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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

19. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2344 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Die Diskussionen der Arbeiter und Angestellten der volkseigenen Betriebe befassen sich vor allem mit der Volkswahl.1 Hierzu herrscht weiterhin die positive Stimmung vor, die am 17.10.[1954] allgemein bestand. Das offizielle Wahlergebnis ist noch nicht bekannt, sodass hierzu nur wenige Stimmen vorliegen. Wo Einzelergebnisse von Wahlbezirken veröffentlicht wurden, herrscht überwiegend freudige Zustimmung. So besteht z. B. unter den Kumpels im VEB Kaliwerk »Einheit« in Dorndorf, [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, eine gute Stimmung über das Wahlergebnis. Sogar parteilose Kollegen loben das gute Resultat ihrer Gemeinden.

Diese positive Stimmung wird jedoch abgeschwächt durch die zahlreichen Diskussionen aus allen Bezirken, in denen Unzufriedenheit über die Wahlhandlung zum Ausdruck kommt. Solche Diskussionen wachsen an. Im Thomas-Müntzer-Schacht Sangerhausen, [Bezirk] Halle, stand bisher montags in den Diskussionen der Sport im Vordergrund. Am 18.[10.1954] wurde insbesondere über die Wahl gesprochen, dabei jedoch überwiegend die Meinung vertreten, dass man mit der Form der Wahl nicht einverstanden ist. Dabei äußert ein größerer Teil, dass man überrascht war, weil auf den Stimmscheinen kein »Ja« oder »Nein« stand und man lediglich den Schein falten brauchte.2 Besonders werden solche Meinungen von älteren Kollegen vertreten. Auch ein Teil SED-Mitglieder unterliegt dieser Stimmung. So erklärten z. B. viele Kumpels aus Oberschlema, dass sie bei der Wahl verdutzt waren, weil sie Kreuze auf dem Stimmzettel anbringen wollten, jedoch dafür keine Kreise vorhanden waren.

Einige Kollegen des Gaswerkes Dimitroffstraße, Berlin, äußerten: »Na, hatten die denn Angst, dass wir nicht für den Frieden sind, da sie uns nicht ankreuzen ließen?« Einige Genossen dieses Betriebes, die daraufhin angesprochen wurden, antworteten: Was soll man da erklären, die Kollegen haben doch recht.

Während der Wahl zeigte sich, dass ein Teil der Arbeiter infolge der Unkenntnis über den Wahlvorgang ihre positive Meinung auf dem Stimmschein zum Ausdruck bringen wollte.3 So wussten z. B. viele Wähler in Großwaltersdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, nicht, wie sie wählen sollten, waren jedoch vielfach der Meinung, dass irgendetwas angekreuzt werden musste. Der erste Wähler in Großwaltersdorf, ein parteiloser Kumpel, machte ein großes Kreuz durch den Stimmschein und sagte: »Ich hoffe, dass ich damit meine Schuldigkeit für die Erhaltung des Friedens und für die Kandidaten der Nationalen Front getan habe.«

Verstärkt wurde dies teilweise durch Wahlvorstände,4 wie z. B. im Wahllokal III in Flöha. Dort bat ein Arbeiter den Vorsitzenden des Wahlausschusses, ihm Aufklärung über den Stimmschein zu geben. Der Vorsitzende erteilte jedoch keine Auskunft, da er »sonst die Wahl beeinflussen würde«. Als sich der Arbeiter an ein anderes Mitglied der Kommission wandte, zuckte dieser lediglich mit den Schultern.

Im Zusammenhang mit der Unzufriedenheit über die Abstimmungshandlung stehen auch die negativen Stimmen über das Wahlergebnis, worin erklärt wird, dass bei anderem Wahlvorgang das Ergebnis schlechter ausgefallen wäre. Solche Meinungen wurden bisher gering geäußert. So sagten z. B. einige Arbeiter aus dem VEB Walzkörper in Bad-Liebenstein, [Bezirk] Suhl: »Die Volkswahlen wären etwas anders ausgefallen, wenn es nicht so mit den Stimmzetteln gewesen wäre und wenn Bleistifte ausgelegen hätten.«

Zwei Arbeiter aus dem VEB Kalikombinat »Ernst Thälmann« in Merkers, [Bezirk] Suhl, diskutierten im Klubhaus: »Es ist doch ganz klar, dass bei dieser Wahl alles 100-prozentig ausfallen musste, ein jeder war doch gewissermaßen gezwungen, die Kandidaten der Nationalen Front zu wählen.«

