Direkt zum Seiteninhalt springen

Zur Beurteilung der Situation

2. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2329 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr und Versorgung

Industrie und Verkehr

Über politische Tagesfragen wird von den Werktätigen allgemein wenig diskutiert. Bei diesen wenigen Diskussionen steht die Volkswahl im Mittelpunkt.1 Die Diskussionen sind überwiegend positiv. Darin begrüßt man die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste, weil damit der Wahlkampf der einzelnen Parteien weggefallen ist. Die Einzel- und Kollektivverpflichtungen anlässlich der Volkskammerwahl haben gegenüber dem Vortage etwas zugenommen.

In den negativen Diskussionen lehnt man die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste ab, mit der Begründung, dass dies nicht demokratisch sei. Teilweise macht man die Beteiligung an der Wahl von wirtschaftlichen Forderungen abhängig. Verschiedentlich nimmt man eine gleichgültige Haltung ein, indem man zum Ausdruck bringt, dass trotz der Wahl alles so bleibt, wie es jetzt ist.

Ein Angestellter aus Großheringen, [Kreis] Apolda, [Bezirk] Erfurt (SED): »Eine Wahl mit einer Liste ist überhaupt keine Wahl. So etwas ist undemokratisch. Man sollte jede Partei einzeln kandidieren lassen, dann käme ein echtes Bild zustande.«2

Ein Arbeiter aus dem VEB Landmaschinenbau Torgau, [Bezirk] Leipzig: »Wir gehen nicht zur Wahl. Wir haben die Schnauze voll. Schon jahrelang bekommen wir im Schichtsystem die Pause von 20 Minuten nicht bezahlt. Unser Essen müssen wir so nebenbei einnehmen.«

Eine Reinemachefrau aus Karl-Marx-Stadt: »Wir führen ja keine Wahl, sondern eine Abstimmung durch, wo sich in der Regierung nichts ändert. Früher war das anders. Da hatte die Partei, die die meisten Stimmen bekam, auch die meisten Sitze.«

Eine Arbeiterin vom VEB Rund- und Flachstrickmaschinenbau Karl-Marx-Stadt: »Die Wahl ist nicht gerecht, denn sie wird ja so gemacht, wie sie gebraucht wird. Es ist alles Lug und Trug. Mein Sohn konnte sich im Westen jetzt ein neues Schlafzimmer kaufen, weil es denen im Westen besser geht, als uns in der hungernden Ostzone.«

Ein Arbeiter (SED) aus einer privaten Harmonikafabrik in Oberpöllnitz, [Bezirk] Gera: »Ich gehe am 17. [Oktober 1954] sowieso nicht zur Wahl, denn ich habe kein Interesse daran. Ich habe eine Wohnung, welche Wasser hereinlässt und obwohl ich mich schon an einige Stellen gewandt habe, ist mir bis jetzt noch keine Hilfe zuteil geworden.«3

Ein Kollege aus dem VEB Keramische Werke in Hermsdorf, [Bezirk] Gera: »Ob wir zur Wahl gehen oder nicht, das bleibt sich gleich, denn es wird ja doch so bleiben wie es ist. Wir bleiben Arbeiter bis wir verrecken.«

Ein Gusskontrolleur aus dem VEB Metallgusswerk Leipzig: »Ich weiß schon, was ich zur Wahl machen werde. Ich will versuchen, meinen Stimmschein ungültig zu machen. Jetzt müssen wir uns im Hintergrund halten. Aber wenn es einmal soweit ist, dann sind wir an der Spitze.«

Im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin«, [Bezirk] Frankfurt/Oder, verhält sich ein großer Teil der Werktätigen uninteressiert und abwartend zur Volkswahl. Die Argumente, dass wir keine freien Wahlen durchführen und dass die Wahl keine Auswirkungen auf die Einheit Deutschlands hat, sind in diesem Werk stark vertreten. Vonseiten der Partei wird die Aufklärung nicht ernst genug genommen. Von verschiedenen Arbeitern und Funktionären wird die Meinung vertreten, dass »keine besonders große Arbeit in der Aufklärung zur Volkswahl geleistet werden braucht«, da bestimmt schon alle Vorbereitungen getroffen wären, um die Wahl richtig ausgehen zu lassen. Bei der Reichsbahn im Bezirk Frankfurt/Oder tauchen die gleichen Meinungen auf.

