Zur Beurteilung der Situation
6. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2332 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Nur ein geringer Teil der Werktätigen äußert sich zu politischen Tagesfragen. Bei diesen wenigen Diskussionen steht die Volkskammerwahl im Mittelpunkt.1 Meist äußern sich Arbeiter, weniger Angestellte. Der überwiegende Teil der Stimmen ist positiv. Darin begrüßt man die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste und verpflichtet sich, am 17.10.1954 die Stimme den Kandidaten der Nationalen Front zu geben.2
In den Versammlungen zur Vorbereitung der Volkswahl in Berlin hat sich die Stimmung gegenüber den vorherigen Versammlungen gebessert, die Kollegen sind aufgeschlossener. Einzel- und Kollektiv-Verpflichtungen werden weiter von den Werktätigen übernommen.
In den negativen Diskussionen werden immer wieder Listenwahlen der einzelnen Parteien gefordert. Vereinzelt wird gegen die Kandidaten der Nationalen Front Stellung genommen, wobei man einzelne Kandidaten nicht für würdig hält, in die Volkskammer gewählt zu werden. Es treten auch Meinungen auf, in denen man zum Ausdruck bringt, dass eine Wahl nicht nötig sei, oder dass es gleich ist, ob man wählt oder nicht, denn es ändert sich sowieso nichts an der Politik.
Ganz vereinzelt werden Stimmen laut, die besagen, dass nach der Wahl bei uns eine Wehrmacht aufgestellt wird. Ein Arbeiter aus dem VEB Heinrich Rau,3 [Bezirk] Potsdam, äußerte: »Ob wir zur Wahl gehen oder nicht, das Ergebnis liegt sowieso schon fest.« Und ein anderer Arbeiter aus dem gleichen Betrieb meinte: »Wozu wählen wir? Es wird ja doch nicht anders. Ich gehe da nicht hin.«
Ein Angestellter vom Hauptbahnhof Leipzig äußerte: »Die Wahlen sind gar nicht nötig und kosten nur eine Menge Geld. Das Problem der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland kann nur mit der Waffe, durch einen Krieg zwischen Amerika und Russland, gelöst werden.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Gaswerk »Max Reimann« Leipzig erklärte: »Die Wahlen am 17.10.[1954] sind nur Scheinwahlen, ich verzichte auf solche Wahlen und warte lieber, bis es einmal anders kommt.«
Ein parteiloser Arbeiter vom VEB Zellwolle Wittenberge erklärte: »Ob wir wählen oder nicht, das ist gleich. Denn an der Politik ändert sich bei uns sowieso nichts. Für die Parlamente sind die Kandidaten bereits bestimmt und die Wahl am 17.10.[1954] ist nur noch eine Formalität.«
In der Mathias-Thesen-Werft, [Bezirk] Rostock, wurde über den Abschluss der Londoner Konferenz4 diskutiert. Ein älterer Kollege brachte zum Ausdruck, dass wieder viele Jugendliche von Westdeutschland in die DDR kommen werden und zwar diese, die keine Soldaten spielen wollen. Ein Jugendlicher von der Werft antwortete darauf: »Hier müssen sie auch bald Soldat spielen, denn auch bei uns wird nach der Wahl eine Armee aufgestellt.«
Eine Missstimmung trat unter den Arbeitern des VEB Kranbaues Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt, durch die Kandidatur des Kollegen [Name 1] als Volkskammerabgeordneten ein. Unter den Arbeitern wird diskutiert, dass [Name 1] einen unmoralischen Lebenswandel führen soll, oft im angetrunkenen Zustand in Schlägereien verwickelt war. Ein Arbeiter äußerte dazu: »Das ist nun unser Volkskammerabgeordneter. Erst setzt er eine Menge Kinder in die Welt, hat mit anderen Frauen Verhältnisse und besäuft sich, und dann sollen wir ihn wählen.«
Auch gegen den Kandidaten der Volkskammer, Generalleutnant Hoffmann,5 welcher sich in Strausberg seinen Wählern vorstellte, war die Stimmung eines Teiles der Bevölkerung, vor allem der Bauarbeiter, nicht gut. Ein Bauarbeiter äußerte: »Hoffmann soll nicht vergessen zu sagen, dass er im letzten Krieg auf sowjetischer Seite gegen die Deutschen gekämpft hat.« Diese Meinung vertrat ein großer Teil der Bauarbeiter.
