Zur Beurteilung der Situation
30. April 1954
Informationsdienst Nr. 2193 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Stimmung der Werktätigen in den Betrieben hat sich gegenüber den Vortagen nicht wesentlich verändert. Allgemein wird nur sehr wenig über politische Tagesfragen diskutiert. Über die Genfer Konferenz wird weiterhin in geringem Maße diskutiert.1 Meist sind es Arbeiter, weniger Angestellte und Intelligenzler, die dazu Stellung nehmen. In den bekannt gewordenen Stimmen wird meist Hoffnung auf Entspannung der internationalen Lage zum Ausdruck gebracht. Weiterhin erhofft man eine friedliche Lösung des Fern-Ost-Problems durch die Teilnahme Chinas an der Konferenz.2 In diesem Zusammenhang wird auch das Verbot der Atom- und Wasserstoffwaffen erwartet. Ein Arbeiter vom VEB Druckwerke Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mit Zuversicht sehe ich auf die Genfer Konferenz und hoffe, dass dieselbe ein fruchtbares Ergebnis bringt.«
Im Wirtschaftsbetrieb des Buna-Werkes wird positiv über die Genfer Konferenz diskutiert. Die Kollegen fordern das Verbot der Atom- und Wasserstoffbombe und erwarten von der Konferenz dementsprechende Beschlüsse. Weiterhin wird zum Ausdruck gebracht, dass endlich mit dem Krieg in Indochina Schluss gemacht werden müsste.
Ein Arbeiter aus der Leipziger Kugellagerfabrik: »Lange haben die Westmächte davon gesprochen, dass sie die Vertreter der Volksrepublik China nicht anerkennen wollten. Heute sind sie aber gezwungen, sich mit dem Außenminister Tschu En Lai3 an einen Tisch zu setzen. Das allein ist schon ein großer Erfolg.«
Teilweise wird von Arbeitern, etwas stärker von Angestellten und Intelligenzlern, Gleichgültigkeit oder Zweifel am Erfolg der Konferenz geäußert. Ein Angestellter aus dem VEB Phänomen Zittau, [Bezirk] Dresden: »Was interessiert mich die Genfer Konferenz. Es ist bei der Außenministerkonferenz in Berlin nichts herausgekommen und es wird in Genf dasselbe sein.«4
Im VEB EAW »J. W. Stalin« Berlin sind viele Kollegen der Meinung, dass die Genfer Konferenz die Spaltung zwischen der westlichen Welt und den volksdemokratischen Staaten weiter vertiefen wird. Es wird zum Ausdruck gebracht, »dass diese beiden Teile in ein oder zwei Jahren aufeinander krachen«.
Nur ganz vereinzelt wurden negative Meinungsäußerungen bekannt. Ein Bauarbeiter aus Stalinstadt, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Wie alle anderen Konferenzen, wird auch diese Konferenz nur leeres Stroh bringen. Molotow5 wird die Konferenz bestimmt wieder zum Scheitern bringen. Hätten die Russen von Anfang an mehr Interesse für Deutschland gezeigt, könnte man ihnen mehr vertrauen. So aber unternehmen sie nur politische Schachzüge. Der Amerikaner kann die westdeutsche Bevölkerung wenigstens noch mit Lebensmitteln versorgen, aber der Russe nimmt uns noch einen Teil weg. Sogar das Fleisch fehlt schon.«
Ein Angestellter vom VEB Maschinenbau Nordhausen, [Bezirk] Erfurt: »Die Wasserstoffbombe ist einmal da und wir werden auch die Anwendung nicht verhindern können. Politik hin – Politik her, politisch ist alles Lug und Trug. Politik ist das schmutzigste Geschäft der Welt. Wer sich damit abgibt, wird bald landen, wo er hingehört.« Ein Angestellter aus dem gleichen Betrieb: »Die ganze Konferenz ist alles nur leeres Gewäsch. Sie sollten lieber alle zu Hause bleiben und sich um ihren eigenen Mist kümmern. Was hat uns denn die Viererkonferenz eingebracht? Nichts. In Genf ist es dasselbe. Wir können nur blechen und es ändert sich doch nichts.«
Anlässlich des bevorstehenden 1. Mai treffen die Werktätigen in den Betrieben weiterhin ihre Vorbereitungen, indem sie die Arbeitsplätze festlich ausschmücken. Verschiedentlich werden Kollektiv- und Einzelverpflichtungen übernommen. Acht Kollegen der Dreherei des VEB Kugellagerfabrik in Leipzig verpflichteten sich, sich der Frieda-Hockauf-Bewegung6 anzuschließen und täglich zehn Ringe über ihre gestellte Planauflage hinaus anzufertigen.
