Zur Beurteilung der Situation
5. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2331 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Mittelpunkt der politischen Diskussionen steht die Volkskammerwahl.1 Jedoch sind die Diskussionen noch verhältnismäßig gering. Meist äußern sich Arbeiter, weniger Angestellte. Der überwiegende Teil der Stimmen ist positiv. Darin begrüßt man die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste. Während der Vorbereitung der Volkswahl wirken sich die Großveranstaltungen und Rechenschaftslegungen mit den Spitzenkandidaten der Volkskammer positiv aus.2 Dies zeigt uns ein Beispiel aus Leipzig, wo im Teerverarbeitungswerk Rositz nach der Versammlung mit dem Genossen Walter Ulbricht3 in Altenburg4 die Diskussionen über die Versammlung im Vordergrund stehen.5 Ein Kollege aus der Spaltanlage sagte: »Ich bin ganz begeistert von Walter Ulbricht. Der hat uns alles so klar aufgezeigt. Wer das nicht begreift, der versteht überhaupt nichts.«
Die Einzel- und Kollektivverpflichtungen anlässlich der Volkswahl haben an Umfang etwas zugenommen.
In negativen Diskussionen macht man teilweise die Teilnahme an der Wahl von wirtschaftlichen Problemen abhängig. Verschiedentlich nimmt man gegen die Propaganda zur Volkskammerwahl Stellung und vertritt die Meinung, dass es für einen Arbeiter selbstverständlich ist, dass er zur Wahl geht. In den Diskussionen werden noch immer Listenwahlen der einzelnen Parteien gefordert. Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Zinnerz Altenberg: »Wenn die Regierung am 17.10.[1954] ein gutes Abstimmungsergebnis haben will, so ist es wichtig, bis dahin noch eine Preissenkung durchzuführen, denn sonst wäre es böse um die Wahl bestellt.«
Im VEB »IKA« Sonneberg,6 [Bezirk] Suhl, treten vereinzelt Stimmen auf, welche sagen, dass bei uns immer viel gesprochen und geschrieben wird, aber in Wirklichkeit sieht es ganz anders aus. Wenn man in ein Geschäft kommt und will Arbeitskleidung oder Bettwäsche kaufen, so ist dies niemals da.
Ein Kollege aus der Mitteldeutschen Maisfabrik »Zerbst«, [Bezirk] Magdeburg: »Für die, die da aufklären, ist der Lebensstandard schon gestiegen. Für mich aber nicht.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Blechbearbeitungsmaschinenwerk Zeulenroda, [Bezirk] Gera: »Sie sollen doch keine so große Propaganda über die Volkswahlen machen. Für einen Arbeiter ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er seine Stimme am 17. Oktober für die Kandidaten der Nationalen Front7 gibt.«
Ein Arbeiter (parteilos) aus Johanngeorgenstadt, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Man kann, da für die Volkswahl nur eine Liste aufgestellt wurde, nur die eine wählen. Bei mehreren Listen kann man richtig wählen, denn dies ist ja sowieso keine richtige Wahl.«
Ein Küchenleiter vom VEB in Karl-Marx-Stadt: »Ich bin der Ansicht, dass die Wahlen am 17. Oktober [1954] keine freien Wahlen sind. Meiner Meinung nach ist eine Wahl erst dann frei, wenn ich die Partei wählen kann, die ich möchte.«
Vereinzelt diskutiert man noch über die Explosionskatastrophe in Bitburg/Eifel.8 Die Diskussionen sind meist positiv. Veränderungen gegenüber dem Vortage traten nicht auf.
Gerücht
Im [Wismut-]Objekt 02 Oberschlema,9 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird innerhalb der Feuerwehr ein Gerücht verbreitet, dass die Feuerwehr der Volkspolizei angegliedert wird. Dadurch wollen verschiedene Kollegen aus der Feuerwehr austreten, mit der Begründung, sie seien zu alt und wären außerdem schlechter dran, durch den Wegfall der Jahresprämie.
Waggonmangel tritt im Bezirk Potsdam und im Bezirk Halle auf.
In der Gemeinde Spaatz, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, klappt die Kartoffelverladung nicht, weil die VEAB die bestellten Waggons vom Wagendienst Rathenow nicht bekommt. So mussten kürzlich 800 Ztr. Kartoffeln auf die Ladestelle geschüttet werden, wo die Gefahr des Verderbens der Kartoffeln besteht.