Unter einem kleinen Teil der Arbeiter verbreitet sich die abfällige Meinung, dass zu viel Agitationsarbeit betrieben würde und dass die Aufklärung als aufdringlich empfunden wird.
In einer Diskussion brachte ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Jutewerk Triebes, [Bezirk] Gera, im Zusammenhang mit dem V. Jahrestag der Gründung der DDR Folgendes zum Ausdruck: »Diese Woche jährt sich zum 5. Male der Gründungstag der DDR. Ich als Arbeiter kann nur sagen, dass sich der Lebensstandard von Jahr zu Jahr gebessert hat und die Regierung der DDR ständig alles erdenkbare Gute für die Arbeiter getan hat. Auch setzt sich unsere Regierung immer wieder für die Schaffung der Einheit Deutschlands und die Erhaltung des Friedens ein. Aus diesem Grunde soll jeder ehrliche Arbeiter den V. Jahrestag der DDR feierlich begehen und fest zur Regierung und zur DDR stehen.« Die ihm zuhörenden Kollegen stimmten diesen Ausführungen zu und äußerten sich in ähnlichen Stellungnahmen.
Im VEB Prägedruck Greiz, [Bezirk] Gera, äußerte sich ein parteiloser Kollege zu dem Kassierer des FDGB: »Ich bezahle keine FDGB-Beiträge mehr, ich habe es schon einmal so gemacht und da haben sie mich aus dem FDGB rausgeschmissen und dann bin ich wieder hineingegangen, dadurch habe ich einige Monate gespart.«
Im VEB Möbelwerk Zeulenroda, [Bezirk] Gera, sind die Kollegen ungehalten darüber, dass sie ab 1.1.1955 die Gewerkschaftsbeiträge im Voraus zahlen sollen. Einige Kollegen äußerten sich wie folgt: »Da kann der Betrieb machen was er will, Vorauszahlungen der FDGB-Beiträge leisten wir nicht. Der Betrieb gibt uns Arbeitern auch kein Geld im Voraus. Mit dieser Maßnahme wird die Mehrzahl der Arbeiter nicht einverstanden sein.«
Die Wachmonteure in der Lastenverteilung der BEWAG Berlin bringen zum Ausdruck, dass sie im Verhältnis zu den Schaltisten der Kraftwerke unterbezahlt werden, trotzdem sie praktisch die gleiche Arbeit leisten. Die Schaltisten der Kraftwerke erhalten einschließlich Zulage 620 DM, die Wachmonteure dagegen nur 520 DM. Große Schwierigkeiten würden entstehen, wenn Kollegen aufgrund der Lohnverhältnisse den Betrieb verlassen.
Die Arbeiter der »Penewerft« sind darüber verärgert, dass die Meister die erfüllten Normen mit 130 bzw. 140 Prozent nicht anerkennen und diese bis zu 125 Prozent drücken.
Einige Kollegen der Akkumulatorenfabrik Berlin-Oberschöneweide erklärten übereinstimmend, dass der TAN-Sachbearbeiter die Normen am Schreibtisch festlegt,6 die jeder sachlichen Grundlage entbehren. Durch diese Methode haben schon viele Kollegen den Arbeitsplatz durch Kündigung verlassen, ohne dass die Werks- bzw. Kaderleitung die näheren Gründe erfahren hat. Die Kollegen sind darüber ungehalten und erklären, dass man sich mit dem TAN-Sachbearbeiter auf anderen Stellen befassen müsse, da sie der Meinung sind, dass derselbe es bewusst mache, um den Arbeitsfrieden zu stören. Bei diesen Normveränderungen handelt es sich um alte bestehende Normen und nicht um technisch begründete.
Waggonmangel: Im Kaliwerk »Friedenshall«, [Bezirk] Halle, bestehen Schwierigkeiten in der Kohlenzufuhr, da der Lieferbetrieb Grube »Bergwitz«, Kreis Wittenberg, keine Waggons zugeteilt bekommt. Im Salzbergwerk Bernburg7 und in den VEB Salzmühlen Bernburg bestehen Produktionsschwierigkeiten, da für vertraglich gebundene Lieferungen trotz Einplanung keine Waggons gestellt werden.
Arbeitskräftemangel: Im VEB Dampfkesselbau Hohenthurm, [Kreis] Saalkreis, [Bezirk] Halle, treten Schwierigkeiten in der Produktionserfüllung auf, da es an 15 Kesselrohrschweißern fehlt.