In anderen negativen Meinungen, die meist ebenfalls in diesem Zusammenhang auftreten, wird die Wahl als undemokratisch bezeichnet oder erklärt, dass sie unnötig war. Dazu folgende typische Beispiele: Zwei Arbeiter vom VEB Kraftwerke Leipzig (einer von ihnen SED) äußerten z. B.: »Das ist ja eine schöne Wahl. So etwas hat man wirklich noch nie erlebt. Das Wahlergebnis von 150 Prozent stand ja schon seit Beginn der Wahl fest. Nicht einmal ein Bleistift war in der Kabine, um einige Kandidaten auszustreichen. Mit Demokratie hat dies nichts mehr zu tun.«

In einigen Abteilungen des VEB Berliner Mode kam in den häufigen Diskussionen über die Wahl zum Ausdruck, dass es am Sonntag keine Wahl war. Die Zettel hätte der Wahlvorstand auch allein in die Wahlurne stecken können. Von älteren Kollegen wurde gesagt, dass man in der Wilhelminischen Zeit einen Stimmzettel bekam, auf dem man mit Ja oder Nein stimmen konnte und man außerdem durch die Wahlkabine gehen musste.

Ein Gasmeister aus dem Gaswerk Potsdam: »Wenn jemand in die ulkige Kabine hineingegangen ist, dann wussten sie gleich, wer mit Ja oder Nein gestimmt hat. Das war keine geheime Wahl gewesen, das war ein großer Betrug.«

Eine Missstimmung besteht unter den Kumpels im [Wismut-]Schacht 6 in Oberschlema5 über die schlechte Organisation bei der Seilfahrt. Ein nicht geringer Teil der Kumpel kommt durch die lange Seilfahrt am Schacht 6c oft zu spät aus dem Schacht, wodurch sie die Züge und Autobusse verpassen und zu Fuß nach Hause gehen. Deshalb verlässt ein großer Teil den Arbeitsplatz bereits 2 bis 3 Stunden vor Arbeitsschluss. Dazu äußerten mehrere Kumpel: »Bei uns steht der Plan im Vordergrund und nicht der Mensch. Solange solche Zustände herrschen, interessiert uns wenig, ob der Plan erfüllt wird oder nicht.« Außerdem tritt in Erscheinung, dass infolge des langen Wartens auf den Fahrstuhl der Krankenstand sich erhöht, da der Schacht 6c ein einziehender Schacht ist und deshalb große Kälte mit sich bringt.6

Materialmangel besteht im VEB [Glaswerk] Bärenhütte, Kreis Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, der vorwiegend Exportaufträge fertigstellt. Es fehlt besonders an Mennige7 und an Kohlen (Die Kohlenzuteilung wurde reduziert.) sowie an Verpackungsmaterial.8

Handel und Versorgung

Für den VEB Mitteldeutsche Obstverwertung Langensalza, [Bezirk] Erfurt, sind vom Kontor Import und Lagerung Bad Schandau neun Waggons Weintrauen unterwegs, die der Betrieb nicht bestellt hat. Dadurch sind sechs Waggons Weintrauben dem Verderb ausgesetzt, falls die vom Kreisrat eingeleiteten Maßnahmen ohne Erfolg bleiben, da die Kapazität des Betriebes nur drei Waggons Weintrauben beträgt.

Eine Überprüfung seitens des Kreisrates Hettstedt ergibt Mängel in der Belieferung mit Graupen, Haferflocken und Kindernährmitteln.

Ein großer Engpass besteht in Süßwaren, der auf den zzt. bestehenden Mangel an Packpapier zurückzuführen ist. Desgleichen besteht im Kreis Hettstedt ein Mangel an Kohlen und Brennholz und an Bekleidung aus Baumwolle.

In Dessau, [Bezirk] Halle, kritisierten die lederverarbeitenden Handwerker auf einem Ausspracheabend den zzt. bestehenden Mangel an Möbelstoffen, der durch eine Fehlplanung hervorgerufen wurde, da genügend Tischdecken aus Möbelstoff vorhanden sind. Die Handwerker sind gezwungen, diese Tischdecken zu kaufen und sie als Bezugsstoff zu verwenden.