Über das Schreiben des Hohen Kommissars der UdSSR Puschkin4 wird nur ganz vereinzelt diskutiert.5

Über die Explosionskatastrophe in Bitburg/Eifel6 wird von den Werktätigen wenig diskutiert. Ausschließlich positiv. Veränderungen gegenüber dem Vortage sind nicht aufgetreten. Bei diesen Diskussionen bringen die Arbeiter ihre Empörung zum Ausdruck und verurteilen die Kriegsvorbereitungen auf deutschem Boden und fordern ernsthafte Verhandlungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.

Aus dem Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« Rudolstadt, [Bezirk] Gera, ist die Forderung nach der 42-Stunden-Woche aufgetreten. Es wurde sogar eine Liste herumgereicht, in der sich die Interessenten einzeichnen sollten.

Auf der Großbaustelle in Trattendorf, [Bezirk] Cottbus, sind Gerüchte im Umlauf, dass alle Beschäftigten ein Trennungsgeld in Höhe von DM 7,00 täglich erhalten. Auf der Baustelle Industriebau im Braunkohlenwerk »John Schehr« in Laubusch, [Bezirk] Cottbus, fordern die Angehörigen der Bau-Union Cottbus anstelle von 4,00 DM jetzt 5,50 DM Trennungsgeld.

Im Energiebezirk Nord, Wismar, [Bezirk] Rostock, sind die Arbeiter sehr verärgert, weil das Werkküchenessen verteuert wurde, da angeblich nicht genug Mittel aus dem Direktorenfonds zur Verfügung stehen. Der technische Leiter aus Rostock erhielt andererseits einen Zuschuss in Höhe von 560 DM für einen Kuraufenthalt. Dies ist den Arbeitern bekannt und sie führen darüber negative Diskussionen.

Der VEB »Heinrich Rau«,7 [Bezirk] Potsdam, wird von den Arbeitern in Bezug auf die Fahrgelderstattung betrogen. Vor dem neuen Kurs8 kostete eine Fahrkarte von Wildau nach Halbe DM 5,00. Jetzt nur noch DM 3,60. Da die Reichsbahn immer noch die alten Fahrkarten hat, auf denen der alte Preis von DM 5,00 angegeben ist, lassen sich die Arbeiter anstatt der wirklich gezahlten DM 3,60 DM 5,00 auszahlen. Durch diesen Betrug sind schon unzählige Gelder dem Betrieb verloren gegangen, weil ein ziemlich großer Prozentsatz der Kollegen aus der Richtung Halbe kommt.

Waggonmangel

Wegen Waggonmangel musste die Produktion in der Margarinefabrik »Milka« in Pratau, [Kreis] Wittenberg, [Bezirk] Halle, am 1.10.[1954] eingestellt werden.

Große Schwierigkeiten bestehen im Augenblick im Kreisgebiet Nebra, [Bezirk] Halle, in der Bereitstellung mehrerer Waggons vonseiten der Reichsbahn. Obwohl der VEAB Freiburg Waggons zum Abtransport von Winterkartoffeln zugesagt waren [sic!], wurde dieses Abkommen von der Reichsbahn nicht eingehalten.

Im VEB Holzindustrie in Wittstock, [Bezirk] Potsdam, stehen 182 Küchen zur Auslieferung bereit. Dafür wurden vor ca. vier Wochen 28 Waggons bei der Reichsbahn angefordert. Bis jetzt wurde aber noch nicht ein einziger Waggon gestellt. Da der Betrieb über keinerlei Lagerräume verfügt, besteht die Gefahr, dass die Produktion eingestellt werden muss.

Vertragsannullierung

Der VEB »Abus« – Niedersedlitz,9 [Bezirk] Dresden, hatte vom Ministerium für Eisenbahnwesen einen Auftrag zur Herstellung von 460 Güterwagen erhalten. Später wurde dieser Auftrag auf 200 Güterwagen gekürzt. Als der Betrieb bereits die Produktion begonnen hatte, wurde der gesamte Auftrag annulliert. Als Begründung wurde angeführt, dass das Ministerium einen beträchtlichen Betrag von Investgeldern an die Regierung zurückgeben musste und lediglich 3 Millionen DM zurückbehalten konnte, um die Annullierung des Auftrages durchzuführen. Unter der Belegschaft des Betriebes wird die Meinung vertreten, dass es unverantwortlich ist, 3 Millionen DM auszugeben, wo doch Güterwagen in der DDR dringend gebraucht werden. Im Betrieb wurde in dieser Angelegenheit eine Ministerratsvorlage ausgearbeitet. Unter Verantwortung des Ministeriums für Schwermaschinenbau wird zunächst die Produktion weitergeführt bis ein Ministerratsbeschluss vorliegt.