Gerücht: Auf dem [Wismut-]Schacht 227 in Zobes,8 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird das Gerücht verbreitet, dass in China große Erzvorkommen gefunden wurden und dass man in Zobes bald beginnen wird, für China zu werben.
Materialschwierigkeiten
Im VEB »Gubener Wolle«, [Bezirk] Cottbus, fehlt es an heller Wolle. Aufgrund dessen musste die Spätschicht eingeschränkt werden und Doppelspulweber teilweise zum Einstuhlsystem übergehen.
Im VEB Textilwerk Zwickau fehlt es an Garn, dadurch stehen zehn Maschinen in der Zwirnerei still. Die Arbeiter sind ohne Beschäftigung.
Handel und Versorgung
Der Bezirk Rostock hat Schwierigkeiten in der Belieferung mit Einkellerungskartoffeln. Im Kreis Nauen, [Bezirk] Potsdam, beklagen sich Berufstätige über den Konsum, dass er die Belieferung auf Sondermarken mit der Begründung ablehnt, dass zzt. Einkellerungskartoffeln geliefert werden.
Der Bezirk Gera klagt darüber, dass ihm vom Staatssekretariat für Erfassung untersagt wurde, die Kartoffeln wie bisher aus dem Bezirk Erfurt zu beziehen. Die Kartoffeln müssen aus Frankfurt geholt werden. Von dort werden aber nur mittelfrühe Kartoffeln geliefert, die nur noch für Futterzwecke Verwendung finden können. Außerdem ergeben sich erhöhte Unkosten und Transportschwierigkeiten.
Im Bezirk Schwerin ist der Transport von Kartoffeln nur durch die ungenügende Bereitstellung von Waggons eingeengt, sodass im VEG Karow, [Kreis] Lübz, [Bezirk] Schwerin, 30 000 dztr hochwertige Saatkartoffeln lagern.
Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohlen hat der Kreis Hettstedt, [Bezirk] Halle, und teilweise der Bezirk Potsdam. Im Kreis Rathenow, [Bezirk] Potsdam, z. B. werden keine Kohlen mehr geliefert, obwohl nur eine 70-prozentige Belieferung erfolgt ist.
In Berlin wurde das Treibstoffkontingent gekürzt, wodurch Schwierigkeiten in der Belieferung mit Kartoffeln und anderen Lebensmitteln auftreten.
Der Bezirk Suhl klagt über das schlechte Mehl aus der Ernte 1954, welches ohne Zusatz von Mehl aus der Ernte 1953 nicht zu verwenden ist, anderenfalls die Brote verderben wie z. B. in der Konsumbäckerei in Wallrabs, wo 400 Brote verdorben sind.
Mangel an HO-Fleischwaren haben die Kreise Jessen, Spremberg und Calau, [Bezirk] Cottbus. In Calau sind außerdem noch Mängel in der Belieferung mit Markenfleisch zu verzeichnen. In einigen Orten des Kreises Eisleben, [Bezirk] Halle, machen sich die Mängel in der Fleischversorgung dadurch bemerkbar, dass es dort fast ausschließlich nur Hammelfleisch gibt.
Im Bezirk Halle fehlt es an Nährmitteln, besonders Kindernährmitteln, Hülsenfrüchten und Textilien. Im Bezirk Cottbus an Winterkleidung. Große Nachfrage nach Ersatzteilen für Fahrräder besteht in den ländlichen Gemeinden des Bezirkes Schwerin, nach Perlonstrümpfen im Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam, und nach Bohnenkaffee im Bezirk Rostock.
Landwirtschaft
Die Diskussionen über die Volkskammerwahl sind noch verhältnismäßig gering. Dies wird teilweise durch die Inanspruchnahme bei der Hackfruchternte und der Winteraussaat begründet. Hauptsächlich und überwiegend positiv ist der sozialistische Sektor daran beteiligt, was auch durch zahlreiche weitere Selbstverpflichtungen zum Ausdruck kommt.