Im Kreis Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, kritisiert die Bevölkerung, besonders die Sportler, das mangelhafte Angebot an Sportartikeln, insbesondere das Fehlen von Trainingsanzügen in den Größen 30 bis 38, Turn- und Laufschuhen und Skihosen für Kinder.

Landwirtschaft

In der Landbevölkerung gibt es eine Reihe guter Diskussionen und Beispiele zum Wahlablauf, zur Realisierung der übernommenen Selbstverpflichtungen und zur Übernahme einzelner Selbstverpflichtungen während der Wahl. Die Verpflichtung der Bauern von Groß Liebitz,9 Kreis Lübben, zu Ehren der Volkswahl das Jahresssoll für alle pflanzlichen und tierischen Produkte zu erfüllen, wurde bereits am 15. Oktober [1954] realisiert.

Die Verpflichtung der Kollegen der MTS Martinskirchen, Kreis Liebenwerda, [Bezirk] Cottbus, ihren Feldarbeitsplan zu Ehren der Volkswahl vorfristig zu erfüllen, fand bereits vor dem 17. Oktober [1954] ihre Realisierung.

Die Genossenschaftsbauern aus der Gemeinde Knoblauch, Kreis Nauen, [Bezirk] Potsdam, waren mit der Art der Abstimmung voll und ganz einverstanden. Sie erklärten, wir sind für den Frieden und deshalb haben wir offen die Kandidaten der Nationalen Front gewählt.

Neben den positiven gibt es eine ganze Reihe negativer Beispiele zum Wahlmodus. Stark herrscht die Meinung vor, dass diese Wahlen keine »Wahlen« waren, da man nichts ankreuzen konnte und auch dazu keine Bleistifte bereitgestellt waren. Oft vertritt man die Meinung, dass man zu dieser Wahl nicht selbst zu erscheinen brauchte, sondern sie durch den Bürgermeister oder den Wahlleiter hätte durchführen lassen können, da die Stimmscheine nur gefaltet und in die Wahlurne geworfen werden brauchten. Diese Diskussionen kamen vor allen aus den bürgerlichen Kreisen von Groß- und Mittelbauern, einigen werktätigen Bauern und von einigen unaufgeklärten Menschen.

Ein Lkw-Fahrer von der MTS Ziesar, [Bezirk] Potsdam, sagte: »Das war doch keine Wahl. Man hätte überhaupt nicht hingehen sollen. Nicht einmal ein Bleistift war vorhanden. Es wäre besser gewesen, wenn die Wahlleiter die Stimmscheine selbst in die Urne geworfen hätten.«

Drei Mittelbauern aus der Gemeinde Liebenthal, Kreis Wittstock, [Bezirk] Potsdam: »Es war doch keine Wahl. Diese Wahl erkennen wir nicht an. Die Wahl hätte der Bürgermeister für die Gemeinde durchführen können.«

Ein Bauer aus der Gemeinde Möschwitz, [Kreis] Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte, nachdem er gewählt hatte: »Bei der nächsten Wahl brauchen wir gar nicht zu gehen, denn die Zettel sind ja schon fertig.«

Ein parteiloser Neubauer aus dem Dorf der Jugend,10 Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden: »Es war doch überhaupt keine Wahl. Nicht einmal ein Bleistift befand sich in der Wahlkabine und niemand wusste richtig, was er mit dem Zettel anfangen sollte.«

Ein Bauer aus Lippisch,11 Kreis Bischofswerda: »Es ist doch keine Wahl, wenn auf dem Stimmschein Ja oder Nein nicht steht. Die Stimmzettel zur Volksbefragung12 waren richtiger.«

Oft wird behauptet, dass man zum offenen Wählen »gezwungen war«, um nicht aufzufallen und auf die schwarze Liste zu kommen. Ein parteiloser Mittelbauer aus Ulberndorf, [Kreis] Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Das sollte eine Wahl sein, man wurde gezwungenermaßen angehalten, die Zettel ohne Willenserklärung abzugeben. Wenn ich einen Bleistift verlangt hätte und in die Wahlkabine gegangen wäre, dann wäre ich auf die schwarze Liste gekommen.«

Der Buchhalter der LPG Hohenlepte, Kreis Zerbst, »das ist keine gerechte Wahl, denn wenn man hinter dem Schirm steht, dann wissen sie, dass man Änderungen vornehmen will.«