Die Kumpel der Eisenerzgrube in Schmiedefeld, [Bezirk] Suhl, verpflichteten sich anlässlich des 1. Mai [1954], einen Stundenlohn für Korea zu spenden. Einige Kumpel verpflichteten sich, einen Tageslohn zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurde eine Sonderschicht, die mit 106 Prozent erfüllt wurde, gefahren.
Teilweise wird Unzufriedenheit über die Vorschläge zur Auszeichnung und Prämierung zum 1. Mai [1954] geäußert. Im VEB Werkzeugmaschinenfabrik Berlin-Treptow wurden die Aktivisten von der Werksleitung vorgeschlagen. Die Arbeiter des Betriebes wurden überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt und haben nur auf Umwegen von diesen Vorschlägen erfahren. Darüber bringen sie ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Im VEB Berliner Glühlampenwerk wurden ca. 300 Vorschläge von den Arbeitern abgegeben. Die Auswertung wurde nur aufgrund der schriftlichen Begründungen vorgenommen, ohne nochmals Rücksprache mit den Abteilungsfunktionären zu nehmen. Vielfach sind es nicht die besten Kollegen, die als Aktivisten bestätigt wurden. Die Arbeiter sind mit dieser Art der Bearbeitung ihrer Vorschläge nicht einverstanden.
Negative Äußerungen, die im Zusammenhang mit dem 1. Mai stehen, wurden uns aus Gera berichtet. Zwei Arbeiterinnen aus dem VEB Lederfabrik Hirschberg, [Bezirk] Gera, äußerten über die Zeitnahme: »Wenn sie uns stoppen und wir eine neue Norm erhalten, wird demonstriert. Am 1. Mai [1954] müssen wir ein Plakat malen, mit der Losung – ›Wir bekämpfen die Stoppuhr‹.«
In der Zubringerbetriebsleitung des VEB Zeiss Jena äußerte ein Kollege, der vom Meister zwecks Tragen eines Transparentes angesprochen wurde: »Ich trage nur ein Transparent, wenn dieses mit der Losung – ›Abschaffung der Nachtschicht‹ – versehen ist.« In der Dreherei des gleichen Betriebes wurde während der Nachtschicht mit Kreide an die Anschlagtafel der SED-Betriebsgruppe folgende Parole angeschrieben: »1. Mai – Kampf gegen die Nachtschicht«.
Unzufriedenheit wird aus einzelnen Betrieben wegen betrieblicher bzw. örtlicher Schwierigkeiten bekannt. Auf den Baustellen der Bau-Union Schwerin in Stralendorf, Grambow und Brütz7 sammeln die Kollegen für die Freilassung eines von der Staatsanwaltschaft Verhafteten Unterschriften, da sie von der Schuld des Verbrechers nicht überzeugt seien. In Brüsewitz wurde eine Geldsammlung für die Familien des Verhafteten durchgeführt.
Im VEB Berliner Bremsenwerk wird die Kompressorenabteilung aufgelöst und die Kollegen werden in anderen Abteilungen untergebracht. Dadurch ist ihr Verdienst um ca. 1,50 DM pro Stunde gesunken, worüber sie sehr verärgert sind.
In der Elbewerft Boizenburg, [Bezirk] Schwerin, wurden von der Betriebsleitung Maßnahmen eingeleitet, um den Finanzplan einzuhalten, die bei einem Teil der Arbeiter Unzufriedenheit auslösten. So wurden bisher die Arbeiter mit weitem Anmarschweg unentgeltlich zur Arbeit gefahren. Jetzt müssen sie monatlich 10,00 DM zahlen.