Negativ diskutieren vorwiegend die Gegner aus den Reihen der Groß-, Mittelbauern und der bürgerlichen Kreise. So sagte der VdgB-Vorsitzende (Großbauer) aus Märkisch-Buchholz, [Bezirk] Potsdam: »Warum denn zur Wahl gehen, ich bin mit dem russischen Regime nicht einverstanden, denn die machen uns Bauern kaputt. Die Industriearbeiter werden zu gut bezahlt und wir bekommen dadurch keine Arbeiter aufs Land.«
Ein Mittelbauer aus Erla-Crandorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das ist doch keine Wahl. Man kann doch gar nicht richtig auswählen. Es müssten zumindest9 zwei Listen erstellt werden, um eine demokratische Wahl durchführen zu können.«
Ein werkt[ätiger] Bauer aus Oderin, [Bezirk] Potsdam: »Die Volkswahl ist sowieso Schwindel, die machen es genauso wie das letzte Mal.10 Sie wählen drei Tage und abends, wenn keiner mehr da ist, kippen sie den Kasten um, suchen die schlechten Zettel raus und machen dafür gute rein. Bei der Wahl sind wir doch nur Werkzeug des Staates. Wir kriegen den Zettel in die Hand gedrückt, stecken ihn in den Kasten und damit ist gewählt. Der ganze Apparat besteht aus Lug und Trug. Frühmorgens, wenn sie aufstehen, fangen sie zu schwindeln an und schwindeln bis zum Schlafengehen.«
Ein werktätiger Bauer, ehemaliger SA-Angehöriger, aus Oderin: »Man muss nur nicht viel sprechen. Nur hingehen und sie machen lassen wie sie wollen. Zur Volksbefragung11 habe ich die EVG12 gewählt und wenn ich jetzt zur Wahl gehe, dann braucht man ja nur den Zettel glatt durchstreichen, dann ist er ungültig.«
Der Prediger [Name 2] aus Freyburg, [Bezirk] Halle, sagte: »Der Kirchbesuch ist wichtiger als die Volkswahl, denn Gott kann uns eher helfen.«
Neben Forderungen nach Parteiwahlen, wird oft die Forderung nach der »freien Wirtschaft« gestellt. Ein Bauer aus Zossen, [Bezirk] Potsdam: »Wenn die Bauern mehr Vertrauen zu unserer Regierung haben sollen, dann dürfen von der Regierung keine Zwangsmaßnahmen getroffen werden. Wenn wir eine freie Wirtschaft hätten, würde der Bauer genauso viel abliefern. Der Verbraucher würde auch schneller zu den Waren kommen.«
Teilweise treten negative Diskussionen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze auf, wie z. B. ein Großbauer aus der Gemeinde Klein-Krausnick, [Bezirk] Cottbus: »Unter Patriotismus, Kampf für das Vaterland und Kampf um jeden Quadratmeter Land verstehe ich die Oder-Neiße-Grenze, die von Westdeutschland niemals anerkannt wurde.«
Der Pfarrer [Name 3] aus Karsdorf, Kreis Nebra, [Bezirk] Halle, sagte: »Auf den Bauern ruht heute eine große Last. Sie ernten 50 Ztr. und müssen 90 Ztr. abliefern. Wir alle müssen für die Erhaltung des Friedens und für die Einheit Deutschlands kämpfen, damit jeder, der seine Heimat verloren hat, wieder zurückkommt.«
Sollablieferungen
In den Kreisen Seelow und Bad Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt, tritt unter den Mittel- und werktätigen Bauern jetzt die Meinung auf, den Drusch des Getreides zurückzustellen und erst das Gemüse von den Feldern einzubringen, damit dieses nicht verdirbt. Diese Gegenden sind überwiegende Gemüsegegenden. Die Räte der Kreise aber verlangen von den Bauern, dass sie erst ihr Getreidesoll abliefern müssen. Diese Anweisung wird von den Bauern als formal bezeichnet und man sagt besonders im Kreis Seelow: »Der Rat des Kreises hat keine Verbindung zu den Bauern.«
Ein Teil der Bauern aus dem Bezirk Cottbus bringt kein Verständnis dafür auf, das Getreide auf dem schnellsten Wege abzuliefern. Sie begründen es damit, dass das Getreide meterhoch liegt und dadurch umkommt, weil es zu nass abgeliefert werden muss. Der Vorsitzende der VdgB in Qualitz, [Bezirk] Schwerin, äußerte: »Wenn das mit der Ablieferung so weitergeht, gehe ich lieber zu Adenauer13 und werde Maurer.«
Übrige Bevölkerung
Aufgrund verstärkter Aufklärungseinsätze haben die Gespräche über die Volkswahl etwas zugenommen, jedoch ist der Umfang noch immer verhältnismäßig gering. Die Äußerungen tragen nach wie vor überwiegend positiven Charakter und stammen größtenteils von Hausfrauen, Rentnern, Verwaltungsangestellten und zum Teil auch von Handwerkern. Sie bringen immer wieder zum Ausdruck, dass sie mit der Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste einverstanden sind und dass sie ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front geben werden.
