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Zur Beurteilung der Situation

21. April 1954
Informationsdienst Nr. 2185 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Die Diskussionen über den IV. Parteitag der SED lassen weiterhin nach.1 In den nur noch ganz vereinzelt bekannt gewordenen Stimmen wird meist Zustimmung zur Beibehaltung der Lebensmittelkarten geäußert.2 Teilweise wird eine gewisse Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, da man eine Preissenkung, Erhöhung der Rationen oder Abschaffung der Lebensmittelkarten erwartet hatte. In den Reihen der Intelligenz ist eine politische Uninteressiertheit am stärksten zu verzeichnen. Über die politische Bedeutung des IV. Parteitages wird größtenteils nur von Mitgliedern unserer Partei gesprochen. Durch die teilweise in den Betrieben durchgeführten öffentlichen Parteiversammlungen, zur Auswertung des IV. Parteitages, werden positive Diskussionen ausgelöst. So sprach z. B. in einer Belegschaftsversammlung im VEB Simson in Suhl am 15.4.1954 Genosse Fred Oelßner.3 Die Diskussionen vor und nach der Versammlung zu den aufgeworfenen Fragen waren positiv.

Die Ausführungen des Genossen Hermann Matern4 in einer Versammlung des Karl-Marx-Werkes in Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, lösten unter den Kumpel lebhafte Diskussionen aus.5 Meist wurde Zustimmung und Begeisterung zum Ausdruck gebracht. Ein Arbeiter der Abteilung I sagte: »Matern hat uns aus dem Herzen gesprochen. Seine Ausführungen waren überzeugend und geben mir Ansporn in meiner Arbeit.«

Nur vereinzelte negative Stimmen wurden zum IV. Parteitag der SED bekannt. Ein Arbeiter vom Kreisbauhof Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Beschlüsse des IV. Parteitages brauchen wir nicht. Wir können auch ohne Beschlüsse leben.«

Über die amerikanischen Atom- und Wasserstoffbombenexperimente6 wird in geringem Maße diskutiert. Meist sprechen sich die Werktätigen gegen diese Vernichtungswaffe und gegen die USA aus. Teilweise nimmt man auch in diesem Zusammenhang zu den Ausführungen von Dibelius7 Stellung.8 Eine Arbeiterin vom VEB IKA AUFA Eisenach,9 [Bezirk] Erfurt: »Der Amerikaner ist niemals für die Erhaltung des Friedens, sonst würde er nicht durch Wasserstoffbombenversuche viele einfache Menschen ins Unglück stürzen. Die Weltöffentlichkeit muss gegen diese verbrecherischen Machenschaften einen gewaltigen Protest erheben, damit den Amerikanern die Lust vergeht, diese Grausamkeiten noch länger fortzusetzen.«

Ein Arbeiter aus den Holzwerken in Thale, [Bezirk] Halle: »Kein größeres katastrophaleres Unglück kann das deutsche Volk treffen, als ein neuer Krieg. Noch ernster und härter muss der Kampf gegen die Atombombenstrategen mit Dibelius an der Spitze geführt werden.«

In Vorbereitung auf den 1. Mai wurden verschiedentlich Verpflichtungen eingegangen. So wollen die Jugendlichen des Stahlwerkes Frankleben, [Bezirk] Halle, einen Planvorsprung von 30 Tagen erreichen. Die Kollegen des Reparaturbetriebes und der Gaserzeugung des Hydrierwerkes Zeitz, [Bezirk] Halle, werden zum 1. Mai [1954] den Reparaturplan vorfristig erfüllen. Eine Brigade des RAW Cottbus verpflichtete sich, zwei Lokomotiven kostenlos aufzuarbeiten.

Unzufriedenheit unter den Arbeitern wurde aus einigen Betrieben bekannt. Auf dem Bahnhof Bramow, [Stadt] Rostock, herrscht unter den Rangierarbeitern eine sehr schlechte Stimmung. Auf dem Bahnhof fehlt Rangierpersonal. Ein Rangierer erklärte dazu, dass er darüber angeblich mit dem Vizepräsidenten der Reichsbahndirektion gesprochen habe, der erklärte, dass das durch die Unterbesetzung eingesparte Geld als Prämien ausgezahlt werden müsse. Weiterhin erklärte der Rangierer, dass danach jeder Kollege 100 DM mehr erhalten muss. »Sollten wir diese Gelder nicht erhalten, so gehen wir.« Dieser Meinung schlossen sich die meisten Rangierer an.