Den Firmen [in] Kaschwitz, Heinrichshall,10 Oranienburg und Nienschwitz11 bei Riesa, [Bezirk] Halle, fehlt es an Waggons für den Versand von Material für das Magnesit-Werk Aken, [Kreis] Köthen, [Bezirk] Halle. Das Magnesit-Werk ist zur Aufrechterhaltung der Produktion von diesem Material abhängig.
Kohlenmangel
Im VEB Mühlenwerke Fürstenberg, [Bezirk] Potsdam, musste die Produktion am 30.9.[1954] wegen Kohlenmangel eingestellt werden. Durch die Einstellung der Arbeit entsteht dem Betrieb ein Schaden von täglich ca. 4 000 DM. Die DHZ Kohle ist von diesem Zustand rechtzeitig benachrichtigt worden.
Materialschwierigkeiten
In der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock, bestehen Schwierigkeiten in der Fertigstellung der »Habichte«,12 da folgendes Material fehlt: 15 Schalter für die Unterverteilung, ca. 300 Kammerabzweigungen, ca. 5 000 Schrauben (6 mm). Wenn die Materialschwierigkeiten nicht beseitigt werden, sind die Fertigungstermine der »Habichte« infrage gestellt. In der Schiffsbau- und Reparaturwerft Stralsund, [Bezirk] Rostock, fehlt es ebenfalls an Schrauben.
Im VEB Waggonbau Dessau, [Bezirk] Halle, ist ein Materialmangel an 14-, 15- und 20-mm-Rohblechen zu verzeichnen. Bei der Fertigstellung von Massenbedarfsgütern macht sich das Fehlen von 1-mm- und 3-mm-verzinktem Feinblech sowie Grundlack bemerkbar.
Im VEB »Junkalor« Dessau, [Bezirk] Halle, fehlt es an Stahlrohr, Siederohr, Quellenstahl sowie Schrauben und Muttern. Dadurch konnte der Plan nur mit 90 Prozent erfüllt werden.
Im VEB »Elmo« Dessau,13 [Bezirk] Halle, mangelt es zeitweise an Kupfer. Dadurch wurde der Plan nur mit 64 Prozent erfüllt.
Im VEB Gasgerätewerk Halle14 ist ein Engpass an Fein- und Ziehblechen in den Abmessungen 1,5 mm, 0,75 mm, 0,1 und 0,2 mm vorhanden.
Die VEB Druckerei Bischofswerda, [Bezirk] Dresden, benötigt für das III. Quartal dringend 10 Tonnen Druck- und Schreibpapier und 60 Tonnen einfarbiges Packpapier. Wenn dieses Papier nicht geliefert wird, kann die Druckerei ihren Plan nicht erfüllen.
Im [Wismut-]Schacht 250, Revier IV Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlt es an Hunte.15 So ist es vorgekommen, dass einige Brigaden nicht schießen konnten, weil die Massen nicht weggeräumt werden konnten. Ebenfalls fehlt es an Bohrstangen.
Im [Wismut-]Schacht 6 Oberschlema, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlt es an 6-mm-Drahtseil für Blockhaspeln, Keilhauen 1½- und 2-Grad-Rohrverschraubungen für Ersatzschaufeln, Gummikabel, 4 × 4 und 6 × 4 und Maschinenöl.
Entlassungen
Die VEB Holzindustrie [Kreis] Naumburg, [Bezirk] Halle, hat die bereitgestellte Menge an Holz für das Jahr 1954 bis Ende Oktober verbraucht. Die Betriebsleitung musste dazu übergehen, 15 Kollegen zu entlassen.
In der Nacht zum 4.10.[1954] ist in Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, infolge eines Dammrutsches ein Triebwagen mit drei Anhängern entgleist und die Böschung hinuntergestürzt. Hierbei wurden drei Personen leicht verletzt.
Handel und Versorgung
Die Fleischereigenossenschaft Senftenberg, [Bezirk] Cottbus, erhielt 10 320 kg Importfleisch aus Argentinien mit einem starken Petroleumgeruch. Der Transport wurde in Hamburg entladen und über Westberlin in die DDR geleitet. Proben wurden dem Hygiene-Gesundheitsamt übergeben.
Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohle hat der Kreis Saalfeld, [Bezirk] Gera. Der Gegner nützt dort den Engpass zur Hetze aus und verbreitet das Gerücht, dass die Kohlen jetzt gestapelt werden, um sie nach der Volkswahl zu erhöhten Preisen zu verkaufen. Eine schlechte Belieferung mit Kohle ist auch im Kreis Schmölln, [Bezirk] Leipzig (durch den Konsum), und in der Stadt Leipzig selbst zu verzeichnen. Vom Rat der Stadt Leipzig wird bekannt, dass die volkseigenen und privaten Betriebe noch nicht winterbevorratet sind. Noch schlimmer wird die Situation im I. Quartal 1955, da die Zuteilung für dieses Quartal um 3 515 Tonnen gekürzt wurde, obwohl eine ganze Anzahl neuer Bedarfsträger und die Frühjahrsmesse16 mit einem Verbrauch von 11 000 t hinzukommen. Falls keine Änderung getroffen wird, werden eine ganze Anzahl Betriebe ihre Produktion im I. Quartal einstellen müssen.