Es sind immer wieder die gleichen Kreise, die in abfälliger Form über die Wahl sprechen, und zwar sind es vorwiegend bürgerliche Menschen wie z. B. Geschäftsleute und Unternehmer. Sie sprechen sich meist gegen die gemeinsame Wahlliste aus mit der Begründung, dass die Wahl dadurch nicht demokratisch sei. Zum Beispiel sagte ein Tischlermeister aus Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin der Meinung, dass jede Partei ihre Kandidaten selbst aufstellen sollte, damit man die Einstellung der Bevölkerung erkennen kann. Man kann bei der jetzigen Form der Wahl nicht seine richtige Meinung zum Ausdruck bringen.«
Ein Gewerbetreibender aus Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Warum macht man nur so viel Geschrei um die Wahl. Es gibt doch nur eine Liste und die muss gewählt werden. Da kann doch nichts schiefgehen.«
Neben einer ganzen Reihe positiver Stellungnahmen aus den Reihen der bürgerlichen Parteien kommt es immer wieder zu negativen Äußerungen. Zum Beispiel sagte ein CDU-Kreisvorstandsmitglied aus Görlitz, [Bezirk] Dresden: »Ich bin der Meinung, dass dies keine Wahl ist, da es keine Entscheidung gibt. Die ganze Wahl ist nicht notwendig, da ja vorher alles festliegt und niemand Einfluss auf die Maßnahmen der Regierung hat. Die Rechenschaftslegung14 und die Kandidatenvorstellung sind nur Täuschungen der Wähler. Das Geld sollte lieber für andere Zwecke verwendet werden«.
In einer Ortsausschusssitzung der Nationalen Front in Schenkenberg, [Kreis] Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte der Vorsitzende der NDPD: »Die aufgestellten Kandidaten der Nationalen Front ist alles Schwindel [sic!]. Wer die bloß aufgestellt hat? Die vorhergehenden haben uns halb und die jetzigen werden uns ganz den Schlund abdrehen.« Als man mit ihm diskutieren wollte, verließ er den Versammlungsraum.
Aus den Kreisen der Kirche: Es gibt viele positive Beispiele von Pfarrern über ihre Einstellung zur Volkswahl, dass sie z. B. im Rahmen der Nationalen Front mitarbeiten oder die Kirchengänger auffordern, gemeinsam zur Wahl zu gehen. Zum Beispiel forderte der Pfarrer aus Raguhn, [Kreis] Bitterfeld, [Bezirk] Halle, die Gemeinde auf, dass die Christen ihre Stimme am 17.10.[1954] den Kandidaten der Nationalen Front geben sollen, das wäre eine Tat für den Frieden.
Daneben gibt es aber eine ganze Reihe negativer Erscheinungen. Unter anderem lehnen Pfarrer eine Stellungnahme zur Wahl ab oder sie verbreiten in ihren Predigten negative Tendenzen. Zum anderen sprechen einige offen aus, dass sie nicht zur Wahl gehen werden. Zum Beispiel lehnen im Kreis Meiningen einige Pfarrer ab, im Rahmen der Nationalen Front bei den Vorbereitungen der Volkswahlen mitzuarbeiten. Ein Pfarrer legte seine Funktion als Vorsitzender des Ortsausschusses der Nationalen Front mit der Begründung nieder, dass die Regierung ihre Gesetze und Verordnungen nicht einhalte.
In Herzberg, [Bezirk] Cottbus, waren an der Kirchentür Plakate mit der Aufschrift »Wähle – aber wähle richtig« befestigt.
Im Bezirk Potsdam wird unter den Pfarrern viel über die Broschüre der Nationalen Front »Gottesgebot und Staatsgesetz«15 diskutiert. In Predigten nahmen mehrere Pfarrer gegen dieselbe Stellung. Zum Beispiel zeigte der Superintendent von Jüterbog in einer Predigt diese Broschüre den Kirchengängern und sagte dazu, dass in diesem Buch die Kirche mit einer Weltanschauung verglichen wird, womit er sich nicht einverstanden erkläre. Er meinte, dass eine gleiche Zeit nach 1933 bestand, die zwölf Jahre dauerte. Ein Pfarrer aus Potsdam meinte, dass die Broschüre Gotteslästerung sei und er forderte, in diesem Zusammenhang die Kirchengänger auf, in Werken und Fabriken den Gedanken zu vertreten, dass Gott alles lenkt und wir Menschen nichts machen können.
