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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

22. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2347 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Im Vordergrund der Diskussionen stehen neben wirtschaftlichen Fragen die Volkswahlen.1 Der Umfang der Diskussionen nimmt allmählich ab. Zum Ergebnis der Wahlen wird nur in geringem Umfang, doch überwiegend positiv Stellung genommen. So sagte z. B. ein Schichtführer aus dem VEB Schmierfett Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Ich habe kein anderes Ergebnis erwartet, denn abgesehen von den großen Erfolgen, wie Preissenkungen2 usw. ist in sozialer Hinsicht viel für die Kumpels im Betrieb getan worden. Wer jetzt noch nicht gesehen hat, wohin der Weg unserer Regierung führt, ist nicht mehr zu retten.«

Überwiegend wird immer noch zur Wahlhandlung und den Stimmzetteln gesprochen. Diese Diskussionen werden meist von Arbeitern und Angestellten, gering von Intelligenzlern geführt, verschiedentlich auch von SED-Mitgliedern. Ein Teil dieser Stimmen ist positiv. Dies zeigt sich besonders im Bezirk Leipzig. So erklärte z. B. ein Obermeister aus dem Dimitroff-Werk Leipzig: »In der heutigen Zeit ist eine offene Stimmabgabe durchaus zu befürworten, da man in einem Arbeiterstaat keinen Hehl aus seiner Auffassung zu machen braucht und deshalb auch jede Geheimniskrämerei wegfallen kann.«

Ein größerer Teil der Meinungen hat zum Inhalt, dass die Werktätigen über die Stimmzettel erstaunt waren und nichts ankreuzen konnten, wie sie es von früheren Wahlen gewöhnt waren. Aus dieser Stimmung heraus ergaben sich mehrfach Diskussionen, dass man mit den Wahlen nicht vollkommen einverstanden sei, vor den Wahlen eine Aufklärung über die Stimmzettel hätte erfolgen müssen oder das Ergebnis bei [einem] anderen Wahlvorgang niedriger, jedoch wirkungsvoller gewesen wäre. So wird z. B. im Betrieb 05 des »Karl-Liebknecht«-Werkes Magdeburg besonders von alten SPD-Mitgliedern gesagt: Es wäre besser gewesen, wenn man die Kandidaten angekreuzt hätte. Ein SED-Mitglied aus dem Betrieb 13 des gleichen Werkes erklärte: »Das waren keine richtigen Wahlen, dass ist Wasser auf die Mühle des Klassengegners.«

Im VEB EAW »J. W. Stalin« Berlin3 wird besonders unter den Jungwählern davon gesprochen, dass sie auf den Wahlzetteln nichts ankreuzen brauchten, zumal ihnen vorher von älteren Kollegen mitgeteilt wurde, dass etwas angekreuzt werden muss.

Ein Genosse aus dem [Wismut-]Objekt Johanngeorgenstadt4 erklärte: »Das war keine normale Wahl gewesen. Teile der Bevölkerung können solch eine Wahl nicht verstehen.« Ein Kollege aus dem gleichen Objekt: »Haben wir es nötig, so eine Wahl durchzuführen? Wir hätten vielleicht bei richtigen Wahlen prozentual an Stimmen verloren, aber dem Westen keinen Grund zum Hetzen gegeben. Die Stimmenmehrheit wäre auf alle Fälle gesichert gewesen.«

Ein Teil der Bearbeiter für Arbeitsnormen im VEB Bau-Union Berlin äußerte eine ähnliche Ansicht und fügte hinzu, dass die Wahlscheine und die Wahlhandlung den Wählern hätte bekanntgegeben werden müssen. Ebenfalls hat ein Teil der negativen Meinungen seine Ursache hierin, wonach die Wahlen als undemokratisch und Ähnliches bezeichnet werden. Häufiger werden solche negativen Diskussionen in den Bezirken Potsdam, Dresden und im Wismutgebiet, Berlin, Halle und Erfurt geführt. Der Umfang dieser Diskussion ist verhältnismäßig gering.

Ein Arbeiter (SED) aus dem VEB Flachglashütte Uhsmannsdorf, Kreis Niesky: »Die Wahl wurde undemokratisch durchgeführt, da man nichts ankreuzen konnte. Außerdem gab es keine Bleistifte in den Kabinen. Früher haben wir um das geheime Wahlrecht gekämpft, heute ist das alles vergessen.«

Ein Intelligenzler vom Wismut-Objekt Johanngeorgenstadt äußerte in einer Unterhaltung mit mehreren Geophysikern: »Wenn das eine Wahl ist, na dann weiß ich nicht. Man muss ja, ob man will oder nicht, und in den Kabinen da ist kein Bleistift, was will man da machen, man muss es eben lassen, wie es ist.« Die umstehenden Intelligenzler stimmten der Meinung zu.

Ein Kollege aus dem Autoreparaturwerk Erfurt: »So etwas von Wahl hat es noch nie gegeben, man durfte nicht einmal die Kabine betreten. Das ist undemokratisch.«

In der Kammgarnspinnerei Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, hat sich die Stimmung der Kollegen verschlechtert. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass es keine geheimen Wahlen waren und man sich durch die Wahl lächerlich gemacht hat. Die BPO-Sekretärin vertritt selbst die Meinung, dass die Wahl nicht geheim war.

Im Buna-Werk ist ein großer Teil der Genossen nicht in der Lage, die negativen Argumente über die Wahlen zu zerschlagen. Ähnlich ist es unter einem Teil der SED-Mitglieder in mehreren Berliner Betrieben.

Im VEB Universalwerk in Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, ist unter den Werktätigen keine Begeisterung über den Wahlerfolg vorhanden, während bei der Volksbefragung5 das Resultat mit Spannung erwartet wurde. Es ist die negative Meinung, dass die Wahl undemokratisch war, verbreitet.

Umfangmäßig gering sind Diskussionen, in denen eine offene feindliche Einstellung gegen die DDR zum Ausdruck kommt. Im technischen Büro 5 im »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg,6 wo ca. 80 Ingenieure und Zeichner arbeiten, wird überwiegend diskutiert, dass die Wahl ein großer Betrug sei und nie anerkannt werden kann. Unter anderem wurde erklärt, dass die Wahlkabinen überwacht wurden. Auch aus anderen Magdeburger Betrieben wurden aus den Kreisen der Intelligenz ähnliche Meinungen laut. Die gleiche Meinung wurde von mehreren Kollegen der mechanischen Werkstatt des Wismut-Objektes 90 in Gera vertreten.

Ein jugendlicher Kollege aus dem Betrieb 64 des »Ernst-Thälmann«-Werkes Magdeburg, Funktionär in der Jungen Gemeinde, erklärte, dass die Volkswahl eine bessere Viehzählung sei. Ähnliche Diskussionen treten auch vereinzelt in den Betrieben Kraftwagenverkehr, Baubetrieb und Modelltischlerei des gleichen Werkes auf.

Ein Kollege aus dem VEB »Heinrich Rau«,7 [Bezirk] Potsdam: »Ich glaube, man hat einen Fehler gemacht. Man hätte das nicht als Wahl bezeichnen sollen, sondern als Volksbefragung oder Volksentscheid. Das ist auch die Meinung vieler meiner Kollegen.« Ähnlich wird von einem Teil der Kollegen des VEB Schuhfabrik Schmölln, [Bezirk] Leipzig, gesprochen.

Im VEB Jenapharm wurde von mehreren Arbeitern die Meinung eines Kollegen begrüßt, der sagte: »Wenn die Arbeiter alle einig wären, sähe es mit dem Wahlergebnis anders aus. Aber so können sie ja machen, was sie wollen.«

Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB IFA-Werk Wilsdruff, [Bezirk] Dresden: »Die Durchführung der Volkswahl ist ein Anlass zu einem neuen 17.6.1953.«

Im VEB Plasta in Sonneberg, [Bezirk] Suhl, wird von einigen Kollegen in zynischer Form erklärt: Man braucht keine Wahlscheine mehr zu drucken und kann das Geld dafür dem Aufbau zur Verfügung stellen. In der Zeitung soll man dann schreiben, wer mit den Kandidaten einverstanden ist, braucht zur Wahl nicht zu erscheinen. Die Personen, die nicht einverstanden sind, gehen nur hin und melden sich.

Im Anhydritwerk in Niedersachswerfen, [Bezirk] Erfurt, besteht unter den Kollegen eine Missstimmung. Wegen Waggonmangel lagern im Betrieb zzt. 4 000 t Baustoffe, die in den hochwassergeschädigten Gebieten8 und beim nationalen Aufbauwerk9 dringend benötigt werden. Das Werk ist in Planrückstand gekommen, wodurch die Arbeiter mit Nebenarbeiten beschäftigt werden und ihr Verdienst nicht garantiert ist (Arbeiten im Leistungslohn).

Waggonmangel besteht im Fliesenwerk in Boizenburg, [Bezirk] Schwerin, wodurch die Exportaufträge nur schwierig erfüllt werden können.

Handel und Versorgung

Die teilweise bestehenden Mängel in der Belieferung mit Lebensmitteln und Industriewaren aller Art sind noch nicht behoben. Im Kreis Quedlinburg, [Bezirk] Halle, z. B. fehlt es an Hülsenfrüchten, Haferflocken, Graupen, Fett, Käse, Zellwolle, Möbelstoffen und Feinwaschmitteln. Diese Mängel wirkten sich auch auf den Umsatzplan aus, sodass er nicht erfüllt werden konnte.

Eine unzureichende Versorgung mit Frischfleisch, Frischeiern, Stärkeerzeugnissen und Zitronen ist im Kreis Wittstock, [Bezirk] Halle, zu verzeichnen. Außerdem mangelt es dort im Baugenossenschaftshandel an Zement, Pappe, Gips und insbesondere an Fensterglas. Eine große Nachfrage besteht in den o. g. Kreisen nach Bohnenkaffee, Schokoladenpulver und Kondensmilch.

Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kartoffeln ergeben sich im Bezirk Schwerin durch den Mangel an Waggons. So liegen z. B. in den Gemeinden Düpow, Nebelin und Dergenthin, Kreis Perleberg, Kartoffeln zur Ablieferung bereit, die in Wittenberge10 fehlen. Das Gleiche trifft in Güstrow mit Schweinefleisch zu.

Die Konsumgenossenschaft Annaberg, Kreis Jessen, erhielt vom Schlachthof Finsterwalde 20 Dpz. verdorbenes Gefrierfleisch, das von den Fleischern zur Weiterverarbeitung abgelehnt wurde. Der hinzugezogene Tierarzt stellte fest, dass das Fleisch nicht mehr den Bestimmungen des Fleischbeschaugesetzes entsprach.11

Landwirtschaft

Im Verhältnis zu anderen Bevölkerungskreisen diskutiert die Landbevölkerung verhältnismäßig wenig über politische Tagesfragen. Im Mittelpunkt aller Schichten steht die Wahlhandlung bzw. der Ablauf der Volkswahlen. Von einem Teil der Landbevölkerung wird das Wahlergebnis freudig begrüßt und als Schlag gegen unsere Feinde gewertet. Ein Teil der Landbewohner bemängelt die Wahlhandlung in kritisierender Form. Ein parteiloser Landarbeiter aus Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, sagte hierzu: »So etwas habe ich auch noch nicht erlebt. Die Wahl ist doch so wichtig. Ich habe aber noch nicht mal gewusst, wie ich alles anstellen soll im Wahllokal. Da hätten sie doch aber wirklich Bescheid sagen können.«

Ein anderer Teil drückt sein Erstaunen über die Form dieser Wahl wie folgt aus. Ein Bauer aus Delitzsch, [Bezirk] Leipzig, sagte: »Ich denke doch, dass wir die richtigen Vertreter in die Volkskammer und in den Bezirkstag gewählt haben. Über die Form der Wahl war ich erstaunt, so etwas hat es noch nie gegeben.«

Ein Mittelbauer aus Wüstenbrand, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich war überrascht, dass die Stimmzettel nicht so angefertigt waren, dass man Ja oder Nein einschreiben konnte. Wenn die Wahlen so durchgeführt werden, ist ja von vornherein schon klar, dass mindestens 98 Prozent für die Regierung sind. Meiner Ansicht nach ist das nicht demokratisch.«

Wieder andere behaupten, dass ihre Beteiligung an der Wahl überflüssig gewesen sei. Der Wahlvorsteher und der Bürgermeister aus Zschockau, [Kreis] Döbeln, ließen es zu, dass ein Bauer für seinen Vater und ein anderer für seine Frau mitwählten. Die Einwohner dieses Ortes sagten daraufhin, bei so einer Wahl könnte der Bürgermeister für die ganze Gemeinde wählen.

Ein parteiloser Einwohner aus Völpke, [Kreis] Oschersleben: »Die Wahl war das Tollste, was sie sich leisten konnten. Ob man da hingegangen ist oder nicht.«

Teilweise wurde eine ausgesprochen feindliche Haltung festgestellt, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein parteiloser Bauer aus Langenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Man konnte ja die aufgestellten Wahlkabinen gar nicht aufsuchen, weil man damit rechnen musste, dass man vermerkt wird, da der größte Teil offen abstimmte. Die Wahl war bereits von vornherein fertig, sonst hätte man auf die Stimmzettel zwei Ringe mit Ja und Nein gedruckt.«

Verschiedentlich wird festgestellt, dass durch Maschinen und Ersatzteile schlechter Qualität und durch Mangel an Ersatzteilen die MTS bei ihrer Arbeit behindert wird. Dadurch entsteht eine Verärgerung sowohl unter den Arbeitern der MTS als auch unter den Bauern. So berichtet z. B. die MTS Doberlug, [Bezirk] Cottbus, dass bei der letzten Lieferung einer Raupe aus dem Schlepperwerk Brandenburg an der Maschine ein Schaden aufgetreten ist, wodurch diese sechs Tage ausfallen musste. Ersatzteile waren weder im Kreiskontor Cottbus noch in Werder zu bekommen. Die Ersatzteillieferung durch das Kreiskontor in Cottbus ist in letzter Zeit so schlecht geworden, dass es mitten in der Pflugsaison keine Pflugteile gibt.

Auf der LPG Gerbstedt und Freistedt,12 [Bezirk] Halle, ist die Rübenrodung erst zu 38 Prozent erfolgt, weil die Rübenkombine13 wegen Materialschaden des Öfteren ausfällt.

Stellenweise beklagt man sich über Kräftemangel und die mangelhafte Unterstützung bei der Hackfruchternte seitens der Staatsorgane. So beschwerte sich z. B. der Leiter eines VEG im Kreis Fürstenwalde über den Kreisrat wie folgt: »Der Rat des Kreises hält es nicht für nötig, Kräfte für die verlustlose Einbringung der Hackfrüchte einzusetzen. Zurzeit sind noch 14 ha Kartoffeln und circa 50 ha Zuckerrüben und Futterrüben auf den Feldern. Wenn nicht bald eine Unterstützung kommt, sehe ich schwarz für die verlustlose Einbringung derselben.«

Übrige Bevölkerung

Noch immer stehen die Diskussionen über die Volkswahl im Vordergrund. Dabei wird aber weniger über das Ergebnis, sondern mehr über den Wahlablauf gesprochen. Die Gespräche sind in der Mehrzahl positiv und werden in den verschiedensten Bevölkerungsschichten geführt. Zum Beispiel sagte eine Angestellte von dem Rat des Kreises Zossen, [Bezirk] Potsdam: »In unserem Wahllokal gab es einige Menschen, die es durchaus nicht begreifen wollten, dass es diesmal ohne Bleistift ging. Die wenigen Personen, die die Wahlkabine aufgesucht haben und einen Vermerk oder etwas anderes darauf geschrieben haben, konnten das gute Ergebnis nicht beeinflussen.«

Eine Hausfrau aus Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Wer für den Frieden ist, der brauchte nicht in die Wahlkabine zu gehen, sondern konnte offen stimmen, denn das konnten alle sehen.«

Eine Hausfrau aus Labenz, [Bezirk] Schwerin: »Ich bin mit der Volkswahl voll und ganz einverstanden. Es konnte gar nicht anders sein, als für die Kandidaten der Nationalen Front14 zu stimmen. Auch der Wahlvorgang war richtig.«

Ein Gastwirt aus Blechhammer, [Bezirk] Suhl: »Früher haben wir gewählt, und da standen nur ein paar Größen auf dem Papier, die keiner kannte. Jetzt haben sich die Kandidaten alle vor der Wahl vorgestellt und wir hatten Gelegenheit, diese Menschen kennenzulernen, deshalb bin ich mit der Volkswahl einverstanden.«

Eine Oberärztin aus dem Krankenhaus Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Die Volkswahl war im Vergleich zu den Wahlen in den kapitalistischen Ländern, die demokratischste, die ich je erlebt habe. Es stand auch jedem frei, die Wahlkabine zu benutzen oder den Wahlschein ungültig zu machen.«

Es gibt auch immer noch Diskussionen über den Wahlablauf, in denen zum Ausdruck kommt, dass Bleistifte in den Kabinen sowie die Kreise auf dem Stimmschein vermisst wurden und dass die Wahlkabinen »ungünstig« standen. Dabei wird von einigen geäußert, dass das Wahlergebnis ohnehin nicht schlecht ausgefallen wäre, auch wenn die Wahl in der üblichen Weise durchgeführt, d. h. wenn die Wahlscheine mit einem Kreis für »Ja« oder »Nein« versehen worden wären. Zum Beispiel diskutierten Genossen und Parteilose an der Oberschule Baumschulenweg Treptow, Berlin: »Die Wahlkabinen hätten nicht abseits stehen sollen, sondern der Wähler hätte über die Wahlkabinen zur Wahlurne gehen müssen. Dadurch, dass vielfach offen abgestimmt wurde, haben sich Verschiedene gescheut, die Wahlkabinen zu betreten. Die Bekanntgabe über den eigentlichen Wahlakt hätte ausführlicher und genauer sein müssen.«

Eine Schaffnerin aus dem demokratischen Sektor: »Man hätte es so einrichten müssen, dass man mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ hätte stimmen können. Ich hätte sowieso die Vertreter der Nationalen Front gewählt. Die Art und Weise der Wahl hat mir nicht gefallen.«

Ein Angestellter, ebenfalls aus dem demokratischen Sektor, beanstandete die offene Wahl und brachte zum Ausdruck, dass dieses Thema auch Gesprächsstoff in seiner Wohngegend wäre. Er ist der Meinung, dass auch bei einer geheimen Wahl der Erfolg bei ca. 90 Prozent gelegen hätte und es wäre auf diesen kleinen Prozentsatz der »Nein-Stimmen« oder ungültigen Stimmen nicht angekommen.

Ein Einwohner aus Schmalkalden, [Bezirk] Suhl: »Eine solche Wahl wäre aufgrund der Erfolge in der Vorbereitung nicht notwendig gewesen. Selbst auf die Gefahr hin, dass 10 bis 15 Prozent ablehnende Stimmen herausgekommen wären. Diese Art von Wahl hat das Vertrauen eines großen Teiles der Bevölkerung abgeschwächt und dem Klassengegner sowie der RIAS-Hetze weiteres Material in die Hände gespielt. Es hätten Bleistifte und Kreise auf dem Stimmzettel vorhanden sein müssen.«

In einer Sitzung des Ortsausschusses der Nationalen Front in Obermaßfeld, [Bezirk] Suhl, wurde folgendermaßen diskutiert, dass viele Menschen aus einer gewissen Angst-Psychose heraus die Wahlhandlung nicht richtig durchgeführt haben, da die Art der Stimmscheine nicht der Mentalität der Bevölkerung entsprach. Die Leute sind immer noch für das Ankreuzen der Stimmscheine. Diejenigen, die die Stimmscheine so entworfen haben, sind in ihrem politischen Bewusstsein weit voraus und haben dem Bewusstsein der Bevölkerung nicht Rechnung getragen.

In den Bezirken Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Gera und im demokratischen Sektor werden unter der Bevölkerung vereinzelt Diskussionen geführt, dass keine Gelegenheit vorhanden war, die Wahlkabinen zu benutzen, weil »Aufpasser« davorstanden. Zum Beispiel wurde unter den Kollegen des Großhandelskontors Textil Berlin davon gesprochen, dass zwar Wahlkabinen vorhanden waren, aber so gestellt wurden, dass derjenige, der sie benutzen wollte, aus der Reihe gehen musste und so dem Wahlleiter die Möglichkeit für eine Kennzeichnung in den Listen gegeben hätte. Außerdem haben vor den Wahlkabinen »Aufpasser« gestanden.

Ein Geschäftsmann aus Karl-Marx-Stadt: »Ich bin viel gewöhnt, aber diesmal hat es mir die Sprache verschlagen. Ich bin gewiss nicht ängstlich, aber als man mir den Wahlschein in die Hand drückte, sind mir beide Arme heruntergefallen. Man war einfach nicht in der Lage, mit ›Nein‹ zu stimmen, denn vor der Kabine stand eine Frau wie ein Wachposten. Das war keine Wahl, sondern eine Zettelabgabe.«

Vereinzelt diskutieren auch Genossen unserer Partei negativ über den Wahlablauf. Zum Beispiel sagte ein Apotheker von der Poliklinik Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt: »Ist das hier eine Wahl oder eine Handzettel-Verteilung. Ich muss mich als Mitglied der SED dafür schämen.« Ein Gastwirt ebenfalls aus Mühlhausen: »Bei der Volkswahl handelte es sich nicht um eine freie Wahl, sondern um die größte Frechheit, die sich je eine Regierung erlaubt hat. Da hat Hitler mehr Ehrgefühl gehabt, als unsere heutige Regierung.«

Der Hausmeister des ZK-Heimes Gabelbach,15 [Stadt] Ilmenau, [Bezirk] Suhl: »So einen Betrug wie diese Wahl, wo man nicht mal ein Kreuz machen konnte, habe ich noch nicht erlebt.«

Feindliche Elemente stellen die Wahl als einen Betrug hin und nehmen den Wahlablauf zum Anlass, gegen unsere Partei und Regierung zu hetzen. Zum Beispiel äußerte ein Färberei-Besitzer aus Oberlungwitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Wahl war ein großes Kasperl-Theater. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Aus Gründen der Klugheit werde ich einfach meinen Mund halten und diesen Zirkus einfach mitmachen.« Ein Fabrikant aus dem gleichen Ort: »Wir brauchen noch mehr derartiger Wahlen, um das Volk sprungreif zu machen. Weiterhin können wir von solchen demokratischen Wahlen nur profitieren, dass die Bevölkerung dahinterkommt, wie sie damit verdummt und veralbert wird.«

Eine Hausfrau aus Karl-Marx-Stadt: »Es war ja gar keine Wahl, sondern ein ganz gemeiner Wahlbetrug. Man hatte ja gar nicht die Möglichkeit, ›Nein‹ zu sagen. Im Wahllokal erhielt ich auf die Frage der Handhabung des Wahlzettels die Antwort: ›Wenn sie für den Frieden sind, dann stecken sie den Schein in die Urne.‹ Ich bin für den Frieden, aber wie diese Wahl durchgeführt wurde, war es mehr als Betrug. Das ganze Wahlergebnis stand ja schon vorher fest. Man getraute sich gar nicht, in die Wahlkabine zu gehen, nicht einmal ein Bleistift war vorhanden. Die Wahl war ganz nach russischem Vorbild aufgezogen und echt kommunistisch.«

Der Wahl ferngeblieben sind meist Geistliche und deren Angehörige sowie Anhänger von Sekten. Soweit dies der Bevölkerung bekannt wurde, gibt es Beispiele dafür, dass darüber Empörung herrscht. Zum Beispiel sind einige Einwohner der Stadt Gräfenthal, [Kreis] Neuhaus, [Bezirk] Suhl, darüber empört, dass die Ehefrau eines Pfarrers, die als Ärztin in dem Kreiskrankenhaus angestellt ist, nicht zur Wahl gegangen ist, da sie doch auf Kosten des Staates das Studium gemacht hat.

In einem Wahllokal Oranienburgs, [Bezirk] Potsdam, gab der Wahlleiter bekannt – bei der Stimmauszählung – dass mehrere Personen nicht gewählt haben. Dazu äußerte ein Einwohner: »Naja, das sind wieder die Zeugen Jehovas,16 dieser Betverein. Diese Bande sollte man aus der DDR ausweisen und keine Lebensmittelkarten mehr geben.« Alle Anwesenden stimmten dieser Ausführung zu.

Im Bezirk Frankfurt werden unter den Hausfrauen und Müttern von Kleinstkindern Diskussionen darüber geführt, dass es nicht genügend Nährmittel, besonders Haferflocken, gibt. Es wird von ihnen vorgeschlagen, dass man diese Nährmittel auf Berechtigungsscheine ausgeben sollte, damit sie auch die bekommen, die sie benötigen. Es ist bekannt, dass diese Produkte in größeren Mengen an Geflügel verfüttert werden, da diese Nahrungsmittel billiger sind als frei erhältliches Körner-Futter.17 Des Weiteren werden immer wieder von Hausfrauen des gleichen Bezirkes Klagen geführt über das schlechte Warenangebot der Konsum-Fleischereien. Es wird dabei erwähnt, dass die Privatschlächtereien ein weit größeres Angebot [hätten], und auch die Qualität der Waren soll besser sein.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:18 Halle: Bernburg 200, Köthen 431, Karl-Marx-Stadt 49, Gera 26.

KgU:19 Cottbus: Calau und Luckau insg[esamt] 35 000, Halle: Bernburg 41.

UFJ:20 Potsdam 8.

NTS:21 Halle 2 Pakete, Karl-Marx-Stadt 95, Gera 3 000, Dresden 24.

Verschiedener Art: Frankfurt 500.

Die Verteilung von Hetzschriften bzw. Flugblättern hat gegenüber den Tagen vor der Wahl stark nachgelassen. Bei den jetzigen Funden handelt es sich in den meisten Fällen noch um früher eingeschleuste Hetzschriften mit Hetze gegen die Volkswahlen.

Antidemokratische Tätigkeit: An die Tür eines Hauses in