Im VPKA Bautzen und anderen Ämtern des Bezirkes Dresden ist ein großer Mangel an Reifen 500 × 16 vorhanden.
Die Bezirke Potsdam und Rostock klagen über die schlechte Versorgung mit Einkellerungskartoffeln.
Der Mangel an Eiern macht sich im Kreis Delitzsch, besonders im Feierabendheim Döbernitz und im Tbc-Krankenhaus Löbnitz, bemerkbar. Speck fehlt in einigen Gemeinden der Bezirke Halle und Leipzig.
Im Kreis Gräfenhainichen, [Bezirk] Halle, ist die Fleischversorgung gefährdet. Seit zwei Tagen gibt es in den Geschäften nur noch Gefrierfleisch zu kaufen, wobei sich die Hausfrauen über den 25-prozentigen Abzug beschweren. Außerdem gibt es in Roßla, Kreis Sangerhausen, seit einigen Tagen in den HO-Verkaufsstellen kein Schmalz, keine Fleischwaren und auch keine Zigaretten mehr.
Landwirtschaft
Die überwiegend positive Einstellung zur Volkskammerwahl wird durch zahlreiche Selbstverpflichtungen in dem Bewusstsein zum Ausdruck gebracht, dass der 17.10.[1954] mitentscheidend für Krieg oder Frieden ist. Ein werktätiger Bauer aus Hildebrandshagen, [Kreis] Grimmen, [Bezirk] Rostock, sagte hierzu: »Ich denke, wir müssten aus dem letzten Krieg gelernt haben. Wenn wir am 17.10.1954 alle für den Frieden stimmen, dann kann es auch keinen neuen Krieg geben.«
Die negativen Meinungen sind nur vereinzelt und werden hauptsächlich vom Klassengegner auf dem Lande bzw. durch den Klassengegner beeinflusste Elemente vertreten. Ein Großbauer aus Schwedt/Oder, [Bezirk] Frankfurt: »Ich bin der Meinung, dass eine einheitliche Wahlliste nicht demokratisch ist, sondern dass die einzelnen Parteien getrennt zur Wahl stehen sollten.«
Ein Buchhalter aus der MTS Schwedt: »Man kann ja gar nicht anders wählen, da man doch nur eine Partei vorgesetzt bekommt.« Eine Landarbeiterin aus Fuhlendorf, [Bezirk] Rostock: »Was soll ich in die Listen einsehen, denn was gewählt wird, ist ja alles Mist und verändert wird ja doch nichts.«
Ein Landarbeiter aus dem VEG Oberhinrichsten,17 [Kreis] Grimmen, [Bezirk] Rostock: »Was sind das für Wahlen. Früher standen alle Parteien auf der Liste, da konnte man sich aussuchen, was man wählen wollte. Heute gibt es doch bloß eine Liste, da braucht man gar nicht wählen.«
Im Bezirk Neubrandenburg sind die wesentlichsten Diskussionen, im negativen Sinne, die Oder-Neiße-Friedensgrenze und die Forderung nach »freier Wirtschaft«. Ein Landarbeiter vom VEG »Ferdinandshof«, [Bezirk] Neubrandenburg: »Wenn ich eine Heimat hätte, würde ich auch wählen. Aber ich wurde rausgetrieben und soll jetzt noch diese Leute wählen?« Ein Bauer aus der Gemeinde Matgendorf, [Kreis] Teterow: »Man müsste die Bauern so wirtschaften lassen, wie sie es wollen. Was sie übrighaben, würden sie abliefern und dadurch würden sie mehr Vieh halten können.«
Teilweise macht sich eine Interesselosigkeit bemerkbar, die mit »wenig Zeit« begründet wird. Ein Mittelbauer aus Grünhainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich habe keine Zeit, am 17. Oktober [1954] zur Wahl zu gehen. Es ist sowieso nur ein Zettelabgeben. Zu Versammlungen gehe ich auch nicht, dazu habe ich auch keine Zeit.«
Eine schlechte Vorbereitung und Verantwortungslosigkeit der Referenten wurden in einigen Fällen im Bezirk Neubrandenburg festgestellt. Im Ortsteil Markow,18 [Bezirk] Neubrandenburg, sollte am 27.9.1954 durch den Genossen Schenk19 eine Versammlung durchgeführt werden. Der Referent jedoch erschien nicht. Ebenfalls konnte eine Versammlung am 27.9.[1954] in der Gemeinde Lelkendorf nicht durchgeführt werden, weil der Genosse Siegelow20 nicht erschien. Die Anwesenden gingen sehr verärgert nach Hause.