Verschiedentlich kommt es vor, dass Personen aufgrund persönlicher Verärgerung oder wegen bestehender wirtschaftlicher Mängel negativ zur Wahl und darüber hinaus zu unserer Politik Stellung nehmen. Zum Beispiel wurde in einer Ärzteversammlung in Meiningen, [Bezirk] Suhl, zum Ausdruck gebracht, dass die anwesenden Ärzte mit unserer Politik nicht einverstanden sind, solange ihre Kinder nicht zum Studium zugelassen werden. Aus dem Grunde lehnen sie auch eine Mitarbeit im Friedenskomitee ab. Ähnliche Tendenzen treten auch unter den Ärzten des Kreises Neuhaus auf, wobei sie sich jeglicher Mitarbeit und Diskussion zur Volkswahl enthalten.
Im Kreis Eisenberg, [Bezirk] Gera, wird in den Kreisen des Einzelhandels über die ungenügende Warenzuteilung geklagt. Bei den Schaufensterausgestaltungen zum »Tag der Republik«16 und für die Volkswahl kommt es teils zu negativen Stimmungen. Zum Beispiel sagte der Inhaber eines Schuhgeschäftes in Eisenberg: »Der Staat ruiniert mich vollkommen, und da soll ich noch für die Wahlen ein Schaufenster herrichten. Solange die da oben sitzen, können sie mir viel erzählen. Die Menschen hinter Gitter bringen und die Welt verdummen, das können sie.«
Im Kreis Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, mangelt es an Fensterglas. In diesem Zusammenhang werden negative Diskussionen über die Volkswahl geführt. So sagte z. B. eine Hausfrau aus Bernshausen: »Mich interessiert keine Wahl. Um mich kümmert sich auch niemand, dass ich ein paar Glasscheiben erhalte, damit die Fenster meiner Wohnung verglast werden können.«
Die Zahl der Typhus-Fälle hat sich in den letzten Tagen im Kreis Potsdam bis auf 209 erhöht. Während in anderen Kreisgebieten keine Typhus-Fälle zu verzeichnen sind, sind in Ludwigsfelde, Kreis Zossen, elf Personen und in Trebbin, Kreis Luckenwalde, vier Personen erkrankt. Zu bemerken ist, dass die genannten Orte die Milch von Potsdam beziehen, was wiederum darauf schließen lässt, dass der Krankheitskeim in der Milch zu suchen ist. Im Kreis Freital, [Bezirk] Dresden, sind zzt. 60 Personen an Typhus erkrankt.
Aus dem demokratischen Sektor von Groß-Berlin
Immer wieder tritt bei Agitationseinsätzen und Versammlungen in den Vordergrund, dass große Bevölkerungsteile unzufrieden über die Lösung der Wohnungsfragen sind. So herrscht z. B. bei den Mietern des Hauses Berlin C 2, Werdersche Rosenstraße, eine Missstimmung, weil in ihrem Wohnhaus schwere Mängel und Schäden zu verzeichnen sind. Unter anderem ist das Dach derart schadhaft, dass bei Regenwetter das Wasser die Wände und Treppen herabläuft. In Vorbereitung der Volksbefragung waren diese Mängel bereits den Aufklärern mitgeteilt worden, diese versprachen auch Unterstützung, aber bis jetzt habe sich noch nichts geändert.
In der Marienstraße 14 (Bezirk Mitte) sind die Bewohner verärgert, weil durch die volkseigene Wohnungsverwaltung die Winterfestmachung der Wohnungen noch nicht in Angriff genommen wurde. Aus diesem Grunde sind nur sehr wenige Mieter bisher zur Einsichtnahme in die Wahllisten erschienen.
Von einer Postangestellten des Postamtes N 417 wird mitgeteilt, dass in den Patenhäusern18 des Postamtes mit den Mietern sehr schwer zu diskutieren ist. Zum Beispiel wurde ein Aufklärer von den Mietern mit den Worten empfangen: »Ihr kommt immer nur wenn Wahlen sind, sonst lasst ihr euch nicht sehen. Sorgt lieber dafür, dass unsere Wohnungen in Ordnung kommen, in unserem Hause sind mindestens 20 Öfen entzwei.«
Über organisatorische Mängel bei der Auslegung der Wählerlisten: Im Bezirk Köpenick wird von Bewohnern, die bereits in die Wahllisten Einsicht genommen haben, immer wieder festgestellt, dass bei der Vorbereitung zur Volkswahl die gleichen Fehler gemacht werden wie zur Volksbefragung, denn in einzelnen Listen müssen die gleichen Änderungen vorgenommen werden wie zur Volksbefragung.