Ein Großbauer aus Schrotte,13 [Kreis] Eilenburg: »Die meisten Bauern sind nur aus Angst wählen gegangen, weil ihnen sonst das letzte Schwein aus dem Stalle geholt worden wäre.«

Vereinzelt wurden auch offen RIAS-Parolen verbreitet. Ein parteiloser Landwirt aus Oberellen,14 [Kreis] Eisenach, [Bezirk] Erfurt, sagte: »Ich weiß schon 14 Tage, dass wir zur Wahl keine Bleistifte brauchen. Dies gab der Frankfurter Sender15 durch. Er forderte die Ostzone auf, zur Wahl zu gehen und offen abzustimmen, damit sich keiner eine Laus in den Pelz setze. Bonn erkennt die Wahl sowieso nicht an.«

Zum Wahlergebnis in den Orten gibt es noch sehr wenige Erklärungen, diese sind jedoch positiv. Ein werktätiger Bauer aus Lüblow, Kreis Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, erklärte beim Bekanntwerden des Ergebnisses, dass es ja nicht anders hätte kommen können, nachdem was heute alles von der Regierung geboten würde.

Bei der Auszählung in Schönfeld, Kreis Gadebusch, erklärte eine Bäuerin: »Man konnte sich ja gar nicht anders entscheiden, denn die Kandidaten sind doch unsere Vertreter.«

Übrige Bevölkerung

Während der Wahlhandlung am 17.10.1954 und danach wurden in allen Schichten der übrigen Bevölkerung darüber Diskussionen geführt, dass oftmals keine Bleistifte in den Wahlkabinen vorhanden waren und dass es keine richtige Wahl war, weil es nichts anzukreuzen gab. Zum Beispiel sagte ein parteiloser Einwohner aus Brotterode, [Bezirk] Suhl: »Ich habe nichts anderes erwartet, als einen Sieg der Kandidaten der Nationalen Front, aber ich bin der Meinung, dass man in die Wahlkabinen hätte Bleistifte legen müssen und auf die Wahlscheine einen Kreis aufdrucken, dadurch, dass dies nicht der Fall war, wird man das in Westdeutschland gegen uns ausnützen.«

In diesem Zusammenhang kam es in geringem Maße zu negativen und feindlichen Äußerungen und Erscheinungen. Dass z. B. die Wahl als »Rummel« bezeichnet und die Wahlscheine offen ungültig gemacht wurden, verschiedentlich mit der Bemerkung: »Es ist doch keine Wahl, hier habt ihr euren Dreck.«

In einem Wahllokal in Oberschöneweide wurde diskutiert: »Es ist doch keine richtige Wahl, denn nicht mal ein Kreis für ›Ja‹ und ›Nein‹ ist auf dem Stimmzettel und nicht mal einen Bleistift legt man in die Wahlkabinen.«

Ein Bürger äußerte in einem Wahllokal im Bezirk Köpenick: »Die Wahl ist lächerlich, außerdem wird man bei der Stimmenabgabe beobachtet. Warum gibt es keine Bleistifte? Das ist keine Wahl, sondern bestenfalls eine Abstimmung.«

In einem Wahllokal im Bezirk Mitte äußerte ein Bürger: »Die Wahl hätte auch zu Hause stattfinden können. Man kann nicht einmal ein Kreuz machen. Es gibt nur die Möglichkeit, die Zettel in die Urne zu stecken.«

Ein Geschäftsmann aus dem Bezirk Pankow äußerte nach Erhalt des Wahlscheines: »Das nennt ihr hier freie und geheime Wahlen. Dieser Wahlablauf hat mit demokratischen Wahlen nichts zu tun. Ich betrachte sie lediglich als eine Abstimmung.«

In einem Wahllokal im Bezirk Pankow fragte ein Intelligenzler nach Erhalt des Wahlscheines, was er damit machen solle. Nach der Aufklärung warf er den Wahlschein auf den Tisch und sagte: »So etwas habe ich bei einer Wahl noch nie erlebt.« Auf den Hinweis, er möchte den Schein nehmen und in die Wahlkabine gehen, erklärte er: »Steckt von mir aus den Wahlschein selbst in die Urne. Ihr macht doch sonst auch alles selbst.«

Ein Einwohner aus Ludwigsfelde, [Bezirk] Potsdam: »Soll man das Demokratie nennen, wenn der Wähler keine Entscheidung treffen darf, sondern alle Augen auf ihn gerichtet sind, ob er auch nicht die Wahlkabine aufsucht.«