Vereinzelt argumentieren auch SED- und FDGB-Funktionäre im feindlichen Sinne. In einer Gemeindevertretersitzung am 29.9.1954 äußerte der Genosse Schmidt21 aus Ballin,22 [Bezirk] Neubrandenburg: »Früher waren wir ein Agrarstaat und brauchten nachts und sonntags nicht zu arbeiten. Heute sind wir ein sozialistischer Staat und müssen des Nachts und auch sonntags arbeiten.« Der BGL-Vorsitzende vom VEG Ballin sagte: »Wir müssen eine Protestresolution einreichen und verweigern, das Soll zu liefern, da sich keiner bemüht, die Wege von Plath nach Ballin instand zu setzen.« Des Weiteren sagte er: »Ich werde als Gewerkschaftsleiter die Arbeit des Nachts verbieten, sodass es nicht wieder vorkommt wie im vergangenen Jahr bei der Zuckerrübenernte, wo Tag und Nacht gearbeitet wurde. Dies kann ich nicht verantworten.«
Unzufriedenheit
In der MTS Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, kündigt ein großer Teil der Traktoristen das Arbeitsverhältnis. Als Grund hierfür wird angegeben, dass die Normenfrage nicht in Ordnung ist und dass nicht ausreichende Ersatzteile vorhanden sind, um einen ordnungsgemäßen Arbeitsablauf zu gewährleisten.
In der MTS Zittau herrscht ein großer Mangel an Pflugscharen für Traktorenpflüge. Ein Traktorist sagte dazu Folgendes: »Jedes Jahr müssen wir mit den gleichen Schwierigkeiten ringen. Wenn aber jedes Jahr die gleichen Schwierigkeiten aufgetreten sind, so müssten doch endlich Schritte zu deren Beseitigung eingeleitet werden.«
Große Verärgerung ruft unter den genossenschafts- und werktätigen Bauern des Kreises Weißenfels, [Bezirk] Halle, die Belieferung von Kartoffelsaatgut hervor, da diese nicht verwendbar sind.
In Langendorf herrscht bei den werktätigen Bauern des Ortsteiles Obergreißlau, [Bezirk] Halle, große Verärgerung, weil sie nachts die Rüben verladen sollen.
Oft wird unter den Bauern Missstimmung dadurch hervorgerufen, dass sie zur Ablieferung bestellt und nachher stundenlang mit ihren Produkten warten müssen, wie z. B. in der VEAB Klötze, [Bezirk] Magdeburg. Dort wurde bei der Reichsbahn ein Sonderzug bestellt und zugesagt. Von den bestellten 47 Waggons wurden nur [3]723 geschickt, sodass ein großer Teil der Bauern ihre Kartoffeln nicht verladen konnte.
Unter den Bauern im Kreis Eisleben, [Bezirk] Halle, herrscht eine sehr schlechte Stimmung. Die Bauern von Neehausen z. B. lieferten bisher ihre Rüben nach Langenbogen und sind jetzt für die Anfuhr nach Salzmünde zugeteilt. Der Anfahrtsweg ist 5 km länger und die Anfuhrverhältnisse sind äußerst schlecht. Grund dafür ist, dass die Zuckerfabrik in Langenbogen noch nicht einsatzfähig ist, da wichtige Rohre nicht beschafft werden konnten.
In dem VEB Mastanstalt Dessau/Kochstedt,24 [Bezirk] Halle, besteht ein großer Mangel an Läuferschweinen. Der Betrieb kann 5 500 Schweine aufnehmen. Am 1.10.1954 war jedoch nur ein Bestand von 2 475 Stück vorhanden. Vom Bezirk erfolgte trotz laufender Anforderung des Betriebes keine Zuteilung an Läuferschweinen, obwohl Futtermittel in genügender Menge vorhanden sind. Laut Vertrag dürfen in der Mästerei keine Ställe leerstehen. Bis zum 12.10.1954 werden ca. 1 000 Schweine abgeliefert, sodass dann nur noch 1 500 anstatt 5 500 Schweine vorhanden sind.