Die Arbeiter der Abteilung Maschinen- und Kesselhaus der Märkischen Ölwerke Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, sind über ihre Lebensmittelkarteneinstufung unzufrieden. Sie fordern, dass sie die Karte B8 erhalten, da sie teilweise bis zu 42 Grad Hitze im Turbinenhaus haben.
Im VEB Apparate- und Kesselbau Berlin-Niederschönhausen sind die Kollegen darüber unzufrieden, dass es beim Werkessen nur noch an einem Tag in der Woche Kartoffeln gibt.
Produktionsschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben wegen Auftragsmangel, Materialmangel und schlechtem Material. In der Mathias-Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock, besteht weiterhin ein großer Arbeitsmangel, was sich negativ auf die Stimmung der Arbeiter auswirkt.
Im VEB Berliner Bremsenwerk kann wegen Rohstoffmangel der Produktionsplan für April 1954 nicht erfüllt werden. So werden für die Produktion für Kompressoren (Export für Sowjetunion) Zwischenkühler benötigt. Niederdruckzylinder, die vom VEB Guss Leipzig9 geliefert wurden, waren zu 100 Prozent Ausschuss. Bremszylinder vom VEB Karl-Marx-Werke Magdeburg10 erwiesen sich nach der Bearbeitung ebenfalls als Ausschuss.
In den Horch-Werken Zwickau,11 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, haben sich die Materialschwierigkeiten gegenüber Anfang April verstärkt. Für die Getriebefertigung fehlen Hauptwellen, Vorlegewellen, Zahnräder und Schaltmuffen, ferner werden Anlasser benötigt.
Produktionsstörung: Am 24.4.1954 geriet im Kraftwerk Zschornewitz, [Bezirk] Halle, infolge Fehlschaltung des Schaltwärters ein Umspanner in Brand. Schaden ca. 3 000 DM.
Über Schwierigkeiten in der Fleischversorgung haben Stimmen aus dem Bezirk Frankfurt etwas zugenommen. Darin wird vor allem nach den Gründen der Schwierigkeiten gesucht. Ein Arbeiter aus dem VEB Kranbau Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt: »Wir müssen auf einem schlechten wirtschaftlichen Boden stehen, wenn unsere Versorgung durch die Schweinepest schon in diesem Maße gefährdet ist. Oder liegt es nur an der Organisation? Wir arbeiten und geben uns Mühe, mehr zu schaffen, also muss man das auch von den Staatsorganen verlangen können.«
Ein Arbeiter vom EKM Finow,12 [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Sollen diese Maßnahmen den neuen Kurs kennzeichnen?13 Warum äußert sich die Regierung nicht? Will sie etwa diese Fehler.«
Folgende negative Stimmen wurden noch bekannt: Ein Arbeiter aus dem VEB Zeiss Jena (Kandidat der SED) äußerte zu mehreren Kollegen: »Jetzt haben wir das Jahr der großen Initiative.14 Da müsst ihr mehr arbeiten und erhaltet weniger Lohn.«
Im VEB Wasserwirtschaftsamt Magdeburg ist im Speisesaal des Wasserwerkes ein Bild von Adenauer15 angebracht, an dessen Füßen ein Stahlhelm und ein Gewehr liegen und über dessen Kopf drei Nazigenerale schweben. Zu diesem Bild erklärte in einer Versammlung ein Chemiker: »Solche Art von Sichtwerbung lehne ich ab. Leute, die so etwas malen, sind selbst schlecht.«
Handel und Versorgung
In den Kühlräumen des Lehrkombinats Berlin, Herzbergstraße lagern 204 Tonnen Schmalz zweiter Qualität bei einer Temperatur in den Kühlräumen von 8 bis 10 Grad plus. Unter diesen Bedingungen besteht die Gefahr des Verderbens. In der Kreiskonsumgenossenschaft Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, Abteilung Produktion, lagern ebenfalls größere Mengen Speck und Schmalz, die verderben, wenn sie nicht bald abverfügt werden.
Im Bezirk Cottbus bestehen Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit HO-Fleischwaren. Durch die Kürzung des Kontingentes ist ein Rückgang des Umsatzes zu verzeichnen. Zum Beispiel im Kreis Herzberg um 14 Prozent.