In den Privatbetrieben des Kreises Luckenwalde sind die Kollegen mit dem Nachtschichtsystem nicht einverstanden. Man argumentiert z. B., dass die Kollegen dadurch krank werden und die Produktion zurückgeht. Die Ursache für diese Diskussionen liegt wahrscheinlich darin, dass eine Abteilung wegen schlechter Arbeitsorganisation drei Wochen hintereinander Nachtschicht fahren musste.

Im VEB Lederfabrik Hirschberg, [Bezirk] Gera, wird zzt. unter den Arbeitern darüber heftig diskutiert, dass sie nach Mitteilung der Kreisverwaltung Schleiz am 1. Mai 1954 nicht in Hirschberg (500-m-Zone) demonstrieren dürfen.10 Die Arbeiter sind der Meinung, dass sie dann in einem anderen Ort nicht demonstrieren werden.

Produktionsschwierigkeiten traten vereinzelt wegen Material- und Kohlenmangel auf. Im RAW Malchin, [Bezirk] Potsdam,11 besteht ein Mangel an U-Stahl, der aus Kirchmöser bezogen wird.

Im VEB Gespannfahrzeugbau Rathenow, [Bezirk] Potsdam, fehlen 12 000 Reifen, die durch das zuständige Fachministerium vom Kontingent gestrichen wurden. Dadurch kann der Produktionsplan nur zu 50 Prozent erfüllt werden.

Bei der Bahnmeisterei Treuenbrietzen, [Bezirk] Potsdam, fehlen Glas und Holz, um die im Bereich liegenden Bahnhöfe in Ordnung bringen zu können. In den Bahnbetriebswerken Seddin und Wustermark, [Bezirk] Potsdam, besteht ein großer Kohlenmangel. Der Dienstvorsteher des Bahnhofes Seddin teilte hierzu mit, dass manchmal so viel Kohle geliefert wurde, dass die Wagen nicht fristgemäß entladen werden konnten und ein anderes Mal wurde so wenig geliefert, dass der Bedarf nicht gedeckt wurde. Nach seiner Meinung liegt die Schuld bei der Hauptverwaltung Kohle und beim Ministerium für Eisenbahnwesen.

Handel und Versorgung

Im Bezirk Neubrandenburg bestehen weiterhin Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit HO-Fleischwaren, was sich auch auf die Belieferung mit Fleischwaren auf Marken auswirkt.

In einigen Kreisen des Bezirkes Halle besteht ein Mangel an Textilien. Besonders an Kleidern und Stoffen für die Übergangszeit. Außerdem wird über eine ungenügende Belieferung an HO-Fleisch und Fischwaren geklagt.

Landwirtschaft

Nach wie vor wird unter der Landbevölkerung wenig zu politischen Tagesfragen Stellung genommen. Nur noch ganz vereinzelt wird über Probleme des IV. Parteitages diskutiert. Ein Arbeiter der MTS in Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, äußerte zur Beibehaltung der Lebensmittelkarten: »Ich bin nicht dafür, dass die Marken abgeschafft werden, denn man muss sonst damit rechnen, dass die Waren dann teurer werden. Das würde besonders die Rentner sehr hart treffen.«

Ein LPG-Bauer aus Neddemin, [Kreis] Neubrandenburg, der an der Abschlussdemonstration in Berlin teilnahm,12 erklärte: »An der gewaltigen Demonstration konnte man ermessen, wie groß das Vertrauen der Werktätigen zur Partei der Arbeiterklasse ist. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Im Mittelpunkt der Gespräche stehen wirtschaftliche Probleme. Vorwiegend wurden Äußerungen über bestehende Mängel bekannt. Über Mangel an Arbeitskräften äußerte ein Großbauer aus Niendorf, [Bezirk] Cottbus: »Wir Großbauern werden uns auch zu einer Genossenschaft zusammenschließen müssen, wenn wir bei dem Arbeitskräftemangel die ganze Arbeit bewältigen wollen.«

Über die unzureichende Düngemittelzuteilung äußerte ein Kleinbauer aus Krayne, [Bezirk] Cottbus, in einer Versammlung, in der über den zweiten Fünf-Jahr-Plan gesprochen wurde:13 »Wir können gar nicht mehr erzeugen. Ihr gebt uns ja nicht mal genügend Ammoniak-Stickstoff.« Ein Bauer aus Kyritz, [Bezirk] Potsdam, äußerte bei einer Hofbegehung: »Wenn ihr mir Stickstoff gebt, könnt ihr auch Kartoffeln haben, wenn nicht, dann säure ich eben die Kartoffeln ein.«

In einer Versammlung in Marzahna, [Bezirk] Potsdam, riefen mehrere Bauern »wo bleiben unsere Futtermittel, warum werden wir nur verpflichtet unsere Verträge einzuhalten und warum der Staat nicht«.