Materialschwierigkeiten

Im VEB Trikotagenwerke »Spree« ist zu verzeichnen, dass die Garnlieferung stockend ist und eine schlechte Spulung aufweist, was zu Webfehlern in der Weberei führt.

Im RAW Cottbus ist die Belieferung von Kesselblech (25 mm) sehr gespannt. Die Versuche von anderen RAW, im Rahmen der gegenseitigen Hilfe Bleche in diesen Abmessungen zu bekommen, verliefen bisher ohne Erfolg.

Im Kraftwerk Neumark, [Bezirk] Halle, fehlt es an Turbinenöl. Ein weiterer Engpass sind die Bürsten an den Schleifriemen der großen Turbine. Im Kraftwerk Zschornewitz mangelt es an Kollektorkohle.

Produktionsstörung

Am 28.9.1954 brach im Zellstoffwerk Pirna, [Bezirk] Dresden, ein Großbrand aus. Der Schaden beträgt 1 Million [DM].

Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohlen bestehen teilweise in den Bezirken Dresden und Halle. Desgleichen in Oberschlema, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Dort erklärte ein Kumpel vom Schacht 4 in Oberschlema, Wismut,10 dass er und 68 weitere Familien ihre Kohlen bereits im Februar beim Konsum in Oberschlema angemeldet haben. Der Geschäftsführer des Konsums begründet die Nichtbelieferung mit dem Mangel an Reifen. Der Konsum besitzt 41 Fahrzeuge, wovon 30 wegen Reifenbeschädigungen nicht einsatzfähig sind. Der Kumpel sagt: »Das ist eine sehr schlechte Arbeit des Konsums, jetzt, kurz vor dem Winter, die Kohlenscheine zurückzugeben.«

In einigen Orten des Kreises Bautzen, [Bezirk] Dresden, ist die Kohlenbelieferung erst zu 55 Prozent und im Kreis Meißen, [Bezirk] Dresden, erst zu 60 Prozent erfolgt. Dies hat eine Verärgerung in der Bevölkerung zur Folge.

Im Bezirk Halle ist die Belieferung mit Rohbraunkohle schlecht.

Der kommunale Großhandel in Berlin klagt über den Mangel an Arbeitskräften für die Kartoffel-Einkellerungsaktion. Es fehlen 200 Arbeiter. Aus diesem Grunde entstehen hohe Unkosten an Standgeldern.

Im Großhandelskontor für Haushaltswaren Berlin sind folgende Überplanbestände vorhanden: Elektrische Koffernähmaschinen ›Freia‹ für ca. 566,6 TDM, Kunststoff-Eimer, -Schüsseln, -Einweckringe, -Kämme für 226 TDM, Seilerwaren für ca. 266,6 TDM.

Im Kreis Dessau, [Bezirk] Halle, sind Überplanbestände an Speiseöl vorhanden. Mangel an Speiseöl hat der Bezirk Suhl.

Speck fehlt teilweise in den Bezirken Erfurt und Suhl, Eier in Erfurt, Suhl, Halle und Berlin, Fleisch teilweise in Cottbus, Schwerin und Halle, Fischwaren im Wismutgebiet und Halle. Nährmittel in Suhl und Halle. Süßwaren in Dresden und Halle, Winterbekleidung, Textilien im Wismutgebiet und Halle.

Papiermangel besteht in Suhl, Dresden, Berlin. Im Bezirk Dresden ist ein großer Engpass an Packpapier (Fettpapier) zum Einwickeln von Butter und Schmalz vorhanden.

Im gesamten Kreisgebiet von Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, fehlt Zucker für die Versorgung der Bevölkerung. In Magdeburg ist genügend Zucker vorhanden, jedoch kann er nicht zur Verfügung gestellt werden, weil die Reichsbahn keine Waggons bereitstellt, da dies drei Monate vorher eingeplant werden muss.

Landwirtschaft

Die positive Einstellung zur Volkskammerwahl wurde durch eine Reihe weiterer Verpflichtungen zum Ausdruck gebracht, an denen sich hauptsächlich der sozialistische Sektor der Landwirtschaft beteiligt. Die feindlichen Stimmen sind weiterhin gering. Teilweise liegt das auch daran, dass Groß- und Mittelbauern mit ihren politischen Meinungen zurückhaltend sind.