Verschiedentlich wird über eine schlechte Warenstreuung in ländlichen Kreisen geklagt. Zum Beispiel fehlt es in einzelnen Gemeinden des Bezirkes Schwerin an Zinkeimern und Milchkannen und an Fischkonserven. Sehr gefragt sind auch Stoffe und Textilien. Im Kreis Eisleben des Bezirkes Halle fehlt es an Bettwäsche, Inlett, Herrenhemden, Taschentüchern und für die Landbevölkerung Arbeitskleidung.
Landwirtschaft
Zu politischen Tagesfragen wird wenig Stellung genommen. Zur Genfer Konferenz wurden nur gering Stimmen bekannt, meist positiv. Überwiegend wird begrüßt, dass China an dieser Konferenz teilnimmt. Ein Neubauer aus Bäbelitz, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Konferenz in Genf wird einen anderen Verlauf nehmen, als die Konferenz in Berlin. Aus dem Grunde schon, weil China teilnimmt, welches eine Großmacht darstellt. Die Sowjetunion hat gegenüber den Westmächten jetzt einen starken Vertreter. Sie werden bestimmt etwas erreichen auf der Konferenz.«
Ein Teil äußert sich skeptischer Art, wie z. B. ein Schlosser der MTS in Wittstock, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Konferenz in Genf fällt genauso aus, wie die in Berlin. Wenn auch China an dieser Konferenz teilnimmt, wird sich an dieser Sache nichts ändern. Die Westmächte machen ja doch was sie wollen.«
Vereinzelt wurden negative Stimmen bekannt. Ein Mittelbauer aus Merkendorf, [Bezirk] Gera: »Die werden sich in Genf ja doch nicht einig. Die Russen wollen doch immer nur ihre Ansichten durchsetzen. Die westlichen Staaten müssten sich alle einigen und die Russen unter Druck setzen, damit endlich einmal Ruhe wird.« Ein Großbauer aus Dörstewitz, [Bezirk] Halle: »Die Genfer Konferenz wird keine Einigung bringen, denn jeder vertritt seinen Standpunkt und versucht Vorteile herauszuschlagen.«
Die Vorbereitungen zum 1. Mai [1954] sind auch auf dem Lande in vollem Gange. Vereinzelt wurde uns Folgendes darüber bekannt: Ein Mitglied der LPG Trinwillershagen, [Bezirk] Rostock: »Wir werden es Adenauer am 1. Mai [1954] beweisen, dass er mit seinem EVG-Vertrag nicht weit kommen wird, denn wir stehen fest zur Partei und Regierung.«16
Ein großer Teil der Mitglieder der LPG Hamersleben, [Bezirk] Magdeburg, weigerten sich, eine Maiplakette zu kaufen, mit der Begründung, dass sie durch die Mechanisierung weniger Arbeitseinheiten haben und im Durchschnitt nur 19,00 DM ausgezahlt bekommen. Der Sekretär der Grundorganisation der Gemeinde Ziegendorf, [Bezirk] Schwerin, äußerte gegenüber LPG-Mitgliedern: »Was nützt uns der 1. Mai [1954], lieber wollen wir Kartoffeln pflanzen, da haben wir mehr davon.«
Im Mittelpunkt des Interesses stehen wirtschaftliche Probleme. Größtenteils werden Diskussionen über bestehende Mängel ausgelöst. Über die Futterknappheit äußerte ein Bauer aus dem Kreis Niesky, [Bezirk] Dresden: »Vor Tagen endete meine Sau kurz vor dem Ferkeln, weil ich nichts mehr zu füttern hatte. Es ist am besten, man hängt alles an den Nagel und geht auf Arbeit.«
In fast allen Kreisen des Bezirkes Magdeburg fehlt es an genügend Dünger. Darüber äußerte ein Mittelbauer aus Andorf, [Bezirk] Magdeburg: »Die BHG sagte immer, es ist nichts da, es kommt aber noch etwas. Wir müssen den Dünger zur rechten Zeit haben, dann können wir die bestmöglichen Erträge herausholen. Wir sind an unseren Boden und an die Witterung gebunden und die Regierung muss dafür sorgen, dass der Dünger rechtzeitig da ist.«
Über den Mangel an Saatkartoffeln äußerte ein Landarbeiter aus Garz, [Bezirk] Rostock: »Im Herbst wurden alle Kartoffeln erfasst und jetzt fehlt an allen Ecken das Saatgut. Überall, wo man mit Bauern zusammenkommt, herrscht eine miese Stimmung. Von vielen wird zum Ausdruck gebracht, dass sie vielleicht eingesperrt werden im Herbst, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen und dabei haben sie nicht einmal Schuld.«