Eine Hausfrau aus Rotberg, [Bezirk] Potsdam: »Sie hätten den ganzen Krempel gleich in den Kasten stecken sollen, dann hätten wir gar nicht erst herkommen brauchen.«

Zwei ältere Frauen erklärten in einem Wahllokal in Potsdam: »Das ist doch keine Wahl, sogar bei Hitler durften wir ja oder nein, oder ein Kreuz machen.«

Eine Genossin aus Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Diesmal hat man es sich aber leicht gemacht. Zusammenknicken und reinstecken ist doch schließlich keine Wahl.« Ähnlich äußerte sich auch der Vorsitzende der Nationalen Front aus Göritz, [Bezirk] Neubrandenburg.

Ein Genosse aus Neddemin, [Bezirk] Neubrandenburg, schimpfte öffentlich im Wahllokal darüber, dass keine Bleistifte vorhanden waren. Dadurch brachte er eine gewisse Unruhe unter die Anwesenden.

Im Bezirk Potsdam war verschiedentlich zu verzeichnen, dass Angehörige der Volkspolizei die Wahlkabinen aufgesucht haben. Darüber wurde von der Bevölkerung negativ diskutiert.

Neben einer Reihe positiver Beispiele von Pfarrern, u. a., dass sie offen ihre Stimmen den Kandidaten der Nationalen Front gaben oder mit ihren Kirchengängern geschlossen zur Wahl gingen, kam es immer wieder vor, dass Geistliche entweder gar nicht zur Wahl erschienen, oder wenn dies der Fall war, sich negativ über den Charakter der Wahl äußerten. Zum Beispiel wies der Pfarrer aus Breitenholz, [Bezirk] Erfurt, in seiner Predigt am Morgen des 17.10.[1954] noch einmal eindringlich auf die Bedeutung der Wahl hin und ging dann geschlossen mit seinen Kirchengängern zur Wahl.

Ein Pfarrer aus Gantikow, [Bezirk] Potsdam, kam zum Wahllokal und stellte die Frage, ob das freie Wahlen wären. Nachdem diese Frage vom Wahlvorstand bejaht wurde, warf der Pfarrer seinen Wahlschein auf die Erde und sagte, dass es keine freien Wahlen wären.

Ein Pfarrer aus Köpenick-Süd erklärte am Tag der Wahl: »Ich denke nicht daran, wählen zu gehen, denn die Regierung tut nichts für die Kirche, kämpft gegen die Junge Gemeinde und der Kirchenbau wird nicht unterstützt.«

Von 39 Pfarrern im Bezirk Prenzlauer Berg waren zehn nicht in der Wählerliste aufgeführt, und außerdem haben elf an der Wahl nicht teilgenommen.

Der Superintendent aus Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte gegenüber dem Vorsitzenden des Rates des Kreises: »Ich gehe nicht zur Wahl, Ihnen wird ja bekannt sein, dass ich vor vier Jahren ebenfalls nicht gewählt habe. Ich bin mit der Liste der Nationalen Front nicht einverstanden.«

Am Morgen des 17.10.1954 wurde ein Pastor aus Neustrelitz nochmals von Aufklärern der Nationalen Front aufgesucht. Nach wenigen Worten erklärte er: »Sie brauchen nicht auf uns zu warten, wir kommen nicht zur Wahl.«

Die zur Wahl nicht erschienenen Personen waren größtenteils Anhänger von Sekten. Zum Beispiel haben im Wahlbezirk 2 in Böhlitz-Ehrenberg, [Bezirk] Leipzig, 25 Wähler ihre Stimme nicht abgegeben. Die Überprüfung ergab, dass der größte Teil davon Anhänger der Sekten »Zeugen Jehova« waren.16

Im Kreis Stadtroda, [Bezirk] Gera, gingen alle Anhänger der »Zeugen Jehovas« nicht zur Wahl.

Bei der Stimmenauszählung kam es verschiedentlich vor, dass anwesende Personen mit der Entscheidung über gültige oder ungültige Stimmscheine durch den Wahlvorstand nicht einverstanden waren. Im Wahlbezirk 63 in Jena mussten aufgrund der Forderung eines Angehörigen der Intelligenz von der Friedrich-Schiller-Universität zwölf Stimmzettel für ungültig erklärt werden.

