwerk Magdeburg-Rothensee wollen den Plan für Massenbedarfsartikel mit 200 Prozent erfüllen.
Negative Meinungen6 werden weiterhin nur vereinzelt geäußert, wobei vor allem Parteiwahlen oder sogenannte freie Wahlen gefordert werden. Ein Arbeiter aus dem Privatbetrieb Sieber in Rempesgrün,7 [Stadt] Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Nach meiner Meinung müssten Parteilisten aufgestellt werden, da die einheitliche Liste nichts mit freien Wahlen zu tun hat. Um zur Einheit Deutschlands zu kommen, müssten erst einmal die bestehenden Regierungen beseitigt werden und dann müsste man die stärksten Parteien zu einer Wahl aufstellen. Zum Beispiel SPD, CDU und einige andere, aber nicht die KPD.«
Ein Arbeiter aus dem Möbelwerk Heidenau, Kreis Pirna, [Bezirk] Dresden: »Die sollen nur freie Wahlen machen und alle Parteien mit aufsetzen, dann würden sie ihr blaues Wunder erleben.«
Im Bezirk Frankfurt/Oder sind die Meinungen, dass sogenannte freie Wahlen oder Parteiwahlen durchgeführt werden sollen, verhältnismäßig stark vertreten.
Ein Arbeiter aus dem VEB Deutzen, [Bezirk] Leipzig: »Am 17. Oktober [1954] gehe ich nicht wählen. Diese Wahlen sind nicht demokratisch, sondern ein richtiger Betrug. Ich kenne ja noch nicht mal die Vertreter, die ich wählen soll.«
In einer Mitgliederversammlung8 des Bahnhofs Ottersleben, [Bezirk] Magdeburg, äußerte der BGL-Vorsitzende (SED): »Nach den jetzigen Wahlen fordern wir von der neuen Regierung, dass sie die Löhne der Eisenbahner mit denen der Schwerindustrie gleichstellt. Außerdem sind Walter Ulbricht,9 Wilhelm Pieck10 und Otto Grotewohl11 ebenfalls Aktionäre, nämlich ihrer Patenbetriebe.«12
Ein Zugführer vom Bahnhof Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg, erklärte in einem Gespräch über die Volkswahlen zu einer Genossin: »Wartet mal ab, die Lichtmasten auf dem Bahnhof Halberstadt werden nicht ausreichen, wo man Euch einst aufhängen wird.«
Teilweise wird von Arbeitern und besonders von Intelligenzlern eine gleichgültige Haltung zu den Volkswahlen eingenommen, wie folgendes Beispiel zeigt: Im Konstruktionsbüro des VEB Zellwolle [Wittenberge, Bezirk] Schwerin, äußerten einige NDPD-Mitglieder, dass man sich über die Wahl keine Gedanken machen brauche, da sich in der Volkskammer doch nicht viel verändern würde.
In einer Versammlung im EKB Bitterfeld, [Bezirk] Halle, erklärte ein Kollege: »Wir brauchen überhaupt keine Wahl, denn wir sind zu 75 Prozent mit unserer Regierung zufrieden.«
Eine Gleichgültigkeit13 zeigt sich auch teilweise bei der Rechenschaftslegung14 in der Beteiligung und in den Diskussionen, die fast ausschließlich nur über wirtschaftliche und betriebliche Mängel geführt werden. Bei einer Rechenschaftslegung vor den Kumpels der Bleierzgruben »Albert Funk« in Freiberg beteiligten sich lediglich 200 Kumpel. Von diesen sprach nur ein Kollege zur Diskussion. Bei der Rechenschaftsversammlung in der Peniger-Maschinenfabrik, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, waren nur 15 Prozent der Belegschaft anwesend. Zur Volkswahl wurde dabei nicht gesprochen, sondern lediglich über wirtschaftliche und persönliche Fragen.
Zu Missstimmungen kam es in einigen Betrieben wegen Lohnfragen und Materialschwierigkeiten. Unter den Angestellten und Arbeitern des Bahnhofs Grimma, [Bezirk] Leipzig, besteht eine schlechte Stimmung. Die Kollegen sind der Meinung, dass sie gegenüber anderen Berufszweigen viel zu schlecht entlohnt werden. Deshalb haben einige Kollegen gekündigt.
In der Abteilung Sandaufbereitung des VEB Metallguss Leipzig, Halle 3, haben vier Arbeiter ihre Kündigung eingereicht, da ihr Verdienst zu niedrig sei. Es wird vermutet, dass diese Personen negativ beeinflusst wurden, durch feindliche Elemente.
In der Privatfabrik für Zigarrenherstellung in Frankenheim,15 [Kreis] Meiningen, [Bezirk] Suhl, sind fast sämtliche Kollegen aus dem FDGB ausgetreten, da sie bei der Lohnneueinstufung einen niederen Lohn erhalten. Außerdem sind in diesem Betrieb Materialschwierigkeiten aufgetreten, wodurch in etwa zwei Wochen 60 Frauen entlassen werden müssen.
Am 1.10.1954 soll im VEB Seehafen Wismar, [Bezirk] Rostock, eine neue Bezahlung erfolgen, die nach dem durchschnittlichen Lohn der Kollegen berechnet wird. Die Kollegen sind darüber sehr unzufrieden, da der im Landeinsatz16 sich befindliche Kollege das Gleiche verdient, wie ein Kollege, der in einem anderen Betrieb eingesetzt wird und mehr arbeiten muss.
Im Bahnbetriebswerk Barth, [Kreis] Greifswald,17 [Bezirk] Rostock, besteht unter den Kollegen ebenfalls Unzufriedenheit über die Entlohnung.
In der Generatorenanlage des Stahlwerkes Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, besteht unter den Arbeitern eine schlechte Stimmung, da ihnen frische Kohle geliefert wurde, wodurch bei der Gaserzeugung eine Mehrarbeit bei gleicher Norm erforderlich ist, und sie somit weniger Lohn erhalten.
Im Ziegelkombinat Zehdenick, [Bezirk] Potsdam, besteht zurzeit ein hoher Krankenstand von 10 Prozent der Belegschaft. Die meisten sind wegen Sehnenscheidenentzündung krankgeschrieben. Hierbei handelt es sich um Kollegen, die in jedem Jahr ca. sechs Wochen krank sind.
In der Schiffbau- und Reparaturwerft Stralsund sollte vor ca. sechs Wochen ein Wettbewerb beginnen, wofür die Voraussetzungen gegeben waren. In der Zwischenzeit wurde von der Werftleitung erklärt, dass es an Material und Arbeitskräften fehle und deshalb der Wettbewerb nicht stattfinden kann.
Im VEB Waggonfabrik Niesky, [Bezirk] Dresden, sind die Arbeiter darüber unzufrieden, dass Produktionsauflagen, welche bereits auf Serie gelegt sind, durch Anweisung des Ministeriums an andere Betriebe vergeben werden. So wurden z. B. Produktionsaufträge für Drehgestelle vom Waggonbau Görlitz nach Leipzig verlegt. Jedoch war das Kirow-Werk in Leipzig nicht in der Lage, genügend Drehgestelle zu liefern, wodurch der Waggonbau Niesky Waggons im Werte von Millionen Mark nicht fertigstellen kann. Dies wirkt sich auf den Lohn der Arbeiter aus.
Produktionsstörungen
Am 17.9.[1954] fiel im Stahlwerk Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, die Warmschere vermutlich wegen Überlastung aus. Die Reparatur dauert etwa drei Tage.
Am 19.6.195418 brannte im VEB Zerbster Celluloidwarenfabrik ein Betrieb. Die Ursache konnte noch nicht festgestellt werden. Sachschaden beträgt ca. DM 32 500. Produktionsausfall beträgt ca. vier Wochen. Der Betrieb arbeitet ausschließlich für Exportaufträge.
Handel und Versorgung.
Durch starken Anfall von Kernobst lagern in der VEAB Kreis Perleberg, [Bezirk] Schwerin, 40 t Birnen, die am 20.9.1954 dem kommunalen Großhandel zur Verfügung gestellt werden, um sie vor dem Verderb zu schützen, nachdem die Früchteverwertung Perleberg das Angebot wegen Kräftemangel abgelehnt hat.
Durch mangelhafte Kontrolle beim Verladen eingeweckter grüner Bohnen aus Ungarn erhielt die DHZ Güstrow, [Bezirk] Schwerin, von der Importleitstelle Bad Schandau eine Lieferung dieser Sendung, die verdorben war und vernichtet werden musste. Die Restsendung von 5 700 Gläsern musste aus demselben Grunde ebenfalls vernichtet werden.
Der Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, hat hohe Bestände an Frühkartoffeln, weil die Bevölkerung trotz mehrmaligem Aufruf durch Presse und Rundfunkwagen nur wenig Gebrauch davon macht, die Abschnitte für September 3 [kg] und 5 kg abzuholen. Zur Vermeidung des Verderbs macht sich eine Verlagerung in andere Bezirke oder der freie Verkauf dringend notwendig.
Der Zigarettenmangel ist im Bezirk Neubrandenburg noch nicht behoben und die Verteilung ist dort in den einzelnen Kreisen unterschiedlich. So ist das Sortiment im Kreis Waren z. B. ausreichend, während die Kreise Templin und Prenzlau über unzureichende Mengen verfügen.
Zuckermangel hat der Bezirk Neubrandenburg, der sich trotz der Aufstockung von 50 t bemerkbar macht und es besteht die Gefahr, dass am 1.10.1954 kein Zucker zur Verfügung ist, da der Zucker für das IV. Quartal erst ab 10.10.1954 geliefert wird.
Wie sich die noch bestehenden Mängel auswirken, zeigt folgende Äußerung des Verkaufsstellenleiters vom Konsum Bündigershof, Kreis Prenzlau:19 »Es macht mir Spaß, wenn ich nach einer Preissenkung den anderen Tag die Waren billiger verkaufen kann. Aber wenn die Kundschaft freudestrahlend den Laden betritt und fragt, was ist an Waren vorhanden, so muss ich leider immer sagen, kein Öl, keine Haferflocken usw. Dadurch sind viele Werktätige der Meinung, was nützt uns die Preissenkung, wenn zu wenig Ware vorhanden ist.«
Landwirtschaft
Zur Volkskammerwahl und zu den Rechenschaftslegungen ist zurzeit eine etwas bessere Beteiligung zu verzeichnen. Es werden weitere Verpflichtungen aus diesem Anlass übernommen.
Negative bzw. feindliche Äußerungen herrschen nach wie vor bei Großbauern und Mitgliedern bürgerlicher Parteien vor. Diese üben teilweise auch ihren Einfluss auf die werktätige Bevölkerung aus, wie z. B. im Bezirk Neubrandenburg. So äußerte eine Großbäuerin in Groß Quassow, Kreis Neustrelitz: »Wir haben zu nichts mehr Lust. Am Grundstück machen wir nur das Notwendigste. Unser Junge wird Landwirt. Er ist in der Schule mit Leistungen an 1. Stelle und wurde prämiert. Aber für wen denn? Für die ›Russen‹. Wenn man wüsste, wie alles käme. Aber nach Drüben, dazu sind wir wohl zu alt. Na, und wenn der ›Russe‹ hier alles hat, dann sind wir sowieso nur noch seine Sklaven.«
Ein ehemaliger Großbauer (jetzt Neubauer), Mitglied der LPG, wohnhaft in Kartlow, Kreis Demmin: »Sie wollen uns jetzt mit Gewalt zu Demokraten machen, daher wieder die Durchführung einer Wahl.«
Mit der Vorbereitung der Volkswahl werden in einer Reihe Gemeinden, die unter dem Einfluss großbäuerlicher Elemente stehen, »freie Wirtschaft« und die Listenwahl gefordert, besonders in den Gemeinden Dreilützow, Drönnewitz, Luckwitz und Zarrentin, Kreis Hagenow. Besonders konnte beobachtet werden, dass die Losung der Hetzschrift »Tribüne«20 in Zarrentin diskutiert wird, die Stimmscheine mit einem großen »Nein« zu versehen, da sonst diese Scheine als »Ja-Stimmen« gewertet werden.
Die Verzögerung der Ablieferung des Getreides wird in der Hauptsache von Groß- und Mittelbauern verursacht. In der Gemeinde Dittersbach, Kreis Hainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, z. B. verbreitet die Schwester eines Großbauern Folgendes: »Ich habe eine Kartenlegerin in Karl-Marx-Stadt und Leipzig. Diese haben mir gesagt, die Bauern sollen das Getreide zurückhalten, denn im Winter käme es anders. Dann würden die gleich Westgeld dafür bekommen.«
Im Bezirk Potsdam ist im Allgemeinen eine bessere Abgabefreudigkeit zu verzeichnen als im vergangenen Jahr. Nur die Groß- und Mittelbauern zögern mit der Ablieferung, da sie von den RIAS-Argumenten »Freie Wirtschaft«, Sollstreichung und Sollherabsetzung beeinflusst sind und davon nicht abgehen. Zwei Mittelbauern aus Zehdenick, Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam, wollen erst später abliefern und äußerten sich wie folgt: »In der heutigen Zeit wird man wegen der Sollabgabe ständig gequält. So etwas gab es in der Nazizeit nicht, damals haben wir immer im Winter gedroschen, und wir lassen uns auch heute nicht von den Kampfstäben beeinflussen, sondern wir werden wieder im Winter dreschen.«
Ein werktätiger Bauer aus Förderstedt, Kreis Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg: War im Rückstand mit tierischen Produkten. Er wurde von zwei Erfassern und dem Bürgermeister aufgesucht, die in seinem Stall ein Ablieferungsschwein vorfanden. Bei der Aufforderung, sein Soll zu erfüllen, kam es zu einem heftigen Wortwechsel, wobei der Bauer zur Mistgabel griff und auf den Bürgermeister losging. Nur durch die Besonnenheit des Bürgermeisters konnten Tätlichkeiten vermieden werden. (Der oben genannte Bauer ist Mitglied der SED und VVN.)
Mängel und Missstände
In den MTS des Bezirks Potsdam herrscht Unzufriedenheit über die Kartoffelroder (Schatzgräber und Schmotzer), die nicht den Anforderungen entsprechen. In der MTS Fröhden, Kreis Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, fielen schon nach einigen Stunden Einsatz sechs Roder (Schmotzer) aus, weil die Ritzel im Getriebekasten nicht gehärtet sind. Diese Kartoffelroder kamen vom VEB Döbeln.21
Die MTS Neusalza-Spremberg, [Bezirk] Dresden, erhielt durch Telegramm von der MTS-Bezirksleitung Dresden den Bescheid, dass Pflugschare vom Typ 10 ZW dieses Jahr nicht mehr lieferbar sind. Die MTS hat nicht einen Pflugschar vorrätig. Sie benötigt diese aber dringend zum Ziehen der Winterfurche.
Die MTS Sangershausen, [Bezirk] Halle, klagt über das Fehlen von Pflugeisen, die im Bezirkskontor Halle nicht vorhanden sind. Außerdem fallen in der MTS mehrere Traktoren aus wegen defekten Kühlern. Die zuständigen Betriebe sind nicht in der Lage, infolge Materialmangel Kühler herzustellen.
In der MTS Boltenhagen, Kreis Greifswald, [Bezirk] Rostock, fielen mehrere Fahrzeuge und Maschinen aus, da der Treibstoff stark verschmutzt ist. Es wurde festgestellt, dass im Treibstoff Wasser enthalten ist. Ein Traktorist brachte zum Ausdruck: »Wenn die MTS nicht mit besserem Treibstoff beliefert wird, verweigere ich die Arbeit.«
Viehseuchen
Auf dem VEG Groß-Vielen, [Bezirk] Neubrandenburg, ist die Schweinepest ausgebrochen. Am 15.9.1954 erkrankten vier Schweine, am 16. und 17.[9.1954] mussten 414 Ferkel im Alter von 1 bis 28 Wochen der Tierverwertung zugeführt werden. Weitere zwölf Sauen und ein Eber sind fieberkrank und stehen ebenfalls im Verdacht der Schweinepest. Der Professor Röhrer von der Insel Riems22 will festgestellt haben, dass es sich um eine neue Art von Schweinepest handelt.
Im VEG (Großgut) »August Bebel« in Quedlinburg, [Bezirk] Halle, sind zehn Schafe verendet. Weitere 39 mussten notgeschlachtet werden. Das Ergebnis der Untersuchung vom Tiergesundheitsamt liegt noch nicht vor.
Auf der LPG »Rosa Luxemburg« im Sommersdorf, Kreis Pasewalk, [Bezirk] Neubrandenburg, sind ca. 100 Zentner Weizen verdorben. Die VEAB nimmt dieses Getreide nicht mehr ab, weil es dumpfig riecht.
Übrige Bevölkerung
Die Diskussionen über die Preissenkung nehmen weiterhin ab. Der Inhalt der Äußerungen gleicht denen der Vortage. Zur Volkswahl wird noch immer verhältnismäßig wenig diskutiert. Das liegt mitunter auch daran, dass die Aufklärungsarbeit noch ungenügend ist. Dazu äußerte ein Einwohner aus Potsdam: »Bei uns lassen sich keine Aufklärer sehen. Man gewinnt den Eindruck, als ob die Partei annimmt, die Massen bereits vollkommen hinter sich zu haben und deshalb über den Beschluss des demokratischen Blocks nicht diskutiert werden braucht. Aber die Arbeiter sind von der Aufstellung der gemeinsamen Wahlliste bestimmt noch nicht restlos überzeugt.«23
Die Äußerungen zur Volkswahl tragen größtenteils positiven Charakter. Negative Stimmen kommen meist aus bürgerlichen Kreisen vor allem von Mitgliedern und Funktionären der bürgerlichen Parteien. Dabei wenden sie sich größtenteils gegen die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste.24 Zum Beispiel sagte ein Unternehmer aus Grünhainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die gemeinsame Kandidatenliste wird von der SED bewusst aufgestellt, denn sonst könnte es passieren, dass die SED bei Parteiwahlen einige Sitze verlieren würde.«
Ein LPG-Mitglied aus Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich kann nicht verstehen, dass es nur einheitliche Listen gibt, es wäre besser, eigene Listen aufzustellen, aber die LDP geht genau nach der Linie der SED.«
Ein Hotelbesitzer aus Grünhainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es hat wenig Zweck, zur Wahl zu gehen, es werden ja sowieso wieder 98 Prozent herausgequetscht.«
Ein Pfarrer aus Krölpa, [Kreis] Pößneck, [Bezirk] Gera: »Ich bin für freie Wahlen. Man soll ja nicht glauben, dass die Abgeordneten der Volkskammer alle einig sind. Es ist alles wie bei Hitler. Es wäre besser, wenn es eine starke Opposition geben würde.«
In den Versammlungen zur Vorbereitung der Volkswahl treten nur vereinzelt negative Diskussionen in Erscheinung. Zum Beispiel in Eisenach, [Bezirk] Erfurt, kam es zu Äußerungen: »Es spielt keine Rolle, wen wir wählen, der Trott geht ja doch weiter.« Oder: »Der Westen bleibt stark, das kann man immer wieder an den Wahlergebnissen sehen.25 Bei uns wird zwar 100-prozentig gewählt, aber die wahre Volksstimmung darf hier keiner zum Ausdruck bringen, sonst ist es gleich ein Feind und wer weiß, was ihm26 passiert.«
In den Kreisen der Handwerker wird verschiedentlich über ungenügende Materialbelieferung geklagt27 sowie darüber, dass aus den Handwerksbetrieben Arbeitskräfte abwandern, weil sie in der Industrie besser bezahlt werden. Zum Beispiel sagte ein Klempnermeister aus Eisenberg, [Bezirk] Gera: »Ich bekomme immer sehr wenig Material zugeteilt und zum anderen wechseln aus meinem Betrieb laufend Gesellen und Lehrlinge wegen zu niedriger Bezahlung in VE Betriebe über.«
In einigen Kreisen des Bezirkes Magdeburg herrscht unter den Handwerksmeistern keine gute Stimmung, weil durch das Zahlen höherer Löhne im volkseigenen Sektor laufend gelernte Kräfte abgehen. Verschiedene kleine Betriebe des Kreises Kalbe haben deshalb die Absicht, die Arbeit einzustellen. In einer Handwerkerversammlung im Kreis Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, wurde von der Berufsgruppe Schneider beanstandet, dass bei der Genossenschaft niemals Material vorhanden sei, obwohl Konsum und HO über sämtliches Material verfügen. Ebenfalls beklagten sich die anwesenden Tischler und Installateure über eine unzureichende Materialbelieferung.
Eine stärke Aktivität der katholischen Kirche zeigt sich in der Gemeinde Klein Lützow,28 [Bezirk] Schwerin. Zum Beispiel wurden insgesamt 2 000 DM für einen Gedenkstein gesammelt, der die Inschrift tragen soll »Ewiges Gedenken, dem gefallenen Helden«.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
CDU-Ostbüro:29 Potsdam 100, Halle 124.
SPD-Ostbüro: Karl-Marx-Stadt 127, Dresden einige.
»Sozialdemokrat«:30 Karl-Marx-Stadt 29.
In tschechischer Sprache: Dresden 55, Karl-Marx-Stadt einige.
»Tribüne«: Karl-Marx-Stadt 324.
»Neuer Kurs – Propagandalüge«:31 Karl-Marx-Stadt und Erfurt einige.
Hetzschrift »Colloquium«:32 Halle 103, Potsdam einige. Inhalt: Hetze gegen die Volkskammerwahlen.
KgU:33 Halle 11.
UFJ:34 Halle 8.
NTS:35 Dresden einige.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Die bekannten gefälschten Schreiben vom Nationalrat der Nationalen Front an Funktionäre der Blockparteien werden weiterhin zur Desorganisation der Rechenschaftslegungen in Vorbereitung der Volkskammerwahlen verschickt.
Am 17.9.1954 erhielt ein Großbauer aus Neubensdorf, [Bezirk] Potsdam, einen anonymen Brief mit folgendem Inhalt: »Seid auf der Hut, denn für Euch ist nicht mehr viel Zeit.«
Der Bezirksvorstand des FDGB in Gera erhielt ein anonymes Schreiben mit folgendem Inhalt: »Wir bitten um sofortige Abstellung unserer jetzigen Normenüberprüfung. Wir haben den 17.6.[1953] noch nicht vergessen. Hier große HO-Preissenkung – und hier bei uns große Normerhöhung. Wir fordern zum Streik auf.«
An Betriebe und Arbeiter der volkseigenen Betriebe werden Zeitungsannoncen von westdeutschen Zeitungen mit folgendem Wortlaut verschickt. »Elektromonteure, die selbstständige Arbeiten ausführen können, sucht Elektro-Bau Schröder, Frankfurt am Main, Neue Mainzer Straße 2.« Damit will man erreichen, dass Facharbeiter unsere DDR verlassen, um nach Westdeutschland zu gehen.
Aus Arnstadt, [Bezirk] Erfurt, wird uns bekannt, dass an ehemalige Angehörige der Panzerabteilung 103 Schreiben verschickt werden, worin sie aufgefordert werden, zu dem am 25. und 26.9.1954 in Göttingen, Nickolaistraße stattfindenden Treffen36 zu erscheinen. Absender: [Vorname Name], Ahlem, bei Hannover.
Westberlin
Am 10.9.1954 fand in Lankwitz, Leonorenstraße im Lokal »Pichler« eine Versammlung der HIAG (SS-Verband)37 statt. Zu dieser Versammlung waren Vertreter verschiedener Westberliner Parteien eingeladen worden, die hier der HIAG ihre politischen Programme entwickeln sollten. Vertreter der Parteien waren: Senatsabgeordneter Ganschow – SPD,38 Stein – DP,39 Vorstandsmitglied Dr. Hofmann40 von der Deutschen Sozialen Volkspartei,41 Staatsminister a. D. Sivkovich42 und fünf weitere Mitglieder der BHE. Insgesamt waren 300 Personen anwesend. Zur linken Seite des Vorstandstisches wurde eine Kerze angezündet »Zum Gedenken an die gefallenen Kameraden, an die noch in Gefangenschaft schmachtenden Kameraden sowie an den Geist der SS-Verbände«. Nach einer kurzen Ansprache forderte der Versammlungsleiter die Vertreter der anwesenden Parteien auf, ihre Programme zu entwickeln und darüber Auskunft zu geben, wie sich die einzelnen Parteien zu den Problemen der ehemaligen SS stellen. Ganschow (SPD) berief sich auf Ernst Reuter43 und dessen Kampf gegen den Bolschewismus. Alle näheren Einzelheiten könnten in den kommenden Wahlversammlungen der SPD gehört werden.
Stein (DP): »Die Deutsche Partei sei die Partei gewesen, die für die Einführung des Deutschlandliedes gewesen sei. Ihr Kampf gelte in erster Linie dem Bolschewismus und der SPD, denn sie sei die Partei, durch die es dem Kommunismus bis jetzt in jeder Volksdemokratie gelungen sei, an die Macht zu kommen. Zu verurteilen sei gleichzeitig auch die Gewerkschaft, die in Deutschland politische Streiks organisiert und von der SPD gelenkt wird. Meine Partei steht auf dem Standpunkt, die Angehörigen der SS-Verbände beim 131er-Gesetz44 gleichberechtigt einzubauen.«
Dr. Hofmann (DSV):45 Nach seiner Hetze gegen die Sowjetunion und die DDR äußerte er: »Die freie Welt soll nicht so viel auf die Atombomben vertrauen. Man könne damit zwar Russland auslöschen, aber nicht den Weltkommunismus treffen, denn er sei bedingt durch die schlechte soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung in der ganzen Welt. Wenn in der Welt dieses erkannt wird und die Profite gleichmäßig verteilt werden, kann der Kommunismus erfolgreich bekämpft werden.«
Ein Vorstandsmitglied (BHE): »Es ist nun genug geredet worden, jetzt muss gehandelt werden. Es fehlt lediglich an guten Waffen. Aber es wird wieder das hergestellt werden, was das Ziel der SS gewesen ist. Je länger man damit zögert, umso blutiger wird die Auseinandersetzung, denn es werden schon jetzt in Schlesien mongolische Horden angesiedelt.«
Am 8.9.1954 fand in der Schule Kurhausstraße eine Mitgliederversammlung der SPD-Ortsgruppe Waidmannslust statt. Anwesend waren 34 Personen, meist ältere. Die Referentin Ella Kay46 führte u. a. aus: Es wird zu wenig getan, um die Arbeiter mit kulturellen Problemen vertraut zu machen. Der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der Studierenden sei sehr gering und es müsste auch wieder zu den einheitlichen Schulen zurückgekehrt werden.
Am 14.9.1954 fand in Moabit »Biens Festsäle« eine Versammlung der FDP statt. Verschiedene Diskussionsredner brachten zum Ausdruck, dass sie aufgrund der Haltung der FDP diese Partei nicht mehr wählen werden. Es wurden die verschiedenen Korruptionsfälle angeführt (z. B. Fall Oberjat).47