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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

20. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2345 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Die Hauptdiskussionen der Werktätigen sind weiterhin die Volkswahlen.1 Dabei wird über das Ergebnis nur im geringen Umfang gesprochen. Meist sind solche Äußerungen positiv und man ist über das Ergebnis erfreut. So diskutierte z. B. im VEB Neuhaus Schierschnitz,2 [Bezirk] Suhl, eine Gruppe älterer Kollegen über das Ergebnis der Wahl und äußerte: »Nun können wir wieder zufrieden sein und die da drüben können sich eine Scheibe abschneiden. Denn hier werden wir in Zukunft besser leben und die letzten Menschen, die gestern noch wankelmütig waren, überzeugen.«

Daneben äußerte man jedoch mehrfach, dass dieses gute Ergebnis zu erwarten war, da z. B. keine Bleistifte in den Kabinen lagen, die Stimmzettel unbekannt waren und anderes mehr. So diskutierten z. B. einige Arbeiter aus Premnitz, [Bezirk] Potsdam: »Das Hundertprozentige Ergebnis stand von vornherein fest. Das war schon so eingerichtet. Die Wahlkabinen standen in der Ecke und Bleistifte waren auch nicht da.«

Zahlreich sind weiterhin Meinungen, worin man unzufrieden über den Wahlvorgang ist, besonders über die Stimmzettel. Man hatte meist erwartet, dass etwas angekreuzt werden müsse, solche Ansichten werden auch mehrfach von SED-Mitgliedern vertreten. Ein großer Teil der Kollegen der Maschinenfabrik Wurzen, [Bezirk] Leipzig, erklärte, dass sie mit der Wahl nicht einverstanden sind. Auf dem Stimmzettel hätten zumindest Kreise vorhanden sein müssen, damit man die einzelnen Kandidaten ankreuzen konnte.

Der Produktionsleiter aus dem VEB MAB Schkeuditz,3 [Bezirk] Leipzig: (SED): »Die Art und Weise der Wahl hat mich überrascht, hatten wir es nötig mit Stimmzetteln zu arbeiten, die über die Frage Ja oder Nein nicht genügend Klarheit geben? Diese Wahl hat kein reales Bild ergeben, da die meisten Wähler nicht wussten, was sie mit den Stimmzetteln anfangen sollten.«

In diesem Zusammenhang kommt es teilweise zu negativen Äußerungen, dass die Wahlen undemokratisch waren. Von feindlichen Elementen wird dies zur Hetze gegen die DDR ausgenutzt. So wird z. B. in der Abteilung Optik Labor des VEB Schott Jena,4 [Bezirk] Gera, diskutiert, dass die Wahlen nicht geheim waren, da man die Wahlkabinen ohne Gefahr nicht benutzen konnte.

Von einer größeren Anzahl Arbeiter des VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt, [Bezirk] Gera, wird erklärt, dass die Volkswahlen keine freien Wahlen waren, da man »auf feine Art und Weise gezwungen war, die Stimmen den Kandidaten der Nationalen Front zu geben«.

Ein großer Teil der Arbeiter der Volkswerft Stralsund kritisiert, dass es auf den Stimmscheinen nichts zum Ankreuzen gab und die Wahl somit nicht demokratisch gewesen sei. Arbeiter auf der Baustelle Fernheizkanal Berlin protestierten heftig gegen die Form der Wahl, was in eine Schlägerei ausartete.

Ein Ingenieur aus dem VEB »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg5 erklärte: »Mit dieser Wahl hat man wieder einmal bewiesen, dass wir eine Diktatur und keine Demokratie haben.«

Im Konstruktions- und Entwicklungsbüro Halle äußerten zwei Konstrukteure: »Von der SED haben wir einen solchen Betrug ohne Weiteres erwartet. Aber dass die bürgerlichen Parteien so wenig Rückenhalt hatten und nicht auf ordnungsgemäße Stimmzettel bestanden, zeigt wie groß der Terror ist.«