In der Gemeinde Schilbach, [Kreis] Schleiz, [Bezirk] Gera, wurden vom Wahlvorstand 20 Stimmen mehr zu den ungültigen gezählt. Trotz der Forderung des stellvertretenden Vorsitzenden vom Rat des Kreises, wurde diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht. Dazu äußerte der Wahlvorstand gegenüber dem stellvertretenden Vorsitzenden, dass sie in der Gemeinde selbst bestimmten, was gültige und was ungültige Stimmen seien.

In Mahlow, [Kreis] Zossen, [Bezirk] Potsdam, erklärte eine Parteilose, die dem Wahlvorstand angehörte, dass über die Wahlzettel, die beschriftet waren, abgestimmt werden müsste, ob sie zu den gültigen oder den ungültigen gezählt werden. An dieser Abstimmung beteiligten sich auch Genossen unserer Partei.

Erkrankungen: Die Zahl der Typhuserkrankungen hat sich im Bezirk Potsdam bis auf 394 erhöht. Allein im Kreis Luckenwalde sind erstmalig elf Fälle aufgetreten.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:17 Halle: Saalkreis 15 000, Wittenberg 5 000, Quedlinburg 50, Erfurt: Frömmstedt 37, Dresden 91, Stendal, [Bezirk] Magdeburg mehrere Tausend.

KgU:18 Dresden 85.

NTS:19 Dresden 19, Gera ein Paket.

»Der Tag«:20 Halle 17.

UFJ:21 Potsdam 630.

In tschechischer Sprache: Dresden einige.

Unbekannter Herkunft: Cottbus 87 580, Karl-Marx-Stadt 31 390.

Im Kreisgebiet Jena-Land wurden am Ortsausgang Wogau, [Kreis] Jena, am 18.10.[1954] selbstgefertigte Flugblätter in der Größe 1½ mal 10 cm, auf welchen mit einem Stempel die Hetzlosung: »Wählt nicht die Verräter, wählt Deutsch!« aufgedruckt war. Davon wurden 30 Stück gefunden.

Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen mittels Ballons eingeschleust und sichergestellt.

Am 17.10.1954 kam es in den Orten Derenburg, Ilsenburg und Blankenburg, [Bezirk] Magdeburg, zu Provokationen durch reaktionäre Elemente. Diese versuchten im Anschluss an die Wahlhandlungen, Funktionäre und Angehörige der VP zu provozieren, was teils zu tätlichen Angriffen ausartete. So wurde z. B. ein Mitglied der Stadtvertretung von Derenburg tätlich angegriffen. Täter festgenommen. In Blankenburg wurde von einer Person die VP beleidigt und Versuche eines tätlichen Angriffes unternommen. Täter festgenommen.

Ein Politleiter und dessen Stellvertreter von der MTS Friesack, [Kreis] Nauen, [Bezirk] Potsdam, wurden von einem Eisenbahner provoziert, indem er ihnen zurief: »Heil Moskau, ihr Strolche.« Als er angehalten wurde und um nähere Erklärung gebeten wurde, schlug er dem Politleiter mit voller Wucht ins Gesicht. Täter festgenommen.

Antidemokratische Tätigkeit: In Klitten, Kreis Niesky, [Bezirk] Dresden, wurden sechs zusammengefaltete Hetzschriften in der Wahlurne gefunden.

Im Wahllokal des VI. Wahlbezirkes der Stadt Zwickau wurde beim Auszählen der Wahlscheine ein zusammengefalteter Zettel mit folgender Aufschrift gefunden: »Eines Tages hängt ihr alle.«

In Neusalza-Spremberg, [Bezirk] Dresden, waren sieben Stimmscheine mit Hakenkreuzen versehen.

In Calenberge,22 [Kreis] Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, wurden sieben Hetzschriften in der Wahlurne gefunden.

In der Gemeinde Grünewulsch, [Kreis] Stendal, [Bezirk] Magdeburg, wurde am 17.10.[1954] die Auszählung der Stimmen laufend durch Telefonanrufe (Beschimpfungen) gestört.

Am 18.10.[1954] wurde an dem Lichtmast, welcher vor dem Eingang der MTS Spantekow,23 Kreis Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, steht, ein Bild von Walter Ulbricht24 bemerkt, auf diesem waren Hakenkreuze aufgemalt sowie die Augen ausgestochen.

Im Kreis Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde in der Gemeinde Gützow beim Auszählen der Wahlscheine ein Flugblatt in der Wahlurne gefunden.