Drei Großbauern aus Burow und Marnitz, [Bezirk] Schwerin, äußerten: »Wenn die sowjetischen Truppen nicht hier wären, hätte man unsere Staatsfunktionäre schon lange aus dem Lande herausgejagt.«

Stellenweise wird die Bedeutung der Wahl nicht erkannt, was auf die mangelnde Aufklärung zurückzuführen ist. Ein Bauer aus Borgisdorf, [Bezirk] Potsdam, sagte: »Ich kann an der Wahl doch nichts ändern. Ob ich da hingehe oder nicht, die drüben im Westen machen ja doch was sie wollen und meine Stimme ändert nichts.«

Über die Oder-Neiße-Friedensgrenze im negativen Sinne wird oft in den Bezirken Frankfurt und Neubrandenburg diskutiert. Ein Mittelbauer aus Zarenthin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Atombombe ist ausschlaggebend. Wenn es noch nie gerasselt hat, wird es jetzt rasseln. Die Polen müssen raus aus unserem Land, damit wir unser Land wieder zurückbekommen. Bisher habe ich in der DDR schlecht gelebt. Auf friedlicher Basis bekomme ich meinen Boden dort nicht wieder, sondern nur durch Krieg.«

Eine Interesselosigkeit bei der Einsicht in die Wählerlisten ist insbesondere im Bezirk Neubrandenburg zu verzeichnen. In Loitz, [Bezirk] Neubrandenburg, vertreten viele Einwohner die Meinung, dass es nicht notwendig sei, dass die Wählerlisten in den kleinen Gemeinden ausliegen. Wenn sie bei der Volksbefragung11 auf der Liste gestanden hatten, müssten sie auch jetzt noch draufstehen. Außerdem kennt ja einer den anderen und der Bürgermeister kann anstreichen, wenn einer fehlt.

In der Gemeinde Kublank, [Bezirk] Neubrandenburg, nahmen erst 42 Personen von 302 Stimmberechtigten Einsicht in die Liste.

Eine feindliche Einstellung gegen die SED wurde in Teichwitz, [Bezirk] Gera, festgestellt. Der dortige Bürgermeister (CDU, ehemaliger Nazi) sagte zu dem Vorschlag, einen Genossen der SED in den Wahlausschuss aufzunehmen: »Wenn der [Name] (einziges Mitglied der SED in diesem Ort) mit in den Wahlausschuss kommt, werden alle dagegen stimmen.«

In der Gemeinde Krummin, [Kreis] Wolgast, [Bezirk] Rostock, herrscht eine sehr schlechte Stimmung unter den Bauern, weil von einem Instrukteur die Gemeinde-SED-Fraktion zusammengerufen wurde und diese beschlossen hat, dass alle Bauern ihr Soll bis zum 17.10.[1954] abzuliefern haben. Hierdurch wurden in der Gemeinde Stimmen laut, dass sie ihre Stimme nicht der SED geben werden.

Unzufriedenheit über Mängel

Von den MTS-Stationen im Bezirk Potsdam kommen immer wieder Klagen, dass die Kartoffelroder »Schatzgräber« den Anforderungen nicht entsprechen. Es platzen die Schrauben weg oder die Siebe gehen entzwei. Das wurde am 1.10.[1954] aus den MTS Rhinow und Ziesar erneut bestätigt.

Große Verärgerung besteht unter den Bauern verschiedener Gemeinden des Kreises Weißwasser, weil sie ihre Kartoffeln für die Pflichtablieferung zzt. nicht loswerden. Die Ursache dafür ist die mangelhafte Waggonbestellung. Die BHG Lodenau, [Bezirk] Cottbus,12 hat dadurch 2 000 Ztr. Kartoffeln zu liegen und keinen Platz mehr für neue Lieferungen. Im Kreis Jessen sind die Bauern darüber verärgert, dass sie umsonst den Weg zum Bahnhof machen mussten, weil die Reichsbahn die bestellten Waggons nicht geliefert hat.

In einer Versammlung in Seedorf,13 [Bezirk] Schwerin, kam es zur Sprache, dass 50 Prozent der dortigen Wirtschaften durch die Unwetterkatastrophe14 in Notlage geraten sind und dass die Vertreter des Kreises Lübz sich um diese Gemeinden noch nicht bemüht haben. Die Einwohner bezeichnen deshalb ihren Ort als ein vergessenes Dorf.

Der Bürgermeister der Gemeinde Gollmitz, [Bezirk] Neubrandenburg, berichtet, dass auf den Feldern des Örtlichen Landwirtschaftlichen Betriebes15 im Ort noch 5 ha Roggen auf den Feldern stehen, welches vollkommen verdorben ist. Der Leiter dieses Betriebes ist ein ehemaliger Großbauer.

In der MTS Prischwitz, [Bezirk] Dresden, wird das Gerücht verbreitet, dass bei der kommenden Wahl die Stimmzettel kleine Nummern tragen werden, sodass beim Auszählen festgestellt werden kann, wessen Stimmzettel es ist.

Übrige Bevölkerung

Auch unter der übrigen Bevölkerung ist die Stimmung zur Volkswahl überwiegend positiv, jedoch ist der Umfang der Stellungnahmen noch immer gering. Die positiven Äußerungen stammen größtenteils von Hausfrauen, Rentnern sowie von Verwaltungsangestellten, nur vereinzelt von Handwerkern. Immer wieder wird betont, dass sie Vertrauen zur Regierung haben und als Beweis dafür werden sie ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front16 geben.

Negative Diskussionen über die Volkswahl werden vorwiegend in bürgerlichen Kreisen geführt. Dabei tritt immer wieder das Argument auf, dass durch die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste die Wahl nicht demokratisch sei. Zum Beispiel sagte ein Apotheker aus Oberlungwitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Für uns, die wir schon sehr viele Lebenserfahrung und Erfahrung auf politischem Gebiet haben, ist eine Wahl, wie sie hier durchgeführt wird, vollkommen undemokratisch. Man kann dabei nicht seine Interessen vertreten, sondern muss wohl oder übel die kommunistische Übermacht über sich ergehen lassen.«

Ein Handwerker aus Liebenwerda, [Bezirk] Cottbus: »Ich kann die einheitliche Wahlliste nicht anerkennen, weil dadurch die Wahl nicht demokratisch ist, und da sich dadurch kein Verhältnis der einzelnen Parteien untereinander zeigt.«

Bei den Vorbereitungen zur Volkswahl zeigt sich verschiedentlich, dass Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien entweder nur sehr schlecht mitarbeiten oder zum anderen eine Mitarbeit vollkommen ablehnen. Zum Beispiel ist in fast allen Ortschaften des Kreises Meiningen, [Bezirk] Suhl, eine schlechte Arbeit vonseiten der bürgerlichen Parteien zu verzeichnen. Es gibt sogar Ortschaften, wie Oepfershausen und Dreißigacker, wo diese Parteien eine Mitarbeit direkt ablehnen.

In einer Gemeindevertretersitzung in Spaatz, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, wurde die Besetzung der Aufklärungslokale besprochen. Dabei äußerte der Bürgermeister (LDP), das sei Sache der SED, denn die hätten ja die Wahl gewollt.

Trotz mehrmaliger Aufforderung der Ortsgruppe der NDPD in Schenkenberg, [Kreis] Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, an den Blocksitzungen teilzunehmen, kamen die Mitglieder dieser Aufforderung nicht nach. (Ähnlich verhält es sich in der Gemeinde Görke, [Kreis] Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, mit den Mitgliedern der CDU.)

In der Gemeinde Werder, [Bezirk] Neubrandenburg, Kreis Altentreptow, äußerte der Schulleiter, dass fast kein Bürger das Aufklärungslokal aufsucht und dass dadurch der Beweis erbracht wäre, dass der größte Teil der Bevölkerung kein Interesse an der Volkswahl hätte.

Der Bürgermeister der Gemeinde Storkow, [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, hatte das Aufklärungslokal verschlossen mit der Begründung: »Warum soll dort jemand sitzen, es kommt doch niemand zur Einsicht.«

In Hohengandern, [Kreis] Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt (500-m-Sperrgebiet) werden Diskussionen geführt, dass erst einmal die Kirche geöffnet werden soll, damit sie jederzeit die Kirche aufsuchen könnten. Erst wenn dies geschehen ist, würde man zur Wahl gehen. (Den Gläubigen ist es nur möglich, aller 14 Tage zur Kirche zu gehen.)17

Aus den Kreisen der Kirche: Von der Nationalen Front wurden im Bezirk Schwerin eine Reihe Pastoren für die Vorbereitungsarbeiten zur Volkswahl herangezogen. Der Landesbischof Dr. Beste18 (nahm an der Weltkirchenratstagung in den USA teil!)19 veranlasste, dass sich die Pastoren nicht in Gespräche anlässlich der Volkswahlen einlassen sollten. Durch diese Unterdrückung der freien Meinung haben bereits sechs Pastoren um ihre Versetzung in andere Bezirke der DDR nachgesucht. Des Weiteren wurde in dieser Anweisung gesagt, dass Verstöße mit Entlassung aus dem Kirchendienst geahndet werden. Dessen ungeachtet erklärten sich verschiedene Pastoren bereit, ihre Mitarbeit der Nationalen Front nicht zu versagen.

In Beerendorf,20 [Kreis] Greifswald, [Bezirk] Rostock, erklärte der Pfarrer den Kindern in der Schule: »Ihr seid alle keine Deutschen, sondern ›Russen‹. Wir hier in der DDR mit 18 Mio. Menschen sind noch weit zurück hinter dem Eisernen Vorhang.«

Ebenso wie bei der Volksbefragung lehnen auch jetzt wieder Anhänger der Sekte »Zeugen Jehovas«21 ab, zur Wahl zu gehen. Zum Beispiel äußerte eine Hausfrau aus Stresow, [Kreis] Burg, [Bezirk] Magdeburg: »Wir gehen nicht zur Wahl, denn wir warten auf das Reich, das uns Jehova gibt.«

Im Stadtbezirk West [in] Magdeburg treten die Bibelforscher stark in Erscheinung und bringen offen zum Ausdruck, dass der Friede von Gott ausgeht und der Krieg von Gott gewollt ist.

Aus dem demokratischen Sektor von Berlin

Bei den Diskussionen über die Volkswahl im Haupttelegrafenamt treten einige Kollegen mit negativen Diskussionen hervor. Zum Beispiel sagte ein Kollege zu einem anderen: »Hör bloß mit Volkswahlen auf! Ich kann schon gar nichts mehr davon hören. Gott sei Dank, dass ich in Urlaub gehe, da werde ich ja wohl verschont bleiben. Die müssen doch große Angst haben, sonst würden sie doch nicht so viel Reklame machen.«

Eine Kollegin: »Wahl ist immer Betrug, das war früher so, das ist im Westen so und hier auch. Ich habe noch von der Wahl von 1950 genug.22 Da hättet ihr in der Zone wählen sollen, das war alles andere, aber keine Wahl.« Auf die Äußerung hin, dass es gar keine richtige Wahl sei, da die Parteien nicht einzeln aufgestellt sind und man dadurch niemanden ablehnen kann und ungültig machen, getraue sich auch keiner, erwiderte eine Kollegin: »Ungültig würde ich auch nicht machen, man weiß ja nie, ob nicht die Wahlzettel gezinkt sind. Es ist doch jeder mit einer Nummer in der Wahlliste eingetragen. Die können ja für jede Nummer einen Wahlzettel zinken.« Dazu meinte eine andere Kollegin: »Bei jedem können sie es ja nicht machen, aber vielleicht bei denen, die sie gerade auf dem Kieker haben.«

Zum anderen bestehen auch Unklarheiten über den Charakter der Wahl. Zum Beispiel sagte ein Kollege: »Genau weiß ich auch nicht, was man wählt. Ich nehme an, es wird so wie 1950 sein, da mussten wir wohl ungefähr fünf Kandidaten ankreuzen.«

In einem Gespräch über die Wahlen sagte ein SPD-Genosse:23 »Da die SPD keine Kandidaten aufgestellt hat für die Wahlen im Oktober, kann auch keine Wahlpflicht bestehen. Bei der Wahl in Schleswig-Holstein hat die KPD 2½ Prozent Stimmen erhalten.24 In der DDR ist der Anteil selbstverständlich bedeutend höher, wenn aber auch hier die SED nur 2½ Prozent der Stimmen erhalten würde, wäre sie trotzdem maßgeblich und es kann somit keine parlamentarische Zusammenarbeit entstehen. Das ist auch der Grund dafür, dass die SPD keine Kandidaten aufgestellt hat. Es gibt zwar hier verschiedene Parteien, und jede glaubt, eine bestimmte Richtung zu vertreten, sie stehen aber alle nach dem Prinzip ›Teile und herrsche‹ unter SED-Kontrolle.«

Ein anderer SPD-Genosse äußerte: »Unsere Genossen werden jetzt zur Volkswahl in den Betrieben angesprochen. Die meisten der Angesprochenen stehen den Argumenten hilflos gegenüber, da die Argumente stimmen, aber sie nicht über ihre Parteidisziplin hinwegkommen. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, und zwar, auf eine Verständigung der Parteiführer hinzuweisen und jede weitere Diskussion abzulehnen. Bei diesen Befragungen in den Betrieben hat sich weiter gezeigt, dass meistens Unterschriften gegeben und ›Parteispitzeldienste‹ von Genossen ausgeführt werden, die schon lange keine Mitgliederversammlungen mehr besuchten«.

Der Stand der Einsichtnahme in die Wählerlisten in den Bezirken bis einschließlich 29.9.1954 betrug:

  • Rostock#tab#tab57,9 %

  • Potsdam#tab#tab66,0 %

  • Cottbus#tab#tab75,0 %

  • Halle#tab#tab#tab65,2 %

  • Gera#tab#tab#tab69,8 %

  • Dresden#tab#tab57,9 %

  • Karl-Marx-Stadt#tab53,3 %

  • Schwerin#tab#tab69,4 %25

  • Frankfurt#tab#tab88,1 %

  • Magdeburg#tab#tab70,1 %

  • Erfurt#tab#tab67,6 %

  • Suhl#tab#tab#tab64,5 %

  • Leipzig#tab#tab48,5 %

  • Berlin#tab#tab23,1 %

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:26 Potsdam 687, Karl-Marx-Stadt 638, Suhl größere Mengen, Frankfurt/Oder 300, Gera, Dresden, Neubrandenburg und Cottbus einige.

KgU:27 Potsdam 45 000, Berlin 1 000, Cottbus ca. 100 000. Inhalt: Aufforderung an die Kandidaten oder den Volkskammerpräsidenten, Schreiben zu schicken mit großen Buchstaben, in denen steht »Nein! Zum 17. Oktober 1954«.

Der Inhalt der vorgenannten Flugblätter richtet sich überwiegend gegen die Volkswahl.

NTS:28 Potsdam 16 662, Leipzig 4 000, Schwerin 2 000, Halle 1 000, Cottbus 500, Gera 70, Karl-Marx-Stadt 87, Dresden 45.

ZOPE:29 Frankfurt/Oder 50, Dresden einige.

[In] tschechischer Sprache: Dresden einige.

»Freie Junge Welt«:30 Potsdam 250.

Unbek[annter] Herkunft: Potsdam 9 000. Inhalt: »Freie Wahlen«.

Die Hetzschriften wurden mit Ballons eingeschleust und meist sichergestellt.

In einem Abteil des D-Zuges von Halle nach Merseburg wurden Hetzschriften in russischer Schrift aufgefunden.

In der Schiffsschlosserei der Warnowerft Warnemünde wurde auf einem DIN-A-5-Bogen31 eine mit der Hand geschriebene Schmiererei gegen die Volkswahl gefunden.

Antidemokratische Tätigkeit

In Guben, [Bezirk] Cottbus, wurden einige Bekanntmachungskästen aufgebrochen und das Agitationsmaterial herausgenommen und zerrissen. Außerdem wurden verschiedene Wahllosungen abgerissen.

Im VEB Baumwollspinnerei Zschopauthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde im Kasten für Verbesserungsvorschläge ein Zettel gefunden mit dem Inhalt: »Nieder mit dem Kommunismus! Heil Hitler! Nieder mit den Ausbeutern, Heil Hitler!«32

Von unbekannten Tätern wurde wiederholt im Funkhaus Wöbbelin, [Bezirk] Schwerin, die Wandzeitung durch Zusätze von Worten und Zahlen entstellt; des Weiteren wurde eine Losung zur Vorbereitung der Volkswahlen beschmiert.33

In Kröpelin, [Bezirk] Rostock, wurde eine Hetzlosung mit dem Inhalt: »Fort mit der SED« angeschmiert.

Gefälschte Schreiben werden im Bezirk Karl-Marx-Stadt verstärkt verbreitet, die vom Nationalrat34 kommen und den bereits bekannten Inhalt haben, freiwillige Normenerhöhungen während Belegschaftsversammlungen zur Volkswahl zu übernehmen.

Einen fingierten Anruf erhielt der Bürgermeister der Gemeinde Mühlenbeck, Kreis Oranienburg, [Bezirk] Potsdam, wonach sämtliche Versammlungen für längere Zeit ausfallen sollen.35

In der Bezirksmilchverwertung Großenhain, [Bezirk] Dresden, wurden an den Zentrifugen verschiedene Verschlusshebel und Ventile aufgedreht bzw. verstellt. Dadurch lief die Sahne zur Maschine zurück und durch den Gegendruck zerplatzte das Sahnerohr. Außerdem lief die Sahne auf den Erdboden. Täter unbekannt.36

Vermutliche Feindtätigkeit

In der LPG Burgsdorf, Kreis Eisleben, [Bezirk] Halle, verendete ein junger Bulle und mussten zwei Kühe notgeschlachtet werden. Vermutlich handelt es sich um eine Vergiftung.

Auf dem Bahnhof Görlitz wurde beim Entladen eines Kollerganges37 festgestellt, dass die Teile durch den Transport beschädigt waren. Der Kollergang war vom VEB Kema38 bei der Messe ausgestellt und sollte an die SU exportiert werden.

Anlage vom 2. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2329

Auswertung von Hetzschriften

Der sogenannte Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen39 versendet auf dem Postwege an Bürger der DDR Hetzschriften mit der Überschrift »Volkswahlen – Volksbetrug«. Die Hetzschrift richtete sich in der bekannten Art gegen die Einheitsliste und gibt Hinweise über die Behandlung der Wahlscheine, wo es u. a. heißt, dass der Stimmzettel »nach Möglichkeit« mit einem »Nein« überschrieben werden soll.

Weitere Ausführungen richten sich an die Mitglieder der Wahlvorstände und -ausschüsse. Diese sollen sich keiner Wahlfälschung schuldig machen, da dies als kriminelles Delikt verfolgt wird, und es wird gewarnt: »Jedes Mitglied eines Wahlvorstandes oder Wahlausschusses muss also bei einem Übertritt in die Bundesrepublik, spätestens aber nach der Wiedervereinigung Deutschlands, damit rechnen, vor Gericht gestellt zu werden, wenn es einen Wahlbetrug verübt, veranlasst oder sich an ihm beteiligt hat.« Es heißt dann weiter, dass ein Mitglied eines Wahlvorstandes Mitteilung an den UFJ machen soll, wenn es zur Wahlfälschung gezwungen wurde, »damit das Vorliegen des Notstandes für später glaubhaft gemacht werden kann«.

An die Bevölkerung selbst ergeht noch der Aufruf, Wahlfälschungen dem UFJ unter genauer Angabe der »Schuldigen« mitzuteilen.

Gefälschte Schreiben

Mit dem Absender »Zentralverband der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft40 – Abteilung Agitation –« werden an Bürger der DDR gefälschte Schreiben versandt, die in ihrem Inhalt Verleumdungen gegen die Sowjetunion, die DDR und das SfS aussprechen.

An Kreis- und Ortsausschüsse der Nationalen Front, an Ortsausschüsse des Deutschen Friedensrates41 und an Ortsgruppen des Kulturbundes wurden mit dem Absender »Nationalrat …« »Prof. Gerhart Eisler42 …«, »Deutscher Friedensrat« und »Kulturbund …« gefälschte Schreiben übersandt, in denen die Empfänger angewiesen werden, Vorbereitungen für Versammlungen bzw. Filmvorführungen an einem bestimmten Tag zu treffen, da entsprechende Referenten – z. B. Schmidt-Wittmack,43 Prof. G. Eisler u. a. – in dem jeweiligen Bereich sprechen sollen.

Alle gefälschten Schreiben verfolgen das Ziel, dass Vorbereitungen für Veranstaltungen getroffen werden, die Bevölkerung eingeladen wird und dann Unzufriedenheit unter den Teilnehmern entsteht, wenn die angekündigte Veranstaltung nicht durchgeführt wird.

Mit dem Absender »Nationalrat der Nationalen Front« werden den Kreisausschüssen der Nationalen Front gefälschte Schreiben übersandt, in denen »in Ergänzung des Wahlaufrufes Richtlinien ergehen«. Die »Richtlinien« verfolgen das Ziel, andere Probleme in die Diskussion zu werfen, als die, die gegenwärtig unsere Agitation bestimmen. Im Vordergrund steht dabei die Steigerung der Arbeitsproduktivität bzw. die Erhöhung der Normen. Die »Richtlinie« fordert, dass »alle Transparente und Losungen auf diese Punkte abzustellen« sind.

Weiter heißt es, dass wöchentlich zwei Veranstaltungen in allen Betrieben und Verwaltungen durchzuführen sind, die, »um vollzählige Teilnahme zu garantieren, während der Arbeitszeit« abzuhalten sind. Dazu heißt es abschließend: »Im Anschluss an die Veranstaltungen muss eine einstimmige Forderung der Betriebsbelegschaften zur Normenerhöhung auf freiwilliger Basis erreicht werden.«

Ein weiterer Punkt dieser »Richtlinie« beschäftigt sich mit der Werbung zur KVP44 und es wird angewiesen, alles zu unternehmen, um freiwillige Meldungen zu erreichen. Es heißt dazu u. a.: »Spontane Beitrittserklärungen zur Nacheiferung für in der Privatindustrie tätige Jugendliche sind in Presse und Rundfunk zu publizieren.«

  1. Zum nächsten Dokument Zur Beurteilung der Situation

    4. Oktober 1954
    Informationsdienst Nr. 2330 zur Beurteilung der Situation

  2. Zum vorherigen Dokument Zur Beurteilung der Situation

    1. Oktober 1954
    Informationsdienst Nr. 2328 zur Beurteilung der Situation