Ein Arbeiter aus einer Privatfirma in Neugersdorf, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden: »Die Wahl ist keine Deutsche Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit zwischen den USA und der SU gewesen. Bei uns ist das Wehrgesetz schon fertig, während in Westdeutschland noch darüber diskutiert wird.«

Die Damast- und Inlettweberei Jonsdorf, [Bezirk] Dresden, erhielt am 15.10.[1954] die Mitteilung, dass die täglichen Stromsperren ab sofort wegfallen. Am 19.10.[1954] wurde mitgeteilt, dass ab sofort die Stromabschaltungen wieder vorzunehmen sind. Unter der Belegschaft wird jetzt diskutiert, dass die Freigabe des Stromes »nur ein Wahlbetrugsmanöver« war.

Zur Arbeitsniederlegung kam es am 18.10.[1954] auf der Baustelle Schilfbreite der Bau-Union Magdeburg bei drei Brigaden. Die Ursache war, dass die Norm für das neue Maurersystem noch nicht festlag und die Arbeiter dieser drei Brigaden noch nach ihrer alten Norm bezahlt wurden. Sie verlangten die Einführung der neuen Norm.6

Am 16.10.1954 wurde bekannt, dass im Tagebau des Braunkohlenwerkes Sedlitz, [Bezirk] Cottbus, eine Unterschriftensammlung zwecks Freilassung eines E-Lokführers aus der Haft durchgeführt wurde. Dieser E-Lokführer hatte durch Fahrlässigkeit den Einsturz der Bunkerbrücke der Brikettfabrik herbeigeführt. Die Liste war von 79 Lokführern und Weichenstellern unterschrieben.7

Produktionsstörungen

Am 18.10.[1954] entgleisten im VEB Braunkohlenwerk Profen, [Bezirk] Halle, beim Durchfahren einer Weiche ein Wagen und die E-Lok eines Kohlenzuges. Kohlenförderung musste für mehrere Stunden unterbrochen werden. Die Entgleisung wurde vermutlich durch [ein] schadhaftes Untergestell des Wagens verursacht.8

Am 18.10.[1954] löste sich an einem Trafo des Kunstseidenwerkes [Premnitz], [Bezirk] Potsdam, aus bisher unbekannten Gründen ein Kabel, wodurch ein Kurzschluss verursacht wurde. 22 Spinnmaschinen kamen dadurch zum Stillstand.9

Handel und Versorgung

Auf den Verladestraßen in Berlin lagern zurzeit 10 000 t Kartoffeln, die wegen Arbeitskräftemangel nur zum geringen Teil ausgeliefert werden. Davon sind 4 000 t infolge der Nässe zum Teil am Verfaulen.10

Kohlenmangel herrscht im Bezirk Potsdam und in Dresden. Im Bezirk Rostock fehlen Nährmittel, Winterkleidung und Baustoffe.

Im Bezirk Schwerin sind Kindernährmittel auf Kinderkarten so knapp, dass nicht einmal 30 Säuglinge der Kinder-Tbc-Heilstätte Waldeck, Kreis Bützow, damit versorgt werden können.

In einigen Kreisen des Bezirkes Halle ist die Versorgung mit Speck und Eiern schlecht. In der Stadt Bitterfeld z. B. sind in letzter Zeit Engpässe mit Fleisch, Käse, Fisch und Speck zu verzeichnen. In einigen Orten des Kreises Gräfenhainichen, [Bezirk] Halle, wie z. B. in Rotta, gibt es seit Tagen keinen Malzkaffee und Zucker.

Landwirtschaft

Über das Wahlergebnis wird von der Landbevölkerung nur wenig diskutiert. Die Landbevölkerung begrüßt das gute Ergebnis und bringt teilweise zum Ausdruck, wie z. B. in der MTS Kötzlin, Kreis Kyritz, dass die Arbeiter- und Bauernmacht einen großen Sieg errungen hat, weil die Menschen in der DDR ihrer Regierung das volle Vertrauen ausgesprochen haben.

Ein Traktorist aus dem Kreis Kyritz brachte seine Freude wie folgt zum Ausdruck: »Es ist eine wahre Freude zu hören, dass die Menschen in der DDR sich für den Frieden entschlossen haben. Der 17. Oktober [1954] hat der Welt gezeigt, dass in der DDR der Friede gesiegt hat. Die gewählten Kandidaten der Nationalen Front11 können gewiss sein, dass sie in ihrem Kampf um den Frieden und die Einheit Deutschlands unsere volle Unterstützung haben.«

Die negativen Stellungnahmen kommen vorwiegend aus den Reihen der Groß- und Mittelbauern und teilweise der Kirche bzw. von dort, wo der Einfluss dieser Kräfte vorherrscht, wie z. B. in einigen Gemeinden des Bezirkes Magdeburg.

Ein Landarbeiter aus dem Kreis Guben, [Bezirk] Cottbus, sagte: »Über so einen Schwindel von Wahlen kann ein vernünftiger Mensch nur lächeln. Und es ist ein Beweis mehr dafür, dass der RIAS die Wahrheit spricht.«

Ein Bauer aus dem Kreis Guben (Kerkwitz): »Das waren Wahlen wie sie in Russland durchgeführt werden.«

Ein Großbauer aus Kleinkochberg, [Kreis] Rudolstadt, [Bezirk] Gera: »Das ist keine Wahl, das ist alles Beschiss. Weil keine Kreise auf den Wahlscheinen sind, müsste man die Zettel zerreißen.«

Ein parteiloser Landarbeiter im VEG Ludwigshof, [Kreis] Pößneck, [Bezirk] Gera: »So eine Wahl habe ich noch nicht mitgemacht. Sonst war es so, dass man immer etwas ankreuzen musste, aber diesmal brauchte man den Wahlschein nur in die Urne zu werfen und die aufgestellten Kandidaten sind doch auch fast wieder dieselben. Man hätte doch dann keine Wahl machen brauchen.«

In der Gemeinde Neuendorf, Kreis Klötze, [Bezirk] Magdeburg, wo der Einfluss der Großbauern und Kirche besonders groß ist, haben 75 Prozent hinter dem Schirm gewählt. In Badel, Kreis Kalbe/Milde,12 70 Prozent und in einzelnen Gemeinden einiger Kreise des Bezirkes Magdeburg zu 50 Prozent.

Klagen über Ersatz[teil]mangel kommen aus der MTS in Kreis Jüterbog, der MTS Fröhden, Kreis Jüterbog, wo zwei Ifa Aktivist13 stillstehen, weil es keine Kühler und Lenkschubstangen gibt.14

In der MTS-Spezialwerkstatt Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, können zwei Raupen und ein Laufwerk nicht fertiggestellt werden, weil die erforderlichen Ersatzteile fehlen.15

Große Verärgerung herrscht unter den Bauern der Gemeinde Falkenberg, Kreis Luckau, wegen der Differenzierung des Ablieferungssolls. Es gibt Bauern, die nur 25 Ztr. ernteten und 40 Ztr. zur Ablieferung bringen müssen.16

Übrige Bevölkerung

Unter der übrigen Bevölkerung wird noch verhältnismäßig wenig über das Wahlergebnis gesprochen, jedoch überwiegend positiv. Zum Beispiel sagte ein Neubürger aus Lissa, [Bezirk] Leipzig: »Ich bin stolz auf das Ergebnis der Volkswahlen. Das ist ein Beweis des Vertrauens der Bevölkerung zur Regierung und ein Schlag gegen die Kriegstreiber. Ich habe hier eine neue Heimat gefunden und wünsche, nicht noch einmal einen Krieg zu erleben. Deshalb gab ich auch meine Stimme den Kandidaten der Nationalen Front.«

Eine Hausfrau aus Rathenow, [Bezirk] Potsdam: »Das Wahlergebnis ist gut. Man sieht daran, dass unsere Regierung das volle Vertrauen unserer Bevölkerung genießt.«

Ein Handwerker aus Geithain, [Bezirk] Leipzig: »Es ist gut, dass unsere Regierung wiedergewählt wurde. Wir Handwerker haben besonders durch das Handwerksgesetz17 sehr viel Vergünstigungen und wollen, dass auf dieser Linie weitergearbeitet wird. Ich werde unsere Regierung stets unterstützen.«

In negativen Diskussionen über das Wahlergebnis wird zum Ausdruck gebracht, dass es aufgrund der Wahlhandlung zu gar keinem anderen Ergebnis kommen konnte. Zum Beispiel äußerte ein Einwohner aus Kehrberg, [Bezirk] Potsdam: »Es konnte ja keiner anderes wählen. Es war ja nur ein Stimmzettel abzugeben. Aufgrund dessen musste es ja so kommen, dass so viele Stimmen für die Kandidaten der Nationalen Front abgegeben wurden.«

Größeren Umfang nehmen die Diskussionen über die Durchführung der Wahl ein. Solche Äußerungen, dass es nicht richtig war, dass keine Bleistifte in den Wahlkabinen zur Verfügung standen, oder dass von einer Wahl gar nicht gesprochen werden könnte, da es nichts anzukreuzen gab, stammen aus allen Schichten der übrigen Bevölkerung, ja selbst von Genossen unserer Partei. In diesem Zusammenhang kommt es zu negativen Äußerungen, wie z. B., dass man sich das viele Geld für diese Art von Wahlen hätte sparen können, oder dass es keine demokratischen Wahlen waren. Zum Beispiel äußerte eine Hausfrau aus Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg: »Ich bin mit der Wahlhandlung nicht einverstanden gewesen, da man kein Kreuz machen konnte oder nicht zwischen ›Ja‹ und ›Nein‹ wählen konnte. Den Weg zum Wahllokal hätte man sich sparen können, denn den Wahlzettel hätten auch die Kinder in die Wahlurne werfen können. Dazu brauchte man keine erwachsenen Menschen von der Arbeit zu Hause abzuhalten.«

Ein Zahnarzt aus Welzow, [Bezirk] Cottbus: »Es wäre besser gewesen, das Geld, welches für Propaganda-Zwecke hinausgeworfen wurde, den Rentnern zukommen zu lassen. Eine Propaganda für diese Wahldurchführung wäre nicht notwendig gewesen.«

In einem Wahllokal in Zella-Mehlis, [Bezirk] Suhl, diskutierte eine Gruppe von Menschen: »Das soll nun eine freie Wahl sein. Nicht einmal Bleistifte haben wir hier gesehen. Man wurde einfach gezwungen, den Zettel, so wie er war, in die Urne zu werfen.«

Eine Neubürgerin18 aus Zinnwald, [Bezirk] Dresden: »Das war doch keine Wahl. Wir hatten keine Möglichkeit, unseren Willen auszudrücken. Wir waren doch moralisch gezwungen, offen abzustimmen. Durch solche Wahlen kommen wir nie wieder in unsere Heimat.«

Ein Handwerker aus Auma, [Bezirk] Gera: »Der RIAS hatte alle aufgefordert, zur Wahl zu gehen und mit ›Nein‹ zu stimmen, aber da hat man uns schön angeführt, denn auf dem Schein war ja gar nichts abzustimmen. Hätte ich es nur auch so gemacht, wie ein Berufskollege von mir, der ist schon zur letzten Wahl nicht gewesen und diesmal auch wieder nicht. Passieren tut ihm deshalb auch nichts.«

Ein Rentner aus Triptis, [Bezirk] Gera: »Diese Wahl war keine Wahl. Sie war die undemokratischste [sic!], die ich bisher erlebt habe. Die im Westen haben ganz recht, wenn sie sagen, dass es in der DDR keine demokratischen Wahlen gibt.«

Eine Volkspolizistin aus dem Kreis Forst, [Bezirk] Cottbus: »Das waren keine geheimen Wahlen, da man nur einen Zettel bekam, ihn zusammenfalten musste und ihn nur in die Wahlurne zu stecken brauchte.«

Ein Berufsschullehrer aus Delitzsch, [Bezirk] Leipzig, forderte von dem Kreiswahlleiter, dass dieser Einspruch erheben sollte wegen der Durchführung der Wahl. Er vertritt die Meinung, dass die Wahl nicht demokratisch war und äußerte: »Unter diesen Bedingungen kann ich die Kinder nicht mehr unterrichten und erziehen.«

Das Lehrer-Kollegium (bestehend aus vier Lehrern) der Zentralschule Wildberg, [Bezirk] Neubrandenburg, war ebenfalls mit der Wahlhandlung nicht einverstanden. Aus dem Grunde schickten sie am 18.10.[1954] die Kinder nach Hause und traten in den Streik. Die zuständigen Stellen sind von diesem Vorgang informiert und Maßnahmen wurden eingeleitet.

In der 16. Grundschule in Treptow, Berlin, sind die Genossen unserer Partei der Meinung, dass man den Wählern in den Wahlkabinen einen Bleistift hätte zur Verfügung stellen müssen, dass man vorher in der Presse die Durchführung hätte propagieren müssen. Viele Menschen wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Außerdem stehen sie auf dem Standpunkt, dass man keine Wahlscheine, die durchgestrichen wurden, als gültig erklären kann.

Im Institut für Marktforschung Berlin wird mehr von Genossen als von parteilosen Kollegen die Frage gestellt, ob unsere Regierung, die doch auf große Erfolge zurückblicken kann, sich so wenig sicher war und befürchtete, bei der Abgabe von »Ja«- und »Nein«-Stimmen zu unterliegen.

In Herressen, [Bezirk] Erfurt, brachte ein Mitglied des Wahlvorstandes (SED) zum Ausdruck, dass diese Wahl einen Sturm der Entrüstung unter der Bevölkerung ausgelöst habe und seine Meinung ist, dass die Wahl eine Verdummung der Menschen sei.

In Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg, mussten die Schauspieler des Volkstheaters mehrmals aufgefordert werden, zur Wahl zu gehen. Zum Beispiel waren von 14 Schauspielern um 15.00 Uhr erst zwei erschienen.

Im Stadtgebiet West/Magdeburg, welches als schlechtestes Wahlgebiet (in Magdeburg) bezeichnet werden muss,19 wurde beobachtet, dass ein großer Teil der Wähler die Wahlkabinen benutzte. Verschiedene Bürger durchkreuzten ihre Zettel und warfen sie in die Wahlurne.

In den Reihen der bürgerlichen Parteien wird ebenfalls vorwiegend über den Wahlverlauf gesprochen. Dabei kommt es zu negativen Äußerungen gegen unsere Partei und zum anderen wird zum Ausdruck gebracht, dass aufgrund der Wahldurchführung nicht von einer demokratischen Wahl gesprochen werden könnte. Zum Beispiel sagte ein LDP-Mitglied aus Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das hat die SED wieder fein hingekriegt und wir haben uns für ihren Zweck mit einspannen lassen. Mit Demokratie haben unsere Wahlen nichts zu tun. Da können wir uns am Westen ein Beispiel nehmen.«

Der Vorsitzende der LDPD aus dem gleichen Ort: »Da hat sich ja die SED wieder einmal einen Spaß geleistet. Bis zum letzten Tag wurde nicht bekanntgegeben, wie ein Stimmzettel beschaffen ist und dann wird man vor die Tatsache gestellt, offen abstimmen zu müssen bzw. den Zettel so reinzustecken, dass ja absolut nichts zu wählen war.«

Außer den positiven Erscheinungen in den Reihen der Geistlichen, dass sie entweder offen für die Kandidaten der Nationalen Front stimmten oder mit ihren Kirchgängern geschlossen zur Wahl gegangen sind, gibt es eine ganze Reihe Pfarrer, die nicht wählen gegangen sind. Zum Beispiel wurde festgestellt, dass im Stadt- und Landkreis Cottbus die Pfarrer im Allgemeinen nicht zur Wahl erschienen sind. Das Gleiche trifft auch auf Zwickau Stadt und Land zu.

Ein Pfarrer aus Cainsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin bisher immer zur Wahl gegangen und habe mich immer hinterher geärgert. Diesmal gehe ich nicht. Außerdem ist ja in der DDR jedem seine freie Meinungsäußerung garantiert, und es kann keine Diffamierung eintreten, wenn jemand nicht zur Wahl geht.«

Bei der Auszählung der Stimmen kam es verschiedentlich unter den Mitgliedern der Wahlvorstände zu Meinungsverschiedenheiten. So äußerten sich z. B. zwei Mitglieder eines Wahlausschusses in Markersdorf, [Bezirk] Gera: »Diese Stimmauszählung und Entscheidung über gültige und ungültige Stimmen ist Betrug. Da schmeißt man alle Stimmen als gültig hin, da brauchten wir ja auch gar keine Wahl zu machen.«

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverbreitung

SPD-Ostbüro:20 Karl-Marx-Stadt 40, Gera 38, Dresden 60, Potsdam 5 080.

KgU:21 Cottbus 25 020, Dresden 27, Halle 407.

UFJ:22 Potsdam 200.

»Zwangsblock-Wahlen bedeuten SED-Diktatur«: Karl-Marx-Stadt 700, Gera 1 000, Erfurt 40.

NTS:23 Karl-Marx-Stadt 353, Dresden 36, Halle 800.

»Tribüne«:24 Karl-Marx-Stadt 40.

»Männer und Frauen der DDR wählt durch die Post ›Nein‹«: Karl-Marx-Stadt 37.

In tschechischer Sprache: Dresden: einige.

Am 19.10.1954 wurden am Kreisgericht und am Konsumgebäude in Zeulenroda, [Bezirk] Gera, kleine, graue, handgeschriebene Zettel festgestellt, mit folgendem Wortlaut: »Die Wahl war ein Betrug« und »Das war keine freie Wahl«.

Die Hetzschriften wurden größtenteils durch Ballons eingeschleust und sichergestellt.

In der Gemeinde Kampehl, [Kreis] Kyritz, [Bezirk] Potsdam, wurden ein LPG-Vorsitzender sowie ein Kreistagsabgeordneter von einer Person tätlich angegriffen und provoziert.25

In der Sandgrube Fuchmann,26 Penig, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurden die Antriebsriemen der in der Sandgrube befindlichen Transportbänder von unbekannten Tätern entwendet und zerschnitten und in ein Gebüsch geworfen. Durch diese Handlungsweise konnte die Produktion in dem Sandwerk nicht aufgenommen werden. Die Firma ist mit der Wismut27 und der Bau-Union Zwickau vertraglich gebunden und kann dadurch ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, da die Ersatzriemen erst von Leipzig bestellt werden müssen.28

Antidemokratische Tätigkeit: In einem Wahllokal in Meißen, [Bezirk] Dresden, wurde bei der Auszählung der Stimmen ein schwarz-weiß-rotes Ordensband gefunden.

In der Gemeinde Zschornau, [Kreis] Kamenz, [Bezirk] Dresden, wurde eine Fahnenstange herausgerissen sowie die DFD-Fahne abgerissen und in einen Bach geworfen.

Im Stadthaus Potsdam wurde bemerkt, dass auf einer Toilette folgende Hetzlosung angeschmiert war: »Nieder mit dem Kommunismus, nieder mit dem SED-ismus, wir wollen freie Wahlen, wie in Westberlin.«

Auf einigen Stimmzetteln im Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, stand Folgendes: »Unsere Forderungen vom 17. Juni 1953 bleiben bestehen.«

In der Gemeinde Wesseldorf,29 [Bezirk] Neubrandenburg, wurde von einer Person, die in dem anbetrunkenen Zustande [sic!] war, die Auszählung der Stimmscheine gestört, indem er mit den Händen die Stimmscheine durcheinanderbrachte. Er musste gewaltsam entfernt werden.

Vermutliche Feindtätigkeit

In Löbschütz, [Kreis] Meißen, [Bezirk] Dresden, wurde von einer Drillmaschine der LPG ein Zahnrad entwendet. Die Maschine stand an der gleichen Stelle, wo vor einiger Zeit dem Düngerstreuer ein Rad abgezogen wurde.30

Einschätzung der Situation

Im Vordergrund der politischen Diskussionen steht nicht das Wahlergebnis, sondern weiterhin der Wahlablauf. Ein Teil der Bevölkerung aus allen Schichten versteht nicht, warum auf den Stimmzetteln keine Kreise zum Ankreuzen für ja oder nein gewesen sind und warum die Bleistifte in den Wahlkabinen fehlten. Die feindlichen Elemente benutzen dies, in Verbindung mit den RIAS-Argumenten, zu dem Versuch, die Volkswahl in den Augen der Bevölkerung als undemokratisch hinzustellen. Die feindliche Flugblatt-Verteilung hat stark nachgelassen.

Anlage vom 20. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2345

Auswertung der Westsendungen zum Ergebnis der Volkswahlen

In zahlreichen Sendungen beschäftigen sich die Westsender mit der Durchführung und dem Ergebnis der Volkswahl. Es wird versucht, die Bedeutung der Volkswahlen abzuleugnen und in der Bevölkerung die Meinung zu verbreiten, dass die Wahlen in der Welt keine Beachtung finden und dass das Wahlergebnis von der »westlichen Welt« nicht anerkannt würde. Einzig und allein die »gewählten Vertreter der Bundesrepublik« wären die wirklichen und berechtigten Vertreter des deutschen Volkes.

Zur Begründung des Vorstehenden wird behauptet, dass die Wahlen nicht demokratisch gewesen seien, dass es überhaupt keine Wahlen gewesen wären bzw. dass die Bevölkerung zur Abstimmung gezwungen worden sei. Für diese Behauptungen werden »Beweise« konstruiert, wie z. B. die »eidesstattliche Erklärung eines Wählers aus den Randgebieten Berlins, aus dem Kreis Zossen«, der die Wahlkabine angeblich nicht benutzen konnte, weil er von »einigen umstehenden Personen, die nicht an der Wahlhandlung beteiligt waren, beobachtet« wurde. Beispiele ähnlicher Art zur Verleumdung der Wahlhandlung werden in allen anderen Sendungen bzw. auch den entsprechenden Artikeln der Westpresse, die die gleiche Hetze enthalten, gebracht.

Bei der Darstellung der Wahlhandlung werden vielfach verleumderische Vergleiche zu den Wahlen während des Hitlerfaschismus gezogen.

Im Zusammenhang mit den Volkswahlen wird die Frage gestellt, ob die Vorschläge des sowjetischen Außenministers Molotow31 über die Durchführung freier Wahlen in ganz Deutschland ehrlich gemeint seien.32 Es heißt dazu, u. a. in einer Sendung des Londoner Rundfunk:33 »Was sich gestern abgespielt hat, ist wahrhaftig kein gutes Omen für das, was Molotow gemeint haben könnte.«

Die »Schlussfolgerungen«, die die westlichen Sender ziehen und die vor allem der RIAS als Forderung propagiert ist »verstärkter Widerstand« der Bevölkerung der DDR gegen die Regierung und unsere Partei. Der Sender »Freies Berlin« versucht die Beeinflussung der Bevölkerung mit einem Hinweis auf den 17.6.1953. Es heißt: »Erreicht haben die deutschen Sowjets mit den gestrigen Volkswahlen zweierlei. Einmal die obligaten 99 Prozent, die keinen, weder die Russen, noch die SED, noch die Menschen in der Zone davon überzeugen, dass das Volk hinter Ulbricht34 und Pieck35 steht. Zum anderen aber eine tiefe Verbitterung in der ganzen Bevölkerung, die sich verhöhnt, verletzt, gedemütigt fühlt, hilflos ausgeliefert der Minderheit perfekter Apparatschiks,36 die mit Augurenlächeln jeden Schritt der Delinquenten, denn so fühlten sich die meisten, belauerten. Diese Verbitterung, diese grenzenlose Empörung der zur Zwangsabstimmung förmlich getriebenen Menschen bleibt, [das] ist das eigentliche Ergebnis des 17. Oktober [1954]. Und wir gehen gewiss nicht fehl in der Annahme, dass diese Verbitterung besonders solche Parteifunktionäre stark beunruhigen wird, die gewisse Erfahrungen aus der Zeit um den 17. Juni [1953] nicht vergessen haben.«

Gleichzeitig werden im Rahmen der Forderung nach verstärkten Widerstand Beispiele gebracht, dass sich in vielen Städten der DDR Menschen gegen die Durchführung der Wahlen empört hätten und dies in Losungen wie »Nieder mit der SED« oder »das waren Betrugswahlen« u. a. zum Ausdruck gebracht hätten. Das bedeutet gleichzeitig die Aufforderung, ähnlich zu handeln.

Mit den höhnischen Worten, dass das Wahlergebnis doch beweise, dass die SED das Vertrauen von 99 Prozent der Bevölkerung der DDR habe und dass am vergangenen Sonntag in der DDR der Klassenfeind vernichtend geschlagen worden ist, ja aufgehört habe zu existieren, versucht insbesondere der RIAS, folgende Forderungen zu proklamieren:

1) Die SED solle aus dem Wahlergebnis die Konsequenzen ziehen, dass »der umfangreiche Sicherheits- und Spitzelapparat« nicht mehr notwendig ist.

2) Es solle eine Amnestie durchgeführt werden und es sollen alle Urteile nach dem 17.6.1953 rückgängig gemacht werden.

3) Die SU soll »der SED-Führung eine größere Bewegungsfreiheit einräumen, nach innen und nach außen. Dann könnten die sowjetischen Kontrolloffiziere aus den Ministerien, aus der Industrie zurückgezogen werden.«

4) Die SU soll »die letzten Kriegsgefangenen freigeben und die Zivilgefangenen37 in den großen Straflagern an der Eismeerküste38 in die DDR zurückschicken«.

In den verschiedensten Sendungen des RIAS werden diese Forderungen in der verschiedensten Art gebracht. Zum Beispiel heißt es in der Sendung des RIAS am 19.10.1954, 6.00 Uhr, »Jugend spricht zur Jugend« wie folgt: »Wenn alle Wähler hinter der Partei stehen, wie sie es behauptet hat, dann werden doch verschiedene Maßnahmen überflüssig. Dann könnten z. B., und das sollte man fordern, alle Jugendlichen, die vor dem 17. Juni 1953, während des 17. Juni und nach dem 17. Juni verhaftet und verurteilt wurden, freigelassen werden. Denn eine Bevölkerung, die zu 99 Prozent hinter der Partei steht, und das sollte man der Partei sagen, ist wachsam genug, um auf diese, wie die Partei sagt, Außenseiter aufzupassen. Es gibt auch andere Dinge. Wenn die Bevölkerung wirklich hinter der Nationalen Front steht, braucht man noch die Jugendlichen zu zwingen, in Jugendbrigaden zu gehen oder Produktionsaufgebote mitzumachen? Muss man dann noch für die KVP werben?39 Denn, wenn sie, wie die Partei behauptet, hinter ihr stehen, kommen sie doch von alleine. Und schließlich könnte auch der Staatssicherheitsdienst einen Teil seiner Tätigkeit aufgeben, denn wenn er im gleichen Umfang wie bisher weiterarbeitet, dann kann es doch nur bedeuten, dass nicht 99 Prozent hinter der Partei stehen, sondern dass das Wahlergebnis Schwindel ist.«

RIAS fordert mit den nachstehenden Worten die Bevölkerung der DDR auf, die vorstehenden Fragen bei jeder Gelegenheit zu diskutieren: »Wir haben versucht, die Erklärungen der SED-Funktionäre zum Wahlschwindel am Sonntag logisch zu Ende zu denken. Die Konsequenzen dieses Wahlschwindels hat die Partei zu tragen, nicht die Bevölkerung. Die Partei hat am Sonntag einen Scheck ausgeschrieben, der jetzt eingelöst werden muss. Man muss die Genossen Funktionäre bei jeder passenden Gelegenheit daran erinnern.«

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