Im Wahllokal HO-Gaststätte Berlin-Lichtenberg, Hauptstraße 87 ist die Arbeit dadurch erschwert, dass kein ständiger Raum für die Auslegung der Wahllisten vorhanden ist. Es muss stets von einem Raum in den anderen gewechselt werden.
Im Wohnbezirk 29 – Treptow (Ortsteil Johannisthal) liegt seit ca. sechs bis sieben Monaten die Arbeit der Nationalen Front und der SED am Boden. Es wird jetzt von einem Genossen der DEFA-Synchronisation versucht, die Arbeit in diesem Bereich aufzubauen. Er organisierte für den 1.10.1954 eine Versammlung – bis dahin hatte noch keine Versammlung stattgefunden. Dazu ersuchte er um einen Vertreter vom Rat des Stadtbezirkes. Von dort wurde ihm mitgeteilt, dass die Versammlungen abgeschlossen seien und ihm kein Vertreter geschickt werden könne.
Die bisherige Arbeit der Nationalen Front im Wohnbezirk Prenzlauer Berg kann nicht als gut bezeichnet werden. Zum Beispiel erschienen zu den Rechenschaftslegungen im Wirkungsbereich 24 von ca. 1 200 Einwohnern nur 58 Personen.
In einer Versammlung des Deutschen Reisebüros sprach in der Diskussion der Leiter des Büros 5 über die Möglichkeit einer bevorstehenden Lohnerhöhung, die aber nicht zu realisieren ist. Unter anderem sprach er davon, dass es ein altes soldatisches Gesetz sei, dass ein Vorgesetzter von seinen Untergebenen nie mehr verlangen dürfe, als er selber zu tun bereit sei, das mache den wahren Wert des Führertums aus und das müsse auch für uns als Gesetz gelten.
Die Haus- und Straßenvertrauensleute des Wirkungsbereiches 54 (Berlin-Müggelheim) klagen über die Mängel bei der letzten Lebensmittelkartenausgabe. Zum Beispiel war ein Teil der Karten verwechselt und andere fehlten ganz. Bezeichnend ist, dass die gleichen Mängel im Monat der Volksbefragung auftraten.
Verschiedentlich wird von der Bevölkerung über die langwierige Bearbeitung von Anträgen für Auslandsreisen geklagt. Dazu bemerkte eine Einwohnerin von Prenzlauer Berg: »Da die DDR ein souveräner Staat ist,19 könnte die schleppende Bearbeitung der Anträge zu falschen Schlussfolgerungen führen.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:20 Potsdam 2 250, Leipzig 500, Dresden 46. Inhalt: Hetze gegen die Volkswahlen.
NTS:21 Karl-Marx-Stadt 4 212, Halle bei Gröbers, [Kreis] Saalkreis, 1 200, bei Döllnitz, [Kreis] Saalkreis, 400, auf dem Bahngelände der RBD Halle 83, Schwerin bei Rosenow, [Kreis] Ludwigslust, 1 000, Potsdam 800, Leipzig 450, Dresden 33, Rostock in den Kreisen Wismar und Greifswald einige, Gera im Kreis Lobenstein einige.
KgU:22 Dresden 228.
Unbek[annter] Herk[unft]: Cottbus 138 687. Davon hatten den größten Anteil Kreis Luckau 100 000, Kreis Cottbus 25 000, Kreis Calau 10 000, Kreis Senftenberg 3 600.
Die Mehrzahl dieser Flugblätter wurde mit Ballons eingeschleust und sichergestellt.
In Neugersdorf, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden, wurden einige mit Handstempeln hergestellte Zettel gefunden mit dem Text: »Wir wählen nicht die Kandidaten der Nationalen Front.« Auf der Rückseite wird zum Hören des Westfunks aufgefordert.
In einem D-Zug von Leipzig nach Berlin wurden 50 der bekannten gefälschten Eisenbahnkarten23 in einem Briefumschlag aufgefunden.
Durch die Post werden verstärkt Hetzschriften vom Ostbüro der SPD und DGB24 verschickt. Inhalt: »Hetze gegen die SED, FDGB und Forderung nach ›freien Wahlen‹«.
Terror
In der Nacht zum 5.10.[1954] fand in der Gemeinde Großmutz, Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam, eine Schlägerei zwischen FDJlern, die dort zum Ernteeinsatz waren, und Angehörigen der »Jungen Gemeinde« (Söhne von Groß- und Mittelbauern des Dorfes) statt. Nach bisherigen Ermittlungen handelt es sich um eine organisierte Schlägerei.