Im Bezirk Cottbus geht die Ablieferung des Getreides schleppend vor sich. Vielfach ist zu verzeichnen, dass in den schlechtesten Kreisen Genossen, die werktätige Bauern sind, ihr Getreide ebenfalls noch nicht 100-prozentig abgeliefert haben. Man vertritt dort die Meinung, besonders im Kreis Luckau, dass das Getreidesoll in der nächsten Zeit mit anderen Produkten abgedeckt werden kann. Einen gewissen Einfluss hierüber üben teilweise Großbauern aus, die in der Ablieferung bei 50 Prozent liegen und angeblich keine Möglichkeit hätten, mehr abzuliefern.
Schweinepest
In den Schweinebeständen des Siedlergutes Liebstein, [Bezirk] Dresden, ist die Schweinepest ausgebrochen. Befallen sind elf Mastschweine und zehn Läufer.
In der Erfassungsstelle Teltow, [Bezirk] Potsdam, sind 250 t Brotgetreide wegen Arbeitskräftemangel verdorben und werden der Brennerei zugeführt.
Übrige Bevölkerung
Nach wie vor wird unter der übrigen Bevölkerung wenig zu aktuellen politischen Problemen Stellung genommen. Im Mittelpunkt der politischen Diskussionen stehen die Vorbereitungen zur Volkswahl. Der überwiegende Teil der Äußerungen ist positiv und stammt vorwiegend von Rentnern, Hausfrauen, Verwaltungsangestellten und in geringerem Maße von Handwerkern. Von diesem Personenkreis wird immer wieder betont, dass sie Vertrauen zur Regierung haben und dass sie als Beweis dafür ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front geben werden.
Negativ über die Wahl wird hauptsächlich in bürgerlichen Kreisen diskutiert. Dabei tritt immer wieder das Argument in Erscheinung, dass die Wahl aufgrund der Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste nicht demokratisch sei. Zum Beispiel sagte ein Handwerker aus Ulberndorf, [Kreis] Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Ich gehe nicht zur Wahl, da diese nicht demokratisch ist.«
Ein Fuhrunternehmer aus Kamenz, [Bezirk] Dresden: »Die SED mit ihrem Wahlrummel. 1946 wurden auch Wahlen mit Listen der einzelnen Parteien durchgeführt,25 warum jetzt also keine getrennten Listen?« Ein Fleischermeister aus Riesa, [Bezirk] Dresden, lehnte es ebenfalls ab, zur Wahl zu gehen und äußerte: »Die Regierung und die Kandidaten der Nationalen Front haben für uns nichts übrig und wir für sie auch nicht.«
Ein Schuhmachermeister (Vorsitzender der Nationalen Front) aus Hörningen, [Kreis] Sondershausen,26 [Bezirk] Erfurt: »Als ich vor kurzer Zeit in Kiel war, fanden die Wahlen statt.27 Dort gab es aber nicht so viel Wahlpropaganda wie hier. Losungen sah man überhaupt nicht, und hier bei uns werden alle Wände vollgeschmiert. Als ich zurückkam und mir meine Frau einen Brief der Nationalen Front wegen einer Einwohnerversammlung gab, hatte ich schon wieder die Schnauze voll, denn diese Politik hängt mir zum Halse raus.«
Verschiedentlich wird von Personen die Beteiligung an der Wahl von bestimmten Forderungen abhängig gemacht. Zum Beispiel forderten eine Angestellte beim Rat des Kreises Geithain sowie eine Hausfrau aus Dolsenhain, Bezirk Leipzig, eine andere Wohnung, andernfalls wollten sie nicht zur Wahl gehen.
In Staffelde, [Kreis] Oranienburg, [Bezirk] Potsdam, musste ein Bäckermeister seinen Betrieb wegen Kohlenmangel schließen. Von der Belieferung mit Kohle will er jetzt seine Wahlbeteiligung abhängig machen.
Aus den Kreisen der bürgerlichen Parteien: Nach wie vor wird von einem Teil der Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien die Forderung nach Parteiwahlen erhoben. Zum Beispiel wird in den Gemeinden Deibow und Eldena im Kreis Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, unter den Mitgliedern der bürgerlichen Parteien darüber diskutiert, dass Parteiwahlen durchgeführt werden müssten, denn bei der Aufstellung gemeinsamer Wahllisten könnte es keine Opposition geben.
In einer Ortsgruppenversammlung der LDP in Zella-Mehlis, [Bezirk] Suhl, wurde von verschiedenen Mitgliedern die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen ein Stimmzettel am 17.10.1954 als ungültig anzuerkennen sei. Bei der Volksbefragung ist man sich darüber nicht einig gewesen.28
In Oberweid, [Kreis] Meiningen, [Bezirk] Suhl, hat sich die CDU von der politischen Mitarbeit vollkommen zurückgezogen, obwohl sie einen bestimmten Einfluss auf die dortige Bevölkerung hat.
Aus den Kreisen der Kirche: Wie schon berichtet, treten jetzt die Pfarrer vielfach negativ in Erscheinung. Unter anderem sprechen sie sich in ihren Predigten gegen unsere Regierung aus und nehmen eine ablehnende Haltung gegen die Wahlvorbereitungen ein. Zum Beispiel äußerte im Kreis Jena ein Pfarrer in seiner Predigt: »Denkt bei der Wahl und wählt christlich, damit die Regierung eine Gottesregierung wird; denn das ist nicht unsere Regierung, unter deren Maßnahmen Menschen flüchten müssen.«
Ein Pfarrer aus dem Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, äußerte, als er wegen seiner Stellungnahme zur Volkswahl angesprochen wurde: »Ich lasse mich nicht für politische Zwecke ausnutzen. Politik gehört nicht in die Kirche.« Im gleichen Kreis äußerte ein anderer Pfarrer zu der gleichen Frage, dass er keine Zeit habe und man solle sich wegen einer Stellungnahme an den Erzbischof in Erfurt wenden.
Ein Pfarrer (katholisch) aus Leipzig sagte, er sei sich überhaupt noch nicht klar, ob er zur Wahl gehe, weil gegenwärtig die Regierung in Russland einen tollen Kampf gegen die Kirche führt.
In letzter Zeit mehren sich die Beispiele, dass sich Anhänger der verbotenen Sekte »Zeugen Jehovas«29 gegen eine Wahlbeteiligung aussprechen. Im Kreis Brandenburg z. B. erklärten einige Mitglieder dieser Sekte bei einem Aufklärereinsatz: »Wir gehen am 17.10.1954 nicht zur Wahl. Lieber gehen wir ins Gefängnis. Unsere Arbeit geht weiter, wenn nicht irdisch, dann unterirdisch. Die Regierung kann sich noch so viel Mühe geben, die Weltherrschaft zu gewinnen, es wird ihr nicht gelingen. Die Zeugen Jehovas sind schon zu stark.«
Auf der am 28.9.1954 in Westberlin stattgefundenen Gruppenversammlung der Zeugen Jehovas wurde zur Volkswahl Stellung genommen. Unter anderem wurde erklärt, dass sich keiner der Angehörigen der Sekte an der Wahl beteiligen wird und sollte einer von den »Brüdern oder Schwestern« das nicht halten, dann wird er ausgestoßen und beobachtet, damit er keine Meldung bei der VP und dem SfS macht. Es seien auch Mitglieder der SED in der Sekte, die darüber berichten würden.
Bei den Vorbereitungen zur Volkswahl tritt immer wieder in Erscheinung, dass u. a. bei Versammlungen die Referenten nicht erscheinen oder dass die Versammlungen schlecht besucht werden, was oftmals auf eine mangelnde Vorbereitung zurückzuführen ist. Zum Beispiel nahmen an einer Versammlung der Häuser Brehmestraße 5–8 in Pankow nur knapp 10 Prozent der Eingeladenen teil. Von den Haus- und Straßenvertrauensleuten erschien keiner. Im Verlauf der Diskussion wurde festgestellt, dass die Schuld an der mangelhaften Beteiligung bei der schlechten Vorbereitung durch die Nationale Front zu suchen ist.
In der Gemeinde Dames,30 [Kreis] Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, mussten zweimal die Einwohner nach Hause geschickt werden, weil der Referent nicht erschienen war. Das Gleiche war in der Gemeinde Wolmirsleben, [Kreis] Staßfurt, zu verzeichnen.
In einer Wählerversammlung in Magdeburg äußerte ein Einwohner: »Ich gehe nicht zur Wahl, denn ich gebe meine Stimme nicht einem ehemaligen SS-Mann.« Gemeint wurde damit der 2. Vorsitzende des Rates des Bezirkes.31 Dies wurde überprüft und ergab die Richtigkeit der Diskussion.
Bei der Einsichtnahme in die Wählerlisten zeigen sich verschiedentlich organisatorische Mängel und Schwächen. Zum Beispiel beklagt sich die Bevölkerung im Wirkungsbereich 36, Niederschönhausen, dass die in der List-Schule ausliegenden Wahllisten genauso unvollständig seien, wie sie zur Volksbefragung waren.
Der Rahnsdorfer Bevölkerung, Groß-Berlin, ist nur ungenügend bekannt, wo die Wählerlisten ausliegen und wo das Wahllokal ist. Es hat noch kein einziger Aufklärungseinsatz stattgefunden.
Der Stand der Einsichtnahme in die Wählerlisten vom Demokratischen Sektor Groß-Berlin bis zum 3.10.1954:
- –
Mitte 35,0 %
- –
Treptow 38,4 %
- –
Weißensee 38,5 %
- –
Prenzlauer Berg 37,6 %
- –
Köpenick 40,9 %
- –
Lichtenberg 44,8 %
- –
Friedrichshain 37,0 %
- –
Pankow 37,2 %
Im Bezirk Neubrandenburg beträgt der Durchschnitt der Einsichtnahme 68,9 Prozent (Stand vom 30.9.1954). Der Kreis Demmin liegt an letzter Stelle mit 56,6 Prozent.
Im Bezirk Cottbus hat sich der Stand auf 87,3 Prozent erhöht, dabei hat der Kreis Calau als bester Kreis einen Stand von 99,5 Prozent erreicht. Den Schluss bildet wie bisher die Stadt Cottbus mit 77,4 Prozent.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:32 Potsdam 50 000, Frankfurt/Oder 500, Halle und Dresden einige.
KgU:33 Frankfurt/Oder 40 000, Dresden 673. Die Flugblätter richten sich gegen die Volkswahlen mit den bekannten Argumenten.
NTS:34 Potsdam 6 000, Leipzig 1 150, Karl-Marx-Stadt 226, Halle 105, Dresden 31, Neubrandenburg 28, Gera einige.
ZOPE:35 Karl-Marx-Stadt 2 400.
»Der Tag«:36 Potsdam 2 500, Dresden 117.
UFJ:37 Potsdam einige.
FDP[-Ostbüro]: Dresden einige.
Unbek[annter] Herk[unft]: Cottbus 284 312, Rostock 1 027. Inhalt richtet sich gegen die Volkswahlen.
Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde mit Ballons verbreitet und sichergestellt, da meist gebündelt aufgefunden.
Von Westberlin werden verstärkt Hetzschriften in Form der Zeitschrift die »Wochenpost«38 eingeschleust, in denen mit den bekannten Argumenten gegen die Volkswahl gehetzt wird.
Gefälschte Briefe wurden am 4.10.[1954] im Bezirk Leipzig verstärkt an Rechtsanwälte verschickt. Inhalt: Hetze gegen DDR und SfS, Zentrale UPM.39
Antidemokratische Tätigkeit
Im Kulturraum der LPG Triglitz, Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, wurden von unbekannten Tätern mehrere Flugblätter der SPD ausgelegt.
In der Nacht zum 3.10.[1954] wurden im Kreis Potsdam von unbekannten Tätern in zwei Fällen rote und schwarz-rot goldene-Fahnen sowie Wahlplakate abgerissen bzw. beschädigt.
In der Nacht vom 3. zum 4.10.[1954] wurden in Oberpörlitz, Kreis Ilmenau, [Bezirk] Suhl, Plakate für die Volkswahl abgerissen. Am 4.10.[1954] wurde in Ilmenau in einer Straße ein Hakenkreuz aus Metall von unbekannten Tätern ausgelegt.
In Schönfeld, Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, wurde ein Wahlplakat abgerissen.
In Zschaiten, Kreis Riesa, wurde ein Transparent zur Volkswahl zerstört. In Zittau wurde an einer Litfaßsäule eine Hetzlosung gegen die SED zur Volkswahl angebracht.
Am Straßenbahnhof Dresden-Mickten riefen einige Jugendliche: »Früh kein Gas, abends kein Licht, vergesst das am 17. Oktober nicht.«
In Berlin, Invalidenstraße wurde von unbekannten Tätern die Hetzparole: »Lang lebe Adenauer«40 angeschmiert. In zwei Wahllokalen in Berlin (Bezirk Mitte und Lichtenberg) wurden Hetzzettel gegen die Volkswahlen geworfen (am 3.10.1954).
In der Nacht zum 3.10.1954 wurde in Berlin-Köpenick ein Bild des Präsidenten mit Steinen beworfen. In Berlin-Niederschönhausen wurden Hinweise zur Einsichtnahme in die Wahllisten von unbekannten Personen abgerissen.
Im Bergarbeiterheim »Glück-auf« in Aue wurden vor einigen Tagen Bilder führender Genossen heruntergerissen.
Einen anonymen Anruf erhielt der Bürgermeister der Gemeinde Elbisbach, [Kreis] Geithain, [Bezirk] Leipzig, wonach sofort sämtliche VP-Angehörige aus den Wahllisten zu streichen sind, da diese nicht mitwählen.
Am 1.10.[1954] erhielt das VEG Schwanebeck,41 [Kreis] Wanzleben, [Bezirk] Magdeburg, einen gefälschten Anruf, wonach von zwei VP-Angehörigen eine Betriebsversammlung durchgeführt werden sollte. Durch den Betriebsleiter wurden alle Kollegen zusammengerufen.
Vermutliche Feindtätigkeit
In Pulsnitz, Kreis Bischofswerda, [Bezirk] Dresden, brannte vermutlich durch Brandstiftung die Scheune eines Mittelbauern nieder. Schaden ca. 9 000 DM.
In Helmsdorf, Kreis Pirna, [Bezirk] Dresden, brannte eine Strohfeime mit ca. 300 Zentnern Stroh ab, die zwei Mittelbauern gehörte. Es wird Brandstiftung vermutet.
Einschätzung der Situation
Die Volkswahlen stehen im Mittelpunkt, deshalb wird zu den anderen aktuellen politischen Fragen nur selten Stellung genommen.
Die verstärkte Aufklärungstätigkeit ist erfolgreich. Dies zeigen besonders die immer stärker werdende Einsichtnahme in die Wählerlisten, die häufigen Verpflichtungen zur Wahl und die überwiegend positiven Diskussionen. Am besten ist die Stimmung in den volkseigenen Betrieben.
Feindliche Argumente haben im Verhältnis zu den positiven einen kleinen Umfang und werden hauptsächlich von kleinbürgerlichen Elementen, Mitgliedern bürgerlicher Parteien, Groß- und Mittelbauern, Pfarrern und ehemaligen Umsiedlern vertreten, teilweise auch von Rentnern, Hausfrauen, Arbeitern und Angestellten in Privatbetrieben.
Die verschiedenartigen Mängel in Handel und Versorgung sind weiterhin die hauptsächlichste Ursache für die teilweise bestehende Unzufriedenheit.
Die Hetzschriftenverteilung und antidemokratische Tätigkeit halten in verstärktem Maße an.
Anlage vom 5. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2331
Hetzschriften gegen die Volkswahl
Ein gefälschtes Schreiben mit dem Absender des »Nationalrats der Nationalen Front zur demokratischen Erneuerung Deutschlands – Büro des Präsidiums« gibt die Direktive heraus, »eine vollkommen neue Argumentation« zu verwenden. Diese Argumentation beschäftigt sich damit, Lügen über unsere DDR zu verbreiten, wie z. B. dass Staatsfunktionäre der DDR eine fremde Staatsangehörigkeit haben,42 »dass unsere Kriegsrüstung seit 10 Jahren auf vollen Touren läuft …«, dass »Briefzensur« und verschärfte Kontrollen usw. die Freiheit der Bürger behindern.
Kleine Flugzettel des SPD-Ostbüros und der KgU fordern die Bevölkerung der DDR auf, am 17.10.1954 mit »Nein« zu stimmen. KgU fordert weiter, Zettel mit einem »NEIN« an die Kandidaten der Nationalen Front zu versenden.
Von dem Ostbüro der FDP wird ein »Wahlaufruf« verbreitet, der über »Wahlfälschungen« spricht und hetzt, dass die Kandidaten der Nationalen Front zur Volkswahl »von dem SED-Politbüro ausgewählt und ihre Auswahl in engster Zusammenarbeit mit dem SSD diesmal noch sorgfältiger vorgenommen« wurde.
Mit dem gefälschten Deckblatt einer »Direktive für die Ausschüsse der Nationalen Front zur Vorbereitung der Volkswahlen 1954« wird von einer unbekannten Feindzentrale43 eine Hetzschrift verbreitet, die sich ebenfalls gegen die DDR richtet. Folgende Forderungen werden darin an die Bevölkerung der DDR zur Störung der Wahlen gestellt:
- –
keine Mitarbeit in der Nationalen Front,
- –
»Schluss mit Wettbewerben zur Erfüllung und Übererfüllung der Pläne«,
- –
»Senkung der Arbeitsproduktivität«,
- –
»Erhöhung des Ausschusses in der Produktion«,
- –
»Aufklärungsarbeit« gegen die DDR richten,
- –
»NEIN« an die Kandidaten der Nationalen Front und den Volkskammerpräsidenten senden,
- –
bei der Sichtagitation »Zahlen über politische Häftlinge« veröffentlichen usw.