Im Bezirk Leipzig wurde den MTS die Zuteilung von Mähdreschern gekürzt. Dazu äußerte der Leiter der MTS Wiesenena, [Bezirk] Leipzig: »Statt der vier Mähdrescher erhalten wir nur zwei. Dadurch ist es uns nicht möglich, die abgeschlossenen Verträge einzuhalten und wir werden eine Konventionalstrafe bezahlen müssen.«
Negative bzw. feindliche Stimmen wurden nur vereinzelt bekannt. Ein Bauer aus Golm, [Bezirk] Neubrandenburg: »Mit der Oder-Neiße-Grenze bin ich nicht einverstanden. Was Russland betrifft, so möchte ich sagen, dass es Finnland angegriffen hat,17 dass es auch möglich ist, dass es die Weststaaten angreift.«
Ein Kleinbauer aus Berkholz, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte, als man sich bei ihm nach der Frühjahrsbestellung erkundigte, Folgendes: »Kommt ihr schon wieder treiben, ich denke wir können wirtschaften wie wir wollen.«
Übrige Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird wenig diskutiert. Zur Ächtung der Atom- und Wasserstoffbomben sowie zur Genfer Konferenz wurden nur vereinzelt Stimmen bekannt. Meist positiv. Größtenteils wird die Teilnahme Chinas an der Genfer Konferenz begrüßt und es wird als ein Sieg der Friedenskräfte angesehen. Ein Angestellter (SED) der Post in Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg: »Jeder ehrliche Mensch erhofft sich einen guten Erfolg von der Genfer Konferenz. Die Wasserstoffbombe ist eine Mordwaffe. Es wäre nicht auszudenken, wenn diese angewendet würde. Ich hoffe, dass in Genf Übereinkommen getroffen werden, die zur Ächtung der Atomwaffe beitragen.« Ein Krankenpfleger aus Rodach,18 [Bezirk] Gera: »Der Abwurf der Wasserstoffbombe ist als Beeinflussung der Genfer Konferenz gedacht.19 Dies hat aber die Weltöffentlichkeit in Bewegung gebracht und eine entgegengesetzte Wirkung erzielt.«
Ein Einwohner aus Mellenbach,20 [Bezirk] Suhl: »Ich sehe es als einen Erfolg an, dass die Konferenz in Genf überhaupt zustande gekommen ist und vor allem, dass China daran teilnimmt. Das ist ein großer Sieg des Friedenslagers.«
Ein Teil äußert sich skeptisch und bezweifelt den Erfolg der Genfer Konferenz. Ein Geschäftsmann (LDPD) aus Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich kann einfach nicht daran glauben, dass man auf der Genfer Konferenz positive Ergebnisse erzielen wird. Wenn auch die SU ehrlich bestrebt ist, mit Unterstützung von China und Korea den richtigen Weg zu gehen, so treiben die westlichen Außenminister doch wieder einen Keil hinein, um die ganze Sache zu sprengen.«
Zum 1. Mai [1954] wird überwiegend positiv Stellung genommen. Ein Einwohner aus Worbis, [Bezirk] Erfurt: »Der diesjährige 1. Mai [1954] gibt uns Anlass, froh in die Zukunft zu blicken. Die Kriegstreiber sollen nur nicht immer damit prahlen, wie stark sie sind. Sie sind schwach. Stark ist die Arbeiterklasse, das werden wir am 1. Mai [1954] zeigen.«
Vereinzelt wurden negative Stimmen darüber bekannt. Ein Mühlenbesitzer (CDU) aus Worbis, [Bezirk] Erfurt: »Wenn sie auch in der Presse noch so viel über den 1. Mai [1954] schreiben, sie bringen doch nichts Richtiges auf die Beine. So wie wir in der Hitlerzeit den 1. Mai gefeiert haben, das werden sie sowieso nicht fertigbringen.«
Ein großer Teil der Angestellten der Rentenabteilung der VAB Berlin,21 Hankestraße sind mit der Verteilung der Prämien nicht einverstanden und es kommt zu Äußerungen wie, die Prämien bekommen ja doch bloß wieder die, die schon ein großes Gehalt haben und die »Nurfachkräfte« werden sowieso nicht berücksichtigt. An der 1.-Mai-Demonstration wollen sie sich nur dann beteiligen, wenn sie nicht immer stundenlang warten müssen. Dann gehen sie lieber in ein Lokal und betrinken sich.