In der Nacht vom 2. zum 3.10.[1954] wurde der Bürgermeister der Gemeinde Lietzow, [Kreis] Nauen, [Bezirk] Potsdam, von einem bekannten Täter vor seiner Wohnung niedergeschlagen. Genaue Überprüfungen werden noch geführt.
Einen Drohbrief erhielt ein Angestellter des Rates des Kreises Perleberg, [Bezirk] Schwerin, in dem es unter anderem heißt, wenn er nicht aufhöre, Propaganda für die SU und DDR durchzuführen, wären er und seine Familie die ersten, die aufgehängt werden.
Diversion
In der LPG Rückersdorf, Kreis Sebnitz, [Bezirk] Dresden, wurde ein Rad eines Wagens durch unbekannte Täter beschädigt, indem ein Ventil abgeschlagen wurde.
In der Zeit vom 2.10. bis 4.10.[1954] drangen unbekannte Täter in das Büro für Stadt- und Dorfplanung in Karl-Marx-Stadt ein und zerstörten dort einen Wasserhahn, wodurch das Wasser ausströmte. Das Wasser drang in das Büro für Stadt- und Dorfplanung und vernichtete einen großen Teil der Zeichnungen.
Antidemokratische Tätigkeit
In einigen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wurden Wahlplakate abgerissen bzw. beschmiert.
Am 4.10.[1954] wurde der Schaukasten der FDJ-Ortsgruppe Brück, Kreis Belzig, [Bezirk] Potsdam, von unbekannten Tätern zerstört.
In der Nacht zum 4.10.[1954] wurden in Klausdorf, Kreis Zossen, [Bezirk] Potsdam, drei Wahlplakate sowie sämtliche Bekanntmachungen von der Bekanntmachungstafel durch unbekannte Täter abgerissen. In der gleichen Nacht wurden in Beetz, Kreis Oranienburg, [Bezirk] Potsdam, durch unbekannte Täter vier handgefertigte Hetzplakate angebracht.
In Hagenow, [Bezirk] Schwerin, wurde an einen BHG-Schuppen von unbekannten Tätern eine Hetzlosung gegen den Präsidenten angeschmiert.
In der Gemeinde Manthal,25 Kreis Gadebusch, [Bezirk] Schwerin, wurde von unbekannten Tätern ein Transparent der Nationalen Front beschädigt.
Am 1.10.1954 wurde von der Sichtwerbung des VEB »Optima« Erfurt26 ein Bild des Präsidenten von unbekannten Tätern zerstört.
Im Kreis Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, wurden am 4.10.[1954] in den Gemeinden Glaucha und Bad-Düben Wahlplakate beschädigt und abgerissen.
In den Gemeinden Selchow und Alt-Stahnsdorf, Kreis Beeskow, [Bezirk] Frankfurt, haben unbekannte Täter Transparente zu den Volkswahlen abgerissen.
Gefälschte Anrufe: Am 2.10.[1954] erhielt der Kreisausschuss der Nationalen Front in Flöha sowie in Zwickau-Stadt und -Land, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, gefälschte Anrufe vom Nationalrat, wonach eine Aufstellung über westdeutsche Delegationen an den Nationalrat zu übersenden sind.
Am 3.10.[1954] erhielt das VPKA Jüterbog einen gefälschten Anruf, wonach in einer Gemeinde eine größere Schlägerei beim Erntefest ausgebrochen sei. Die Rückfrage ergab, dass dort vollkommene Ruhe herrschte.
Gerüchte: Im Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, wird in Geschäften das Gerücht verbreitet, dass nach der Wahl eine Preiserhöhung erfolgen soll.
In Niesky, [Bezirk] Dresden, wird in verschiedenen Abteilungen des VEB Waggonbau sowie unter den Bauern der Gemeinde Tschernske das Gerücht verbreitet, dass alle Männer der Jahrgänge 1909 bis 1930 zur VP eingezogen werden.27
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 5.10.1954 wurde im Schlossteich in Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, der Kaderleiter der DHZ Lebensmittel in Jüterbog (SED) tot aufgefunden. Am Abend des 4.10.[1954] hat er im Aufklärungslokal der Nationalen Front gearbeitet und wurde vermutlich auf dem Nachhauseweg ermordet. Eine verdächtige Person wurde festgenommen.