In der Gemeinde Neukenzlin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurden bei der Auszählung der Wahlscheine zwei Flugblätter gefunden.

In der Gemeinde Borrentin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde bei der Auszählung der Stimmzettel festgestellt, dass auf einem ein Hakenkreuz geschmiert war.

Im Kreis Zeulenroda wurden auf verschiedene Wahlplakate und Transparente Briefmarken mit dem Hitlerkopf aufgeklebt. Bei der Wahl 1950 war dasselbe zu verzeichnen.25

In Wallengrün, [Kreis] Zeulenroda, [Bezirk] Gera, fehlten bei der Auszählung der Stimmzettel zwei Scheine für die Kandidaten der Volkskammer und einer für die Kandidaten des Bezirkstages. Dafür war ein einfacher weißer Bogen zusammengefaltet mit der Aufschrift: »Louis und Faulpelze wähle ich nicht, wo doch sowieso der Staat bald zusammenbricht.«

In Bornstedt, [Kreis] Eisleben, [Bezirk] Halle, wurden am 17.10.[1954] vor dem Wahllokal aus Papier ausgeschnittene Hakenkreuze 6 × 6 cm aufgefunden. Täter bekannt.

An die Redaktion »Freies Wort« Sonneberg,26 [Bezirk] Suhl, wurde ein anonymes Schreiben mit folgendem Wortlaut gesandt: »Das waren keine freien Wahlen, sondern eine Volkszählung. Die Arbeiter versuchen die für die Wahl Verantwortlichen zu verhaften. Wir wären mit unseren Kandidaten auch ohne dieses Betrugsmanöver durchgekommen.«

In der Gemeinde Oberweid, [Kreis] Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, wurde ein Hetzzettel mit Druckschrift gefunden, der folgenden Wortlaut hatte: »Die gestern stattgefundenen Terrorwahlen lehnen wir ab, wir fordern eine richtige Wahl.«

In der Gemeinde Elstal, [Kreis] Nauen, [Bezirk] Potsdam, wurde von unbekannten Tätern ein Sicherungskasten in einem Lichtmast beschädigt, sodass die Straßenbeleuchtung für ca. 30 Minuten nicht funktionierte. Die gleiche Handlung wurde schon des Öfteren durchgeführt.

Gerücht: In dem VEB Lederfabrik »Solidarität« Berlin-Pankow kursiert das Gerücht, dass die alten FDGB-Beiträge nicht mehr bezahlt werden brauchen und an deren Stelle kleine Beträge treten. Die BGL und Betriebsleitung klärte die Kollegen auf (VP-Meldung).

Vermutliche Feindtätigkeit

In der Gemeinde Werbig, [Kreis] Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, brannte eine Feldscheune nieder. Der Schaden beträgt ca. 10 000 DM.

Einschätzung der Situation

Die Stimmung zur Volkswahl war im Allgemeinen gut. Das Ergebnis der Wahl wurde gestern erst spät bekannt, es liegen darüber nur wenig, meist positive Stimmen vor. Die verhältnismäßig starke Kritik an der Durchführung der Wahlhandlung, an den Stimmzetteln und dem Fehlen der Bleistifte kommt aus allen Schichten der Bevölkerung, einschließlich der Genossen unserer Partei. Der Gegner nutzte dies zur Hetze gegen unsere Partei und Regierung aus.

Anlage vom 18. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2344

Stimmung während des Besuches einer Delegation der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in der DDR27

Am 8.10.1954 fand in der Deutschen Akademie der Wissenschaften ein Essen zu Ehren der sowjetischen Delegation statt. Bereits bei den einzelnen Begrüßungsansprachen wurde festgestellt, dass unsere Professoren den Anregungen der einzelnen Teilnehmer der sowjetischen Delegation sehr offen gegenüberstanden.28

Anschließend fand eine gemeinsame Besprechung zwischen den Mitgliedern der Deutschen Akademie der Wissenschaften, den Mitgliedern der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und einer Delegation von Wissenschaftlern aus der ČSR statt. In dieser Besprechung wurde vom Vizepräsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften Prof. Dr. Ertel29 ein Vorschlag unterbreitet, der von allen anwesenden Wissenschaftlern begeistert begrüßt wurde und der eine Umwälzung der zzt. bestehenden Zusammenarbeit der Wissenschaftler der Volksdemokratien und der UdSSR brachte.

Prof. Dr. Ertel schlug vor:30

a) dass unter Leitung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine Tagung einberufen werden soll, zu der alle Akademien des Friedenslagers eingeladen werden sollen. Auf dieser Tagung soll eine generelle Regelung der Zusammenarbeit aller Akademien der Wissenschaften besprochen werden und eine Linie in der Zusammenarbeit festgelegt werden.

b) dass ein Informationsblatt der Akademien des Friedenslagers herausgegeben wird, um die Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet zu fördern.

Diese Anregungen von Prof. Dr. Ertel wurden von allen Anwesenden unterstützt und es wurde vereinbart, dass die SU in ihren wissenschaftlichen Zeitschriften besonders wichtige Artikel und Beiträge in Russisch, Englisch und Deutsch druckt und an alle Akademien des Friedenslagers verschickt. Dieser Punkt wurde von allen anwesenden Professoren der Deutschen Akademie der Wissenschaften sehr lebhaft begrüßt.

Es war das erste Mal, dass deutsche Wissenschaftler im Umgang mit sowjetischen Wissenschaftlern in einer so herzlichen Form auftraten. Man kann sagen, dass ein Durchbruch in der Zusammenarbeit zwischen deutschen und sowjetischen Wissenschaftlern erzielt worden ist. Dies ging so weit, dass Prof. Dr. Thilo31 den sowjetischen Delegationsleiter Toptschijew32 in seine Wohnung eingeladen hat.

Hierbei betonte Thilo – der bis vor einem Jahr eine Zusammenarbeit mit sowjetischen Wissenschaftlern konsequent ablehnte –, dass es für ihn eine Freude wäre, den sowjetischen Gast in seiner Wohnung zu begrüßen, um sich noch einmal für die Gastfreundschaft zu bedanken, die er in der Sowjetunion gefunden hat. Thilo betonte, dass die wissenschaftliche Zusammenarbeit nur Fortschritte erzielt, wenn die Menschen sich für die Erhaltung des Friedens einsetzten und Freunde der SU sind. Thilo sagte seine volle Unterstützung bei der Durchführung der gefassten Beschlüsse zu.

Prof. Dr. Nowak33 berichtete über die Verhältnisse in Westberlin, die im krassen Gegensatz zu den Erfolgen in der DDR stehen. Prof. Dr. Nowak wohnt selbst in Westberlin.

Die Professoren Rienäcker34 und Lohmann35 sprachen sich ebenfalls in herzlichen Worten für die Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Akademie und der Sowjetischen Akademie aus.

Bei dem Besuch der sowjetischen Delegation in der DDR müssen zwei Dinge genannt werden, die einen schlechten Eindruck auf die sowjetische Delegation hatten.

1.) Bei dem Besuch im Elektrochemischen Kombinat in Bitterfeld, was eine Belegschaftsstärke von nahezu 13 000 Beschäftigten hat, waren zu der Begrüßungsansprache des sowjetischen Professors Toptschijew nur 40 Personen erschienen, die sich in dem Kultursaal verloren.

2.) Bei einem Besuch an der Universität Leipzig mit einer Stärke von ca. 20 000 Studenten waren nur 80 erschienen. Darüber hinaus fand die Begrüßung in einem Anatomiesaal statt, in dem Leichen und dergleichen seziert werden.

Diese beiden Beispiele waren ein Wermutstropfen auf die Begeisterung der sowjetischen Wissenschaftler.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Erscheinen der sowjetischen Delegation unter den deutschen Wissenschaftlern einen Umschwung in ihrer Einstellung zur SU hervorgerufen hat, was sich dadurch erklärt, dass sich viele Professoren bereiterklärten, zu einem Studienaufenthalt in die SU zu fahren.

Von der sowjetischen Delegation wurde erklärt, dass die Deutsche Akademie der Wissenschaften in Zukunft eine große Arbeit unter den westdeutschen Wissenschaftlern zu leisten hat, da die SU in Zukunft nur gesamtdeutsche Wissenschaftler-Delegationen einladen wird. Zu diesem Zweck sollen die Professoren der Deutschen Akademie der Wissenschaft eine große Aufklärungsarbeit unter den westdeutschen Wissenschaftlern leisten. Auch diese Erklärung der sowjetischen Delegation wurde von den deutschen Wissenschaftlern herzlich aufgenommen und sie versprachen ihr Möglichstes zu tun.

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