Im Mittelpunkt des Interesses stehen persönliche und wirtschaftliche Belange, deshalb wird mehr über diese Fragen gesprochen. Eine Kundin erklärte in einem HO-Kaufhaus in Leipzig: »Neun Jahre nach dem Kriegsende und es wird immer noch nicht besser. Nicht einmal Fleisch habt ihr in der HO. Sie sollen doch den Pferdekopf heraushängen.«22
Eine Hausfrau aus Frankfurt äußerte in einer HO-Fleischerei: »Warum ist die vorhandene Ware so schnell vergriffen. Es gab doch früher schon Jugendtreffen,23 da hat man nicht gemerkt, dass vorher das Fleisch aus dem Verkauf herausgezogen wurde. Im neuen Kurs müsste das anders aussehen.«
Ein Handwerker aus Herzberg, [Bezirk] Cottbus: »Hier wird immer gesprochen, dass es besser wird, aber jetzt sieht man es wieder, es gibt kein HO-Fleisch. Viele wollen sich etwas kaufen und bekommen nichts, das sind Zustände. Es ist auch an den Materialien zu merken, die ich in meiner Schleiferei brauche. Es taugt sehr vieles nicht.«
Vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen bekannt, die sich meist gegen unsere Regierung richten. Ein Lehrer aus Gielow, [Bezirk] Neubrandenburg, lehnte es ab, die Kinder mit dem Lebenslauf unseres Präsidenten vertraut zu machen. Seine Bemerkung dazu ist: »Der Stoff ist zu trocken«.
Ein Bäckermeister (DBD) aus Japzow, [Bezirk] Neubrandenburg: »1950 war ich Wahlleiter in der Gemeinde. Eine Mitarbeit bei den kommenden Wahlen kommt für mich nicht wieder infrage. Ich habe genug von den Wahlen im Jahre 1950.24 Es waren keine freien Wahlen. Es durfte keiner in die Wahlkabine gehen und jetzt wird es genau wieder so werden.«
Eine Einwohnerin aus Grimma, [Bezirk] Leipzig: »Am 26. Juli [1954] soll so ein Tag wie der 17. Juni [1953] stattfinden. Darauf warte ich schon lange.«
Am 27.1.1954 erhielt der VEB Jachtwerft Berlin-Köpenick vom Schiffsbaukontor des deutschen In- und Außenhandels Berlin eine Aufforderung, einen technischen Vertreter für die DDR-Ausstellung in Kairo25 freizustellen. Dieser Aufforderung kam man nach und die erforderlichen Unterlagen wurden dem deutschen Innen- und Außenhandel zugeleitet. Die Beschaffung der Reisepapiere dauert durch die Verzögerung des deutschen Innen- und Außenhandels fast neun Wochen, sodass die Reise des technischen Leiters nach Kairo zwecklos wurde, da am 30.3.1954 die Ausstellung abgeschlossen wurde.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:26 Potsdam 5 200, Dresden 730, Cottbus 400, Karl-Marx-Stadt 27.
KgU:27 Dresden 1 400, Erfurt 120.
NTS:28 Potsdam 865, Dresden 760, Halle 41.
CDU-Ostbüro: Potsdam 250.
»Aktionsgemeinschaft der FDJ«:29 Potsdam 50.
Im Bezirk Cottbus wurden mehrere Tausend gefälschte »Tribünen«30 gefunden.