Den örtlichen landwirtschaftlichen Betrieben im Kreis Sternberg, [Bezirk] Schwerin, fehlen noch ca. 300 Tonnen Saatkartoffeln und der LPG »Fritz Reuter« im Kreis Parchim, [Bezirk] Schwerin, noch ca. 1 500 Zentner. (Der Vorstand unternimmt aber nichts, um diese Mengen im Austausch zu beschaffen.)

In einigen Gemeinden des Kreises Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, sind Bauern verärgert, weil sie vom Rat des Kreises und von der SED aufgefordert wurden, mit dem Kartoffelpflanzen zu beginnen. Sie wollen aber erst den Frost vorbeilassen, da schon 4 ha Sommergerste erfroren sind.

Negative bzw. feindliche Stimmen über politische Probleme wurden nur vereinzelt bekannt. In einem Lokal in Greiz, [Bezirk] Gera, sagte der Hauptbuchhalter der MTS Langenwetzendorf zu einem eintretenden Genossen der SED: »Da kommt wieder ein Roter herein, die müssen alle erschossen werden.« (Er selbst ist Mitglied unserer Partei.)

Ein Großbauer aus Niendorf, [Bezirk] Cottbus: »Der neue Kurs ist schon wieder zu Ende.14 Die Politik richtet sich schon wieder gegen uns Große.«

Ein Vorsitzender einer LPG aus dem Kreis Dessau, [Bezirk] Halle, äußerte gegenüber LPG-Mitgliedern: »Seid vorsichtig bei uns mit Äußerungen. Die Staatsorgane sind sehr dahinter. Sie sollen sich nur in Mitgliederversammlungen äußern.«

Übrige Bevölkerung

Über politische Tagesfragen wird fast gar nicht diskutiert. Zum IV. Parteitag wurden nur noch ganz vereinzelt Stimmen bekannt; größtenteils wird von der übrigen Bevölkerung die Beibehaltung der Lebensmittelkarten begrüßt, nur ganz vereinzelt werden enttäuschte Stimmen bekannt. Ein Rentner aus Themar, [Bezirk] Suhl: »Es ist gut, dass die Marken noch nicht wegfallen, denn dadurch sind die wichtigsten Lebensmittel nicht zu teuer und stehen in großer Auswahl zur Verfügung.« Eine Hausfrau aus Ilmenau, [Bezirk] Suhl: »Ich begrüße den Vorschlag des Genossen Walter Ulbricht15 über die Beibehaltung der Lebensmittelkarten, wir sind noch nicht in der Lage, eine Angleichung der Preise zwischen HO und Konsum durchzuführen, so bekommen wir die nötigsten Waren auf Marken billiger.«

Im Bezirk Suhl tauchen immer wieder Diskussionen über eine Preissenkung auf, es wird damit begründet, dass die SAG-Betriebe nun Eigentum des Volkes sind und deshalb eine Senkung besonders für Fleisch, Fett, Bettwäsche und Anderes möglich sein müsste.16 Eine Hausfrau aus Gera: »Es wäre nun endlich an der Zeit gewesen, dass die Lebensmittelkarten wegfallen, so wie man es uns versprochen hat.«17

Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen wirtschaftliche Belange. Eine Hausfrau aus Naundorf,18 [Bezirk] Cottbus, äußerte: »Die Marken sind nun ziemlich alle und in der HO gibt es kein Fleisch und keine Wurst mehr. Es wird immer schöner. Die Leute sind empört.«

Ein Objektleiter aus einer HO-Gaststätte in Frankfurt/Oder: »Seit einer Woche hat man den HO-Gaststätten das Kontingent für jegliche Fleischwaren gestrichen. Sicher wird das alles zum II. Deutschlandtreffen gebraucht.«19

Ein Gastwirt aus Rostock: »Es gibt nicht einmal Streichhölzer, aber Schnaps, den sie zur Verdummungspolitik brauchen, den gibt es in rauen Mengen.«

Ein parteiloser Schuhmacher aus Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erklärte zur Stellung des Chefs der Westberliner Spionageorganisation NTS20 Folgendes: »Es ist kein Wunder, dass sich derartige Elemente den Organen der Staatssicherheit stellen. Sie wissen genau, dass ihre Stunden, die sie dazu benutzen gegen die DDR zu arbeiten, gezählt sind.«21

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriften des SPD-Ostbüros:22 Halle 1 172, Potsdam 1 025, Karl-Marx-Stadt 280, Gera einige.

Hetzschriften der NTS: Halle 1 000, Potsdam 450, Karl-Marx-Stadt 645.

Hetzschriften des KgU:23 Cottbus 4 000, Potsdam 1 200, Karl-Marx-Stadt 200.

Bei dem Inhalt der Hetzschriften handelt es sich um den bereits bekannten.

Terror: Am 17.4.1954 wurde ein VP-Angehöriger bei einem Tanzvergnügen angegriffen und niedergeschlagen. Täter festgenommen (Grabow, [Bezirk] Schwerin).24

Hetzschriften erhielten im Bezirk Neubrandenburg Mitarbeiter des SfS.

Im Bezirk Frankfurt/Oder wurden an LPG-Mitglieder Drohbriefe gesandt.

Im Bezirk Schwerin wurden gefälschte Anweisungen an die MTS Zierow, [Kreis] Wismar,25 verschickt, worin aufgefordert wird, Delegierte zur Konferenz bzw. Aussprache nach Schwerin zu schicken.

Vermutliche Feindtätigkeit

In Aken, [Bezirk] Halle, brannte eine Scheune ab, dabei verbrannten 150 Ztr. Stroh. Der Schaden beträgt ca. 5 000 DM.

Einschätzung der Situation

In der Lage sind keine wesentlichen Veränderungen festzustellen.

Anlage vom 20.4.1954 zum Informationsdienst Nr. 2185

[Ohne Titel]

KgU droht Brigadieren und Aktivisten

Die KgU richtet sich in einem Schreiben an die Brigadiere und Aktivisten des »Thomas-Müntzer«-Schachtes.26 Darin wird den Aktivisten zum Vorwurf gemacht, sie hätten durch ihre Leistungen »einen Lohnstopp für die anderen Kumpel« verursacht. Sie werden aufgefordert: »Arbeite langsam und nur so viel, dass du und deine Familie leben kannst.« Dadurch will man erreichen, dass der Plan nicht erfüllt wird und die Produktion langsam vonstattengeht bzw. Stockungen eintreten. Durch die Drohung: »Dass eure mit Hass erfüllten Kumpel euch für eure unüberlegten Handlungen zur Rechenschaft ziehen werden«, sollen die Aktivisten für die Parole der KgU gefügig gemacht werden.

Gefälschte Anweisungen an die Räte der Bezirke

Der Klassenfeind beabsichtigt mit gefälschten Rundschreiben, die den Absender des Ministeriums für Arbeit tragen und an die Räte der Bezirke, Abteilung Arbeit gerichtet sind, diese zu falschen Anweisungen zu veranlassen. Damit will der Klassenfeind erreichen, dass die Arbeit im Verwaltungs- und Staatsapparat desorganisiert wird. Bei den vorliegenden gefälschten Rundschreiben handelt es sich um die Genehmigung von Überstunden im Fahrbetrieb der Molkereien, Brauereien usw. Es wird den Räten der Bezirke die »Anweisung« erteilt, »dass bei genauer Überprüfung der Anträge eine Genehmigung seitens des Rates des Bezirkes, Abteilung Arbeit erfolgen kann.«

Gegen Ablieferungssoll und LPG

In zwei kleinen Notizen der gefälschten »Wochenpost« (Nr. 12)27 wird gegen die Sollabgabe und gegen die LPG gehetzt. Man »warnt« die Bauern, ihre freien Spitzen28 nicht den staatlichen Erfassungsstellen zu verkaufen, weil sie dort »registriert« würden. Das hätte zur Folge, dass dann das Soll »erhöht« würde. Sie sollen ihre freien Spitzen privat verkaufen, weil da keine »Kontrolle« möglich ist. Zum anderen »warnen« sie die Bauern, in der LPG Funktionen zu übernehmen, da sie dann nicht mehr als politische Flüchtlinge anerkannt werden, wenn sie eines Tages vielleicht »gezwungen« sind, sich nach dem Westen abzusetzen.

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