Zur Beurteilung der Situation
28. Juni 1954
Informationsdienst Nr. 2247 zur Beurteilung der Situation
Stimmung zur Volksbefragung
Die Beteiligung und die Stimmung zur Volksbefragung1 kann allgemein als gut bezeichnet werden. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv und stammen aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen. Größtenteils wird darin zum Ausdruck gebracht, dass sie die Volksbefragung begrüßen, weil sie an der Erhaltung des Friedens stark interessiert sind. So sagte z. B. ein Kumpel aus dem Steinkohlewerk »Deutschland« in Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Zur Volksbefragung muss sich das arbeitende Volk in Ost und West einig sein, um den Kriegstreibern das Handwerk zu legen. Wir brauchen keine EVG,2 sondern einen Friedensvertrag, damit endlich auf der Welt Ruhe und Frieden einkehren.«
Eine Hausfrau (parteilos) aus Worbis, [Bezirk] Erfurt: »Die Mütter, die für den Generalvertrag und EVG stimmen, müssen sich über die Folgen gar nicht im Klaren sein, denn sie wählen damit Adenauer3 und das bedeutet Krieg.« Ein Angestellter (parteilos) aus Neustadt, [Bezirk] Gera: »Ich war heute früh gegen 9.00 Uhr im Abstimmungslokal. Ich war erstaunt, dass trotz des schlechten Wetters so viele Wähler sich eingefunden hatten, sodass ich ca. eine ¾ Stunde warten musste. Meiner Meinung nach müsste diese Wahl mit 100 Prozent für den Frieden abgeschlossen werden. Wenn sich ja ein Wähler für den EVG-Vertrag einzeichnen sollte, so macht er das nur aus Opposition, wobei diese Gegenstimme gar nicht ins Gewicht fällt.«
Ein Intelligenzler aus Greifswald: »Jeder anständige Deutsche müsste für den Frieden stimmen, denn das trägt dazu bei, dass die Atomkanonen aus Westdeutschland verschwinden.«4 Eine Genossenschaftsbäuerin der LPG Göhren-Döhlen, [Bezirk] Gera: »Ich selbst habe zwei Weltkriege erlebt und möchte nicht noch einen Dritten erleben. Gerade wir als Bauern haben immer für lange Zeit unter den Folgen eines Krieges zu leiden, da nach jedem Krieg eine Hungersnot folgt und von uns die Nahrungsmittel verlangt werden.« Ein Kleinbauer (parteilos) aus Volkmannsdorf, [Bezirk] Gera: »Man kann ja nur für den Frieden sein, denn ich habe den Zweiten Weltkrieg mitgemacht und will keinen Krieg mehr. Ich gebe darum schon heute meine Stimme für den Frieden.«
Es gibt viele Beispiele, wo die Hausgemeinschaften geschlossen zur Abstimmung gegangen sind. Eine ganze Reihe von Hausgemeinschaften der Wismutsiedlung,5 Münchner Straße in Dresden hatten bereits um 8.00 Uhr geschlossen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Das Sanatorium Kreischa der SVK Wismut ging geschlossen um 9.00 Uhr zur Abstimmung. Die Hausgemeinschaften der »Neuen Siedlung« der Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera, gingen in der Mehrzahl geschlossen zur Abstimmung. Die BSG »Motor« Neustadt, [Bezirk] Gera, marschierte geschlossen zum Abstimmungslokal und überreichte dem Abstimmungsleiter eine Friedensstafette.
Zu einem geringen Teil wurden Äußerungen bekannt, die zum Ausdruck bringen, dass die Volksbefragung zwecklos sei. Zum Beispiel erklärte ein Arbeiter (parteilos) aus Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wir brauchen gar nicht darüber zu reden, was die wollen, ist schon lange fertig. Die Großen sind sich einig und die Kleinen machen den Dummen. Wir gehen zur Volksbefragung, weil wir müssen, wir stimmen auch für den Frieden, aber Zweck hat es keinen.« Eine Hausfrau aus Berlin: »Die Volksbefragung hat keinen Zweck, da ja die Amis doch machen, was sie wollen, die Wahl kostet nur unnötiges Geld.«
Nur in ganz geringem Maße wurden negative bzw. feindliche Stimmen bekannt, meist aus bürgerlichen Kreisen sowie von großbäuerlichen Elementen. Der enteignete Besitzer der ehemaligen Ruppelwerke in Gotha,6 [Bezirk] Erfurt, äußerte sich gegenüber der Hausgemeinschaft, als sie ihn mit zur Abstimmung nehmen wollten: »Ich bin doch kein kleines Kind, den Weg finde ich selbst. Was ich zu wählen habe, weiß ich selbst, das braucht mir keiner zu sagen.«
Ein Angestellter aus den Fahrzeugwerken Waltershausen, [Bezirk] Erfurt: »Die gesamte Volksbefragung wird von der Regierung nur als Druckmittel benutzt. Wenn sie wieder 90 Prozent Stimmen erhalten, werden sie wieder straffere Methoden in der DDR einführen, wie sie es vor dem ›Neuen Kurs‹7 getan haben.«
Eine Hausfrau aus Wismar, [Bezirk] Rostock: »Bei dieser Wahl können sie das wohl noch so drehen, doch bei der nächsten, bei der richtigen Wahl,8 werden unserer Regierung die Augen übergehen.« Ein Malergehilfe aus Eisenberg, [Bezirk] Gera, äußerte gegenüber zwei Frauen, dass er nicht zur Abstimmung geht. Als er daraufhin von den Frauen aufmerksam gemacht wurde, dass man ihn eventuell holen würde, sagte er: »Die Personen, die mich abholen wollen, werfe ich die Treppe hinunter.«
Ein Rentner aus Jena, [Bezirk] Gera: »Es ist am besten, man macht in beide Kreise auf dem Abstimmungsschein ein Kreuz. Dadurch kommt jeder zu seinem Recht. Wir alten Leute werden sowieso nicht mehr lange leben und zu sagen haben wir auch nichts mehr.«
Ein Großbauer aus Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Naja, eine Wahl wie keine, wir wollen nur mitgehen, sonst fallen wir auf.« Ein Bauer aus Bossen,9 [Bezirk] Frankfurt: »Wir sollen den Frieden wählen, und damit auch die Russen. Man sieht es täglich, dass sie keine Kultur besitzen und uns wollen sie welche beibringen. Sie sollen aus Deutschland herausgehen, dann sind wir frei und können richtig leben.«
Vereinzelt wurden negative Stimmen gegen die Oder-Neiße-Grenze bekannt. Eine Neubäuerin aus Kletzin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Volksbefragung müsste in ganz Deutschland durchgeführt werden. Auch hinter der Oder-Neiße-Grenze, damit die Flüchtlinge wieder in ihrer Heimat kommen.«
Immer wieder werden Beispiele bekannt, dass sich Anhänger der verbotenen Sekte »Zeugen Jehovas«10 weigern, zur Abstimmung zu gehen. Zum Beispiel wurde bekannt, dass im Kreis Roda,11 [Bezirk] Gera, »Zeugen Jehovas« in einer Versammlung beschlossen haben, nicht zur Volksbefragung zu gehen, weil sie von einer Regierung, von der sie unterdrückt werden, nichts wissen wollen. In Lützow, [Bezirk] Rostock,12 äußerte eine Anhängerin der »Zeugen Jehovas«: »Wir gehen nicht wählen, trotzdem wir für den Frieden sind. Aber solange die Anhänger unserer Sekte hinter Schloß und Riegel sitzen, werde ich mich nicht beteiligen.«
Vereinzelt ist zu verzeichnen, dass am ersten Tage der Volksbefragung Wahllokale nicht pünktlich geöffnet wurden. Dies war z. B. in den Wahlbezirken 212 und 213 in Dresden der Fall. Trotzdem sich schon größere Menschenmengen angesammelt hatten, wurde das Wahllokal erst um 6.25 Uhr geöffnet, was zur Verärgerung der Bevölkerung führte.
Im Bezirk Lichtenberg-Berlin wurde nur 1/3 der Wahllokale pünktlich geöffnet, während der Hauptteil um 6.15 Uhr und der restliche Teil erst gegen 6.50 Uhr geöffnet wurde. Die Ursache dafür war, dass die Stimmlisten nicht rechtzeitig fertiggestellt waren, da man zu wenige Schreibkräfte eingesetzt hatte. Dies trifft auch auf den Bezirk Friedrichshain zu. Hier waren erst gegen 6.45 Uhr alle Wahllokale mit einer Abstimmungsliste versehen. Die zweite Wahlliste konnte erst im Laufe des Vormittags an die Wahllokale gegeben werden. Im gleichen Bezirk war außerdem zu verzeichnen, dass in den Mittagsstunden die Stimmscheine nicht ausreichten. Es wurden daher aus dem Bezirk Mitte welche ausgeliehen. Dadurch kam dieser Bezirk selbst in Schwierigkeiten.
In zwei Ortschaften des Kreises Stadtroda, [Bezirk] Gera, reichten die Stimmzettel nicht aus, sodass einige Wahlberechtigte nicht abstimmen konnten. Das ist auf das Versagen der Bürgermeister zurückzuführen, die nicht die genauen Zahlen der Wahlberechtigten feststellen ließen.
In mehreren Wahllokalen in Frankfurt/Oder und Fürstenberg wurde keine Möglichkeit zur Durchführung einer offenen Abstimmung geschaffen. (Es waren keine Tische und Schreibgelegenheiten vorhanden.) Außerdem zeigte sich in verschiedenen Abstimmungslokalen in Frankfurt, dass der gesamte Abstimmungsverlauf schlecht organisiert war, sodass eine längere Wartezeit entstand.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:13 Rostock 2 500, Neubrandenburg 30, Gera 28, Karl-Marx-Stadt 25.
Gefälschte Stimmzettel: Rostock 29 530, Karl-Marx-Stadt 23 074, Neubrandenburg 1 390.
CDU-Ostbüro: Potsdam 6 000, Neubrandenburg 2 500.
KgU:14 Frankfurt 2 000, Gera 30, Neubrandenburg einige.
»Tarantel«:15 Neubrandenburg 2 270.
UFJ:16 Neubrandenburg 20.
NTS:17 Gera 2 500.
»Freiheitsrat Blücher«: Potsdam 10 000.
»Deutsche in der Sowjetzone«: Karl-Marx-Stadt 437.
»Deutsche in der Bundesrepublik«: Neubrandenburg 600.
In tschechischer Sprache: Karl-Marx-Stadt einige.
»Der Geist des 17.6. lebt«: Karl-Marx-Stadt 87, Berlin 80.
Unbekannter Herkunft: Schwerin 2 200.
Die meisten Flugblätter wurden durch Ballons eingeschleust, sichergestellt und gelangten somit nicht in die Hände der Bevölkerung.
Antidemokratische Tätigkeit
In Berlin wurde auf der Straße ein Hakenkreuz mit Öl gemalt (Berlin-Pankow).
In Magdeburg in einer HO-Gaststätte wurden die Tischkarten mit Hetzlosungen beschmiert.
Im Bezirk Potsdam wurden Plakate zur Volksbefragung abgerissen und Schmierereien: »Es lebe die Revolution gegen Wilhelm Pieck,18 nieder mit Stalin« angebracht. Des Weiteren wurde ein Bild von Wilhelm Pieck beschädigt.
Im Bezirk Frankfurt und Rostock wurden ebenfalls Plakate zur Volksbefragung abgerissen und Schmierereien angebracht.
Dem Abstimmungsleiter in Rostock wurde ein gefälschtes Schreiben zugeschickt.
Anlage vom 28. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2247
Missstimmungen in verschiedenen Betrieben, die ihre Ursache in Lohnfragen und Materialmangel haben
Auf der Baustelle der Schiffselektronik der Warnow-Werft Rostock, ist ein ständiger Abgang von Arbeitskräften zu verzeichnen. So kündigten z. B. täglich zehn Kollegen, sodass jetzt bereits 30 bis 40 Personen ausgeschieden sind. Hierbei handelt es sich durchweg um jüngere Kollegen, die als Begründung für ihre Kündigung angaben, dass sie sich finanziell verbessern.
In der Fischmehlfabrik im Fischkombinat Rostock traten Unstimmigkeiten auf. Aus diesem Grunde führte der stellvertretende Betriebsleiter eine Belegschaftsversammlung durch. In dieser Versammlung verlangten die Kollegen, die im Kühlraum arbeiten, eine Erschwerniszulage, die ihnen bei Inbetriebnahme der Fischmehlfabrik versprochen wurde. Bei dieser Versammlung waren die BGL und die Lohnbuchhaltung zugegen. Es wurde den Kollegen versprochen, da es sich um eine rechtsmäßige Forderung handelt, dass sie die Erschwerniszulage erhalten werden, dass aber vorher eine Genehmigung vom Minister für Nahrungs- und Genussmittel eingeholt werden muss.
In der privaten Ofenfirma Schacht in Bützow, [Bezirk] Schwerin, bestehen Schwierigkeiten in der Erzeugung von Ofenkacheln, da Glasur und Ton fehlen. Der Lieferbetrieb für Ton ist wegen Arbeitskräftemangel nicht in der Lage zu liefern.
Im Walter-Griesbach-Werk in Güstrow,19 [Bezirk] Schwerin, ist die Reparatur an der Lokomobile, die zur eigenen Stromversorgung dient, noch nicht beendet. Dadurch treten Produktionsschwierigkeiten auf und außerdem wird das Stromnetz des Ortes mit beansprucht. Die Lokomobile hat einen Wellenbruch.
Die Arbeiter des Kraftwerkes Peenemünde, [Bezirk] Rostock, sind über die schlechte Belieferung mit Getränken während der Arbeitszeit verärgert. Da die Kollegen bei einer Temperatur von 40 Grad arbeiten.