Die KgU beabsichtigt, zum 1. Mai [1954] in Berlin eine Flugblattaktion zu starten, wozu bestimmte Gruppen organisiert sind. Die Flugblätter werden vom DGB herausgegeben. Das SPD-Ostbüro hat den Ballonbasen an der Demarkationslinie den Auftrag gegeben, am 1.5.1954 eine Großaktion durchzuführen. Hierzu hat jede Basis 3 000 Klein- und fünf Großballons erhalten. Die Flugblätter beinhalten Hetze über den 1. Mai und über den 17. Juni [1953]. Das Auflassen der Ballons soll öffentlich als Abschluss der Maikundgebungen stattfinden.
In Plau, [Bezirk] Schwerin, wird die Jugendherberge laufend von Jugendlichen beschädigt und die Fenster eingeschlagen. Einige Jugendfreunde der Wandergruppen wurden ebenfalls bedroht. Weiterhin wurde in einer Baracke, wo Junge Pioniere wohnen, eingebrochen, ein Teil der Sachen gestohlen und der andere Teil vernichtet.
Einem Brigadier vom Bahnbetriebswerk Seddin, [Kreis] Potsdam, wurde eine Westzeitung in den Tischkasten gelegt, wahrscheinlich, weil er den Antrag gestellt hat, Kandidat der SED zu werden.
Am 28.4.1954 wurde in dem örtlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Plauerhagen, [Bezirk] Schwerin, eine Tüte mit Giftweizen gefunden, die von unbekannten Tätern über Nacht dorthin geworfen wurde.
Am 28.4.1954 riss bei einem Düngerstreuer der MTS Mockrehna, [Bezirk] Leipzig, beim Streuen die Transportkette, da durch unbekannte Täter ein Stück Bleirohr in den Streuer geworfen wurde.
Am 28.4.1954 wurde in den Leipziger Eisen- und Stahlwerken von unbekannten Tätern Sand in eine Drehbank geworfen, sodass sie ausfiel.
Am 26.4.1954 flog im VEG31 Schersen, [Bezirk] Erfurt, ein Traktor auseinander. In der Schmierölleitung befand sich Wasser, was von Unbekannten eingegossen war.
Am 28.4.1954 wurde im RAW Jena, [Bezirk] Gera, beim Abnehmen der Achsbuchsen eines Waggons dort ein Karabinergeschoss gefunden. Bei längerem Laufen des Waggons wäre das Geschoss zur Entzündung gekommen und hätte sich an der Achse festgesetzt.
Ein gefälschtes Rundschreiben erhielt der Rat des Kreises Greiz, [Bezirk] Gera, worin das Staatliche Kreiskontor aufgefordert wird, 20 Prozent Dünger für den freien Verkauf bereitzustellen.
Im »Telegraf« vom 30.4.1954 wird mitgeteilt, dass der Berliner DGB-Vorsitzende Scharnowski32 am 1. Mai [1954] nachmittags in der bunten Waldbühnenveranstaltung für Ostberliner sprechen wird.33
Am 28.4.1954 brannten in Kniepow, [Bezirk] Rostock, zwei Wohnhäuser, zwei Ställe und eine Scheune mit Vieh und Inventar ab. Ein Kleinkind konnte nicht gerettet werden. Geschädigt wurden drei Kleinbauern. Die Ursache des Brandes wird noch ermittelt.
Einschätzung der Situation
Bei den im Allgemeinen in geringem Umfang geführten Diskussionen zu politischen Fragen steht weiterhin die Genfer Konferenz im Mittelpunkt. Meistens wird dadurch eine Entspannung der internationalen Lage erhofft, oft auch das Verbot der Massenvernichtungsmittel. Ein Teil der Bevölkerung erwartet keine positiven Ergebnisse von der Konferenz.
Weiterhin stehen besonders in den Betrieben die Vorbereitungen zum 1. Mai [1954] im Vordergrund, dabei besteht teilweise noch Unzufriedenheit über Prämierungen und Aktivistenauszeichnungen.
In der Landwirtschaft macht sich weiterhin Mangel an Futter, Dünger und teilweise an Saatgut bemerkbar. Desgleichen Mangel an HO-Frischfleisch in der Versorgung der Bevölkerung.
Die Verbreitung feindlicher Flugblätter ist nicht mehr so stark wie in letzter Zeit.
Anlage vom 30.4.1954 zum Informationsdienst Nr. 2193
[ohne Titel]
Stimmen aus Westberlin zur Mai-Kundgebung auf dem Platz der Republik34
In einer Unterhaltung einiger Westberliner DGB-Mitglieder, die bei der BVG beschäftigt sind, wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie es ablehnen, am 1. Mai [1954] an der Westberliner Kundgebung teilzunehmen. Eine Zugabfertigerin sagte dazu: »Ich werde mich nicht beteiligen, die sollen erstmal dafür sorgen, dass wir nicht sieben Tage arbeiten müssen und erst den achten Tag freihaben.« Ein Zugabfertiger äußerte: »Man weiß ja gar nicht mehr, warum man dahin gehen soll. Früher haben es die Arbeiter gewusst, aber heute sind alle dabei und ich möchte nicht neben Ullmann35 (Senator für Verkehr, Privatkapitalist) stehen.«
Ein Weichensteller: »Wenn ich mal frei habe, haue ich mich auf die Feige und hör mir nicht das Gequatsche an. Dies ist ja doch alles Blödsinn und für uns machen sie ja sowieso nichts.« Ein Bahnhofsschaffner: »Ich gehe auch nicht mit, da müssten sie schon mal was für uns machen, dann würde ich mich beteiligen.«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs klang immer wieder durch, dass wahrscheinlich die Beteiligung größer wäre, wenn der DGB die Kundgebung allein gemacht hätte.
Ausführungen des 1. Vorsitzenden der SPD des Kreises Berlin-Reinickendorf zum 1. Mai 1954
Der 1. Vorsitzende der SPD des Kreises Reinickendorf äußerte auf einer Kreisdelegiertenversammlung zum 1. Mai Folgendes: »Von vielen Abteilungen des Kreises seien Resolutionen an den Kreisvorstand ersucht worden, von einer Maigroßkundgebung mit dem verhassten Schreiber-Senat36 Abstand zu nehmen. Nach reiflicher Erwägung aller Gegebenheiten durch den Landesvorstand und die Kreisvorstände sei erkannt worden, dass es sich die SPD nicht leisten kann, durch Ausscheiden von der Traditionsfeier des 1. Mai [1954] – als Kampftag der Sozialisten –, die Bevölkerung, die Werktätigen, Genossinnen und Genossen in Konflikt zu bringen und möglicherweise ungewollt in die Irre zu führen. Darum wird am 1. Mai [1954] im gespaltenen Berlin die SPD mit allen freiheitlichen Kräften wie in den Jahren vorher die Demonstration zum Platz der Republik propagieren. Unsere Transparente werden Losungen tragen, worin zum Ausdruck kommt, wie groß schon die Schuld der Schreiber-Konsorten an der Berliner Bevölkerung gewachsen ist. Wir werden in geeigneter Weise darstellen, was wir uns in der Zukunft vorstellen, denn der 17. Juni [1953] wird zum Staatsfeiertag des Volkes erhoben und die Aufgabe des 1. Mai [1954] in Abwandlung seines Sinnes übernehmen.«37
Einfluss des FDGB auf den DGB
Das Institut für Arbeiterbildung in Berlin-Dahlem hat mit dem 1.4.1954 seine Tätigkeit eingestellt und soll aufgelöst werden, da die amerikanischen Gelder, mit denen es bisher finanziert wurde, nur noch bis zum 30.6.1954 gezahlt werden. Der DGB, der Senator für Volksbildung von Westberlin oder irgendeine andere deutsche Behörde will die Kosten nicht übernehmen.
Jetzt ist Scharnowski für die Erhaltung des Institutes eingetreten. Er erklärte dazu, dass man in den letzten Wochen und Monaten die Beobachtung gemacht hätte, dass DGB-Versammlungen von 300 bis 500 Mitgliedern von nur 2 bis 3 gut geschulten FDGB-Agitatoren so beeinflusst wurden, dass die Versammlungen ganz wo anders endeten, als das beabsichtigt war.