Zur Beurteilung der Situation
1. September 1954
Informationsdienst Nr. 2302 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Zur Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich1 wurden uns vereinzelt Stimmen bekannt. Die uns bekannt gewordenen Stimmen waren alle positiv. Verschiedentlich bringt man zum Ausdruck, dass nach der Viererkonferenz2 die amerikanischen Imperialisten einen Schlag nach dem anderen erhalten und die Bonner Regierung durch die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich in eine neue Sackgasse geraten ist.
Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Jute-Werk Gera:3 »Durch die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich haben die Kriegstreiber und Imperialisten wieder einen neuen Schlag erlitten. Hoffentlich erhalten sie auch denselben Schlag von der westdeutschen Bevölkerung, damit der EVG-Vertrag wieder aus der Welt geschaffen wird und die Menschen wieder friedlich ihrer Arbeit nachgehen können.«
Ein Arbeiter aus dem Kunstfaser-Werk »Wilhelm Pieck« Schwarza, [Bezirk] Gera: »Durch die Ablehnung der EVG in Frankreich wird sich die Aufregung und Nervosität innerhalb der Bundesrepublik vergrößern und die Bundesregierung wird es nicht wagen, die Aufträge der Amerikaner in Westdeutschland durchzuführen.«
Ein parteiloser Kumpel aus dem »Martin-Hoop«-Werk in Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mit Freuden habe ich von der Ablehnung der EVG in Frankreich Kenntnis genommen. Diese Ablehnung ist für Adenauer4 eine bittere Pille, an der er lange schlucken wird.«
Ein Arbeiter aus dem VEB MEWA, Besteckwerk Grünhain, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Ablehnung der EVG in Frankreich wird unseren Brüdern und Schwestern in Westdeutschland einen gewaltigen Ansporn geben und der Adenauer-Regierung den Todesstoß versetzen.«
Ein parteiloser Arbeiter aus den Kalkwerk Langenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Angefangen von der Viererkonferenz bis zur Ablehnung der EVG in Frankreich, haben die amerikanischen Imperialisten Schlag auf Schlag erhalten. Sie können das Jahr 1954 als das schwärzeste Jahr in ihrer Außenpolitik bezeichnen.«
Ganz vereinzelt wird noch über die Streikbewegung in Westdeutschland5 gesprochen. Veränderungen gegenüber dem Vortage sind nicht zu verzeichnen. Nach wie vor erklärt sich der größte Teil der Werktätigen mit den Streikenden solidarisch, während ein kleiner Teil der Werktätigen eine Unterstützung ablehnt und die Meinung vertritt: In Westdeutschland leben die Arbeiter besser als in der DDR.6 Ein Arbeiter aus dem Mercedes-Werk Zella-Mehlis, [Bezirk] Suhl: »Wenn unsere Kollegen von der Stanzerei streiken würden, würde man sie einsperren und die da drüben sollen wir unterstützen, das finde ich nicht richtig.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Leipziger Verkehrsbetriebe erklärte: »Wir Straßenbahner haben eher Grund zum Streiken als noch die Streikenden in Westdeutschland zu unterstützen. Wir bekommen einen viel niedrigeren Stundenlohn.«
Eine parteilose Arbeiterin aus der Wäscherei Königsbrück, [Bezirk] Dresden: »Warum wird in Westdeutschland gestreikt? Dort drüben leben sie doch viel besser, wenn wir bei uns streiken wollten, würde uns die Besatzungsmacht ganz schön helfen, obwohl wir mehr Recht zum Streiken hätten.«
Über die bevorstehenden Volkswahlen7 wird sehr wenig gesprochen. In den bekannt gewordenen negativen8 Stimmen bringt man zum Ausdruck, dass die Wahlen zwecklos seien. Ein Arbeiter aus dem VEB Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera: »Die Volkskammerwahlen sind für die Katze und haben keinen Zweck. Ich bin der Meinung, dass zuerst die Besatzungsmächte fort müssten, ehe man eine Wahl durchführen kann. Erst wenn wir die Einheit Deutschlands haben und eine richtige Währung, ist eine Wahl möglich.«
Im VEB Waggonbau Gotha, [Bezirk] Erfurt, vertritt man die Meinung, dass die Wahl schön und gut sei, aber man wäre bald müde von der ganzen Wählerei.
In feindlichen Diskussionen hetzt man gegen den Präsidenten Wilhelm Pieck.9 Ein Arbeiter aus der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock: »Was brauchen wir im Oktober wählen, Wilhelm Pieck ist ja russischer Staatsbürger.«10
Zum Entwurf des neuen Familiengesetzes11 wurden uns folgende negative bzw. feindliche Stimmen bekannt:
Ein Arbeiter aus dem VEB IKA Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Man spricht nun viel von einem neuen Ehegesetz, bevor es angenommen ist. Aber das neue Ehegesetz hat auch seine Tücken. Meiner Ansicht ist vieles darin, was man nicht annehmen kann. Immer, wenn viel von einer Sache Propaganda gemacht wird, steckt nicht viel dahinter. Vielleicht gibt es nach der Annahme noch mehr Ehescheidungen als bisher.«
Ein parteiloser Angestellter von der HO Industriewaren Sondershausen, [Bezirk] Erfurt: »Das wird hier genauso wie bei den Russen, um halb 10.00 Uhr nach der zweiten Flasche Wodka gehen sie zum Standesamt und heiraten. Um halb 12.00 Uhr überlegen sie es sich wieder anders und lassen sich sofort scheiden. Die Kinder nimmt der Staat an sich. Denn das werden die ›besten‹ Kader.«
Von der Bau-Union Rostock wurde bekannt, dass seit 14 Tagen der Bau des Kesselhauses der Warnow-Werft wegen Mangel an Investitionsgeldern stillgelegt wurde. Das Kesselhaus gehört zum Energieprogramm 1954.12 Die Stimmung unter den Bauarbeitern ist schlecht, weil sie nicht verstehen können, dass ein so wichtiges Objekt stillgelegt wird und keine Gelder mehr vorhanden sein sollen. Trotz der zwei Wochen Terminverzug würde der Bau noch termingemäß fertiggestellt werden können, wenn die Gelder schnellstens bewilligt würden.
Die Arbeiter im VEB Steinbruch in Dannigkow, [Bezirk] Magdeburg, sind unzufrieden, da die gesundheitliche Betreuung der Kollegen zu wünschen übrig lässt. Sie verlangen, dass nach durchgeführten Untersuchungen ihnen das Ergebnis mitgeteilt wird, damit es nicht vorkommen kann, dass kranke Kollegen gesundgeschrieben werden. Von der Belegschaft werden Diskussionen bekannt, in denen man eine erhöhte Zuteilung von Fett und Milch fordert. Man begründet dies mit der höchst ungesunden Arbeit.
Produktionsschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben wegen Materialmangel und schlechter Qualität des Materials.
Im Verkehrsbetrieb Eisleben, [Bezirk] Halle, ist zu verzeichnen, dass täglich 50 Prozent der eingesetzten Omnibusse ausfallen. Diese Fahrzeuge stehen längere Zeit in Reparatur, weil keine Ersatzteile vorhanden sind.
Im VEB Lacke- und Farbenfabrik Zwickau,13 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlt es an Glyzerin.
Im Verlag »Freies Wort« in Suhl bestehen Schwierigkeiten in der Papierversorgung. Wenn nur einen Tag die Papiersendung aus Bönisch/Sachsen14 ausbleiben würde, kann keine Zeitung gedruckt werden.
Alle Forster Tuchfabriken liefern schlechte Stoffe. Es handelt sich hierbei um Zollwollkammgarne, die eine erhöhte Quote an zweiter Wahl bringen. Vom fachmännischen Standpunkt aus gesehen, ist es unverantwortlich, solche Waren unter die Bevölkerung zu bringen.15
Produktionsstörung: In der Nacht vom 28. zum 29.8.[1954] entstand im VEB »Heinrich Rau« in Wildau, [Bezirk] Potsdam, ein Kurzschluss, als sich beim Aufwinden eines Trafos der Zughaken der Winde wegen Überlastung verbog und gegen die Sammelschiene flog. Dadurch setzte die Kühlwasseranlage für die Öfen aus. Die Werkfeuerwehr sollte daraufhin die Öfen mit Kühlwasser versorgen. Weil der Diensthabende eingeschlafen war, traf es jedoch zu spät ein. Infolgedessen entstand an den Öfen ein Sachschaden von ca. DM 15 000.16
Handel und Versorgung
Überplanbestände, dem Verderb ausgesetzte bzw. verdorbene Lebensmittel
Die VEAB Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, lieferte an den Kreiskonsum Lobenstein, [Bezirk] Gera, zwei Waggons Kartoffeln, von denen ca. 25 bis 30 Prozent angefault und dadurch als Speisekartoffeln nicht verwendet werden konnten, was zu negativen Diskussionen in der Bevölkerung führte.
Im Kühlhaus Halle lagern 20 t bulgarischer Hochgebirgskäse (Prinzenkäse), der wegen der Schärfe von der Bevölkerung nicht gekauft wird. Der Leiter der VE-Käsefabrik Sangershausen, [Bezirk] Halle, sagte hierzu, dass sich der DIA mehr Gedanken beim Einführen von Waren aus dem Ausland machen müsse.
Mängel in der Versorgung
In einigen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt ist die Belieferung mit Kartoffeln so schlecht, dass sie zu negativen Diskussionen führt, wobei insbesondere die bürokratische Arbeit der VEAB einer Kritik unterzogen wird. Es wird geklagt, dass erst 50 Prozent ungenießbare und jetzt überhaupt keine Kartoffeln mehr zu haben sind.17
In den Kreisen Fürstenberg und Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt, fehlt es infolge der schlechten Warenstreuung an Käse, Fisch und Heringen.
In acht Kreisen des Bezirkes Dresden ist die Versorgung mit Fleisch- und Wurstwaren auf Marken und HO-Basis unzureichend und führt zu einer zunehmenden Verstimmung unter der Bevölkerung, die sich negativ auf die bevorstehende Volkswahl auswirkt.18
Fischwaren sind Mangelerscheinungen im Bezirk Suhl.
Benzinmangel hält weiterhin in acht Kreisen des Bezirkes Dresden an. In Bautzen musste aufgrund dessen am 30.8.[1954] der Taxibetrieb eingestellt werden.
Landwirtschaft
In der Landbevölkerung wurde nur vereinzelt zu den politischen Tagesfragen, hauptsächlich in der MTS und LPG, Stellung genommen. Die Diskussionen sind überwiegend positiv und bringen teilweise durch Selbstverpflichtungen die Verbundenheit mit unserer Regierung zur Schaffung der Einheit Deutschlands und der Erhaltung des Friedens zum Ausdruck. So verpflichtete sich z. B. ein werktätiger Bauer aus Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, zum Abliefern seines Solls am 15. September [1954] mit folgenden Worten: »Mit der Volkswahl habe ich durch die Ernte mich noch nicht allzu viel befasst. Aber ich bin der Meinung, dass es weniger gilt, eine Partei zu wählen, sondern die ganze Kraft einzusetzen für die Schaffung der Einheit Deutschlands und die Erhaltung des Friedens.« In einer Versammlung in Deetz, [Bezirk] Potsdam, verpflichteten sich die anwesenden Bauern, bis zum 17.10.[1954] ihr Soll und darüber hinaus 15 000 Liter Milch auf freien Spitzen19 abzuliefern.
Negative Argumente treten nur vereinzelt auf, da die Großbauern und andere feindliche Elemente sehr zurückhaltend sind. Ein Kleinbauer aus Pandorf,20 [Bezirk] Gera, der sich durch die LPG benachteiligt fühlt, machte folgende Äußerung: »Für mich kommen keine Wahlen mehr infrage, denn ich versteh nicht, warum die LPG weniger abliefern brauchen und mehr Butter erhalten, während die Einzelbauern mehr abliefern müssen und weniger Butter erhalten.«
Vereinzelt wird auch über die Streikbewegung in Westdeutschland diskutiert und teilweise durch Spenden unterstützt. Einzelne argumentieren mit RIAS-Parolen gegen den Streik in Westdeutschland. Ein LPG-Mitglied aus Börtewitz, [Bezirk] Leipzig: »Die haben es doch nicht nötig zu streiken, wo sie doch alles haben. Dagegen bei uns hätten die Arbeiter einen Grund, die verdienen doch so wenig. Aber wir dürfen ja nicht streiken, sonst fahren gleich wieder Panzer auf.«
Unzufriedenheit über Mängel und Missstände
Wegen der Nichteinhaltung der Verträge seitens der MTS beklagen sich Genossenschafts- und Einzelbauern z. B. über die MTS Brielow, [Bezirk] Potsdam, die MTS im Bereich Parchim, [Bezirk] Schwerin, über einzelne MTS des Bezirks Karl-Marx-Stadt, wo die MTS oft erst bei Großbauern arbeiten und die abgeschlossenen Verträge mit den werktätigen Bauern nicht einhalten. Klagen werden auch über die MTS-Spezialwerkstatt Parchim, [Bezirk] Schwerin, geführt. Generalüberholte Erntemaschinen aus dieser Werkstatt mussten bereits nach wenigen Stunden wegen Maschinenschaden wieder stillgelegt werden.
Ersatzteilmangel hat die MTS Glewitz, [Bezirk] Rostock, für Schatzgräber.21 Der MTS Eilenburg, [Bezirk] Halle,22 fehlt es an Treibriemen und zwei Druschsätzen. Im Bezirkskontor für Ersatzteile Magdeburg fehlt es an Keilriemen für Dreschmaschinen Größe 17/11 × 20,50 und für Mähdrescher Größe 22 × 14 × 30.50.
In der Spezialwerkstatt Grimmen, [Bezirk] Rostock, liegen seit fünf Wochen vier Raupenschlepper für die Achsvorlegerwellen und Kugellager fehlen.
Die Bauern der Gemeinde Schönach,23 [Bezirk] Dresden, sind über ihre BHG verärgert, weil sie ihnen das Getreide wegen der Feuchtigkeitsgrade nicht abnimmt.
In Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg, beklagen sich die Bauern über die schlechte Stromversorgung. Druschsätze müssen des Öfteren angehalten werden und es gehen wertvolle Arbeitsstunden verloren.
Die ÖLB – Örtlichen Landwirtschlichen Betriebe24 Magdalenenhöh, [Bezirk] Neubrandenburg, haben noch 150 Morgen Getreide in Hocken zu stehen, weil es dort an Arbeitskräften fehlt.
In Hedersleben, [Bezirk] Halle, wird die Arbeit des Mähdreschers täglich oft stundenlang unterbrochen, da die Lkw nicht rechtzeitig zur Übernahme des Getreides vorhanden sind. Ursache: Das Getreide kommt in behelfsmäßige Lagerräume und die VEAB entladen nicht schnell genug.
In der LPG Kreien, [Bezirk] Schwerin, kam es bei der Ernte zu starken Zersetzungserscheinungen. Diese LPG hatte im Juni beschlossen, sich zum 31.12.1954 aufzulösen. Infolgedessen versuchte jeder Genossenschaftsbauer, die Ernte für sich einzubringen. Die gleichen Tendenzen bestehen in der LPG Birkholz und der LPG Dallmin, [Bezirk] Schwerin. In der LPG Birkholz erklärten zwei Genossen den Austritt. In der LPG Dallmin ist der Buchhalter nicht Mitglied der LPG und lässt seine eigene Wirtschaft von fremden Arbeitskräften bewirtschaften. Der Vorsitzende dieser LPG hält sich während der Arbeitszeit in der Schänke auf und steht unter dem Einfluss der Großbauern.
Im Kreis Saalfeld, [Bezirk] Gera, treten in den LPG, deren Flächen noch nicht zusammengelegt sind, Diskussionen in verstärktem Maße auf. Die Genossenschaftsbauern weigerten sich, ihre Flächen zusammenzulegen wie z. B. in der LPG Eyba, wo sich bisher fünf Betriebe weigerten, ihre Flächen zusammenzulegen. Dies führte sogar so weit, dass sie aus diesem Grunde ihre Austrittserklärungen abgegeben haben. Eine ähnliche Erscheinung ist bei der LPG Aue am Berg, [Bezirk] Gera, zu verzeichnen, die in den Typ III übergehen will,25 weshalb zwei Mitglieder ihren Austritt erklärt haben.
Übrige Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird wenig, aber überwiegend positiv gesprochen.
Zur Ablehnung des EVG-Vertrages durch das französische Parlament wurden nur ganz vereinzelt Stimmen bekannt, die alle positiv sind. So erklärte z. B. ein Rentner aus Großenhain, [Bezirk] Dresden: »Es war mir vorher schon klar, dass der EVG-Vertrag in Frankreich abgelehnt wird. Dasselbe wird sich meiner Ansicht nach auch in Italien wiederholen,26 denn die Arbeiter dieser Länder sehen klar und wissen auch, was die EVG zu bedeuten hat. Die wollen nicht wieder für fremde Interessen ihr Leben opfern.« Ein VP-Angehöriger aus Bautzen, [Bezirk] Dresden: »Ich begrüße die Ablehnung des EVG-Vertrages in Frankreich und bin der Meinung, dass Adenauer damit wieder eine große Schlappe erlitten hat.«
Von einem geringen Teil der übrigen Bevölkerung wird weiterhin zur Volkswahl Stellung genommen, überwiegend positiv. In den positiven Erklärungen zur Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste wird zum Ausdruck gebracht, dass wir uns im Kampf für den Frieden und der Herstellung der Einheit Deutschlands auf keinen Fall zersplittern dürfen.
In den negativen Äußerungen zu dieser Frage, die weiterhin meist aus den Reihen der bürgerlichen Parteien kommen, kommt zum Ausdruck, dass es ihnen bei der Forderung nach getrennten Listen nur um die Beseitigung der führenden Rolle unserer Partei geht. So sagte z. B. ein CDU-Mitglied aus Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Überall hat die SED die Führung. Auch bei der kommenden Wahl spielen sie wieder die große Geige. Selbstverständlich können sie nichts aufstellen, weil sie dann eine Abfuhr erleiden. Deshalb immer die groß angelegte Blockwahl«.
In der Gemeinde Domsdorf, [Bezirk] Cottbus, äußerte ein Vertreter der CDU, dass seine Fraktion die Forderung nach getrennten Listen erhebt. (Die gleiche Erscheinung trat noch in anderen Spreewaldgemeinden auf.)
In der Gemeinde Hergisdorf, Kreis Eisleben, [Bezirk] Halle, äußerte der CDU-Vorsitzende in einer CDU-Mitgliederversammlung, dass künftig die CDU in der Volkskammer 15 Sitze weniger haben soll. Er versuchte aus Opposition gegen diese angebliche Maßnahme, die Ortsgruppe der CDU aufzulösen, was aber von anderen Mitgliedern verhindert wurde.
In einer Parteiversammlung der LDP in Leitzkau, [Bezirk] Magdeburg, äußerte ein Mitglied: »Die Entscheidung bei der Volkswahl im Oktober ist bedeutend schwieriger als bei der Volksbefragung,27 denn da ging es ja nur um Krieg oder Frieden. Aber bei den Volkswahlen ist es so, dass man die Erfolge beurteilen muss. Zurzeit ist die Bevölkerung unzufrieden über den bestehenden Mangel an Lebensmitteln, an guten Textilien, Schuhen. Außerdem sind die Importschuhe in diesem Jahr teurer als vorher. Die Versorgung mit Rohstoffen für das Klempnerhandwerk lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Unsere Mitglieder haben keine Lust mehr mitzumachen.«
Zur Streikbewegung wird ganz vereinzelt Stellung genommen. Es wurden uns heute nur negative Stimmen bekannt, die nachfolgend berichtet werden.
Eine Krankenschwester aus der Poliklinik Bautzen, [Bezirk] Dresden: »Das ganze Streiken in Westdeutschland ist ja nur eine Kommunistenhetze. Dort geht es den Arbeitern bedeutend besser als uns, denn wir führen hier nur ein Hungerleben.«
Ein Einwohner aus Diedrichshagen, [Bezirk] Rostock: »Dass die Bonner Regierung die geschickten Sachen (Spenden) aus der DDR nicht annimmt,28 das verstehe ich, denn unsere Regierung hat damals am 17.6.1953 die von Amerika gegebene Unterstützung auch nicht angenommen.29 Bei uns darf ja auch nicht gestreikt werden30 und warum wird es dann so tragisch genommen, wenn dort die Polizei einschreitet.«
Ein Konsum-Angestellter aus Ziesen,31 [Kreis] Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Für die Hungerleider gebe ich keinen Pfennig, sollen [sie] doch arbeiten, dann verdienen sie genug. Die sollen mal zu uns rüberkommen, da hätten sie keine Möglichkeit zum Streiken. Wenn wir hier streiken würden, dann gingen sie mit uns ab.«
Aus den Kreisen der Handwerker wurde Folgendes bekannt: In einem Handwerker-Ausspracheabend in Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, wurde von den Angehörigen des Schneiderhandwerks beanstandet, dass der Konsum und die HO in Zukunft Maßanfertigungen vornehmen. Dieses würde im Gegensatz zur Förderung des Handwerks stehen und man greift in die Rechte des Handwerks ein. Vor Monaten hatten sie durch eine Delegation dem Präsidenten Wilhelm Pieck eine Eingabe überreicht, in der gebeten wird, die Anfertigung von Maßanzügen als Produktion zu rechnen. Diese Vorlage liegt bis heute noch beim Minister Wach32 und sei nicht beantwortet worden. Außerdem erhielten die Schneider nur 10 Prozent des Materials und wären auf Gnade und Ungnade der DHZ angewiesen.
Zur Vorbereitung der Volkswahlen diskutierte der Geschäftsführer des Leder-Textilverarbeitungshandwerks Schwerin: »Der neue Kurs33 ist eine kurzfristige Erscheinung, unsere Handwerksmeister wissen, dass in Zukunft ihre Arbeit auf der Grundlage der Produktionsgenossenschaft geführt wird. Damit sind sie nicht einverstanden.«
In größerem Maße wird zu örtlichen Mängeln in der Versorgung und anderen Schwierigkeiten Stellung genommen. Dabei traten vereinzelte negative Äußerungen in Erscheinung. Ein Arbeiter aus Halle: »Man kann zurzeit in den Geschäften in Halle noch nicht so sehr wie in anderen Städten der DDR eine Verknappung gewisser Lebensmittel feststellen. Es fehlen bessere Wurstsorten, Käse, Tee, Bohnenkaffee und Kakao. Außerdem billige Zigarettensorten. Das ist zwar keine allgemeine Erscheinung, weil man diese Waren in anderen Städten ausreichend erhält. Man könnte meinen, dass hier von den Gegnern der Republik mit der Wahlvorbereitung begonnen wird.«
Negativ äußerte sich eine Hausfrau aus Zerbst, [Bezirk] Magdeburg: »Was gibt es denn schon bei uns, Zigaretten fehlen, Wurst fehlt usw., jetzt ist wohl die Regierung doch am Ende. Es wird aber auch höchste Zeit.«
Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:34 Gera 3 000, Halle 3 000, Suhl 1 000, Potsdam 740, Magdeburg 400, Erfurt 37, Dresden 12. Meist Hetze gegen den Neuen Kurs.
CDU-Ostbüro: Karl-Marx-Stadt 1 000 alte Ausgabe.
NTS:35 Halle 10, Neubrandenburg 9, Rostock und Dresden einige.
[In] tschechischer Sprache: Dresden 7.
844 mit der Unterschrift »Freiheitskomitee Bismarck«, Inhalt: Verherrlichung der EVG.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt.
Im Briefkasten des Bürgermeisters der Gemeinde Linz, [Bezirk] Dresden, lag ein Zettel mit folgender Aufschrift: »Wir wünschen eine freie geheime Wahl ohne slawische Beeinflussung und die Aufstellung von Abgeordneten zur Volkskammer von echter deutscher Gesinnung.«
»Berliner Montagsecho« vom 30.8.195436
»Die katholische Kirche hat im Kapuzinerkloster in Bebra, das als ›erste Festung Gottes‹ längs der Zonengrenze errichtet worden ist, einen Verpflegungsstützpunkt (für Teilnehmer am deutschen katholischen Kirchentag)37 eröffnet. Nach einem mehrstündigen Aufenthalt werden die Besucher mit Lebensmittelpaketen versehen, nach Fulda weiterbefördert.«
Vermutliche Feindtätigkeit
Vor dem Passieren der Friedensfahrer der DDR-Rundfahrt38 wurden am 30.8.1954 auf der Straße Ammendorf – Halle in der Nähe der Waggonfabrik Ammendorf Glassplitter und Blechstücke aufgefunden.
Anlage 1 vom 1. September 1954 zum Informationsdienst Nr. 2302
Stimmen von Berliner FDGB-Urlaubern über Zustände und Mängel in verschiedenen Kurorten der DDR
Ein Urlauber, der in Rerik an der Ostsee weilte, äußerte: »Was in diesem Ort sehr störend wirkt, sind die Übungen der sowjetischen Soldaten. Es wird Tag und Nacht mit der schweren Flak geübt. Das ist keine Erholung für die Werktätigen, deshalb sollte man diesen Ort nicht mit Urlaubern beschicken.«39
Ein Urlauber, der in Binz/a. Rügen war, sagte: »Ich war erstaunt über die vielen leerstehenden Häuser und vor allem befindet sich ein großer Teil in einem sehr schlechten Zustand. Ein Offizier der KVP40 erklärte mir, dass 1953 ein großer Teil der Besitzer enteignet wurde und dass die Häuser dem MdI41 zugesprochen wurden. Seit diesem Zeitpunkt stehen die Häuser schon leer.«
Ein Urlauber berichtete von Clowe/a. Rügen: »Dieser Ort macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Es liegen Materialreste von früheren Baubetrieben herum. Der Strand ist offenbar seit Jahren nicht gereinigt worden. Die Gemeindeverwaltung zeigt keinerlei Bemühungen, diese Zustände zu beseitigen.«
Ein Urlauber, der in Prenzlau-Uckermark war, führte Folgendes aus: »Viele Urlauber empörten sich über das Benehmen der KVP-Angehörigen, die dort stationiert sind. Ich habe selbst erlebt, wie in einem Lokal Offiziere sich dermaßen betranken, dass sie vom Stuhl fielen. Sie wurden aber von der Streife nicht beachtet, sondern diese kümmerte sich nur um betrunkene Soldaten. Das machte auf die anwesenden Gäste den Eindruck, als wenn die Offiziere für ihr Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen würden.«
Ein Urlauber, der in Lückendorf [im] Zittauer Gebirge weilte, äußerte: »Ich erlebte, wie Urlauber wegen Grenzübertritt festgenommen wurden und wie dieses Ereignis zur Hetze gegen die ČSR benutzt wurde. Das wurde noch geschürt von den dort wohnenden Neubürgern.42 Es wurde behauptet, die ČSR-Grenzposten würden die Leute nach drüben verschleppen, weil sie für jeden Deutschen eine Kopfprämie bekommen würden. Es herrschte eine üble chauvinistische Stimmung unter den Urlaubern.«
Anlage 2 vom 1. September1954 zum Informationsdienst Nr. 2302
Stimmen zur Pressekonferenz mit dem CDU-Abgeordneten Schmidt-Wittmack43
Die Stellungnahmen aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen sind weiterhin gering. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv. Der Inhalt hat sich im Vergleich zu den Vortagen nicht verändert.
Ein Arbeiter aus der Filmfabrik Wolfen, [Bezirk] Halle: »In der Pressekonferenz hat es aber der CDU-Abgeordnete dem Adenauer und seinen Anhängern tüchtig gegeben. Erst haben sie in Westdeutschland den Mund aufgerissen, dass es keine Geheimabkommen zur EVG gibt und jetzt werden sie es bald zugeben müssen, nachdem Schmidt-Wittmack ebenfalls vor der Weltöffentlichkeit davon gesprochen hat.«44
Ein CDU-Mitglied aus Wiesenbad, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Der Übertritt Schmidt-Wittmacks ist ein erneuter Beweis, dass die CDU in Westdeutschland eine Politik betreibt, worüber sie in Zukunft vor der christlichen Menschheit keine Rechenschaft ablegen kann. Hoffentlich finden noch mehr Schmidt-Wittmacks den Weg zu uns in die DDR und zeigen anhand von Pressekonferenzen der Welt das wahre Gesicht des Adenauer-Regimes, das nur eine Marionette des USA-Imperialismus ist, zur Verwirklichung aggressiver Ziele.«
Eine Krankenschwester aus Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Die Bonner Regierung, das sind doch wirklich lauter Verräter am deutschen Volke. Ich glaube jetzt fest daran, dass wir die Einheit Deutschlands bald schaffen werden. Ich bin sehr beeindruckt von den Ausführungen Schmidt-Wittmacks, die er auf der Pressekonferenz machte.«
Ein Rentner aus Frankfurt: »Die Ausführungen Schmidt-Wittmacks haben in der Westpresse und überhaupt in der Bundesrepublik viel Aufregung hervorgerufen. Es ist doch klar, dass Adenauer und Konsorten sich ihr Grab schaufeln. Es wird nicht mehr lange dauern, dann können sie ihren Flug antreten.«
Ein Rentner aus Löcknitz, [Bezirk] Neubrandenburg: »Durch die Erklärung des CDU-Abgeordneten wurde deutlich, welche Gefahr die Adenauer-Politik in sich birgt. Zum anderen verhindert sie die Herstellung der Einheit Deutschlands, deshalb müssen wir mit aller Entschiedenheit eine neue Deutschlandkonferenz fordern, denn nur dadurch kann die Einheit ermöglicht werden.«
Aufgrund des wenigen Materials kann keine Einschätzung der negativen Äußerungen gegeben werden. Ein Ingenieur vom VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Schwarza, [Bezirk] Gera: »Was macht es schon, wenn Mitglieder der Bonner Regierung, wie Dr. John45 oder Schmidt-Wittmack zu uns in die DDR kommen. Auf der anderen Seite gehen wieder welche von uns nach drüben und dadurch gleicht sich das wieder aus.«
Anlage 3 vom 31. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2302
Einige Mängel und Missstände in der Landwirtschaft
In der LPG Schartau, [Kreis] Stendal, [Bezirk] Magdeburg, herrscht Missstimmung über das Verhalten des Kreisrates Stendal, der erst DM 16 000 für den Bau eines Schweinestalles bestätigte und später wieder zurückzog, weil angeblich diese LPG nicht zu den Schwerpunkten zählt. In der LPG Schorstedt, [Kreis] Stendal, wurde der Bau eines Schweinestalles ebenfalls widerrufen und hier damit begründet, dass es an Baumaterial fehle, obwohl die Mauersteine dafür schon bewilligt waren.
Über die schlechte Versorgung der MTS Marksuhl, [Bezirk] Erfurt, sagt ein MTS-Angehöriger wie folgt: »Einmal fehlen Zigaretten, dann Haferflocken und jetzt fehlt das Mehl. Mir kommt es vor, als wenn die Versorgung von oben sabotiert würde.«
In der MTS Fürstenberg, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam, werden täglich Kündigungen von Traktoristen eingereicht. Ein Mähdrescherführer dieser MTS begründete es wie folgt: »Ist kein Wunder. Der Verdienst ist niedriger als in der Industrie. Im Oktober wird kein Traktorist mehr in der MTS sein. Ich selbst bin auch unzufrieden. Ich bin bis vor Kurzem nach der Lohnstufe V entlohnt worden, obwohl mir Lohnstufe IV zustand.« Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen dem neuen MTS-Leiter und den Traktoristen schlecht ist. Der Leiter hat sich erst nach drei Wochen Tätigkeit bei den Traktoristen mit folgender Äußerung vorgestellt: »Ich werde erst einmal aufräumen und einige rausschmeißen.«
Unter den Traktoristen der MTS Lumtow,46 Kreis Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, herrscht Unzufriedenheit wegen der Prämien. Die Traktoristen erklären sich damit nicht einverstanden, dass der Oberagronom DM 600, der technische Leiter DM 500 und sie nur DM 50,00 erhalten haben. Sie sind der Meinung, dass die Leitung nur halb so hohe Summen brauche und man den Traktoristen dafür mehr geben sollte, da nur durch ihre Mitarbeit, die nicht immer leicht sei, der Jahresplan erfüllt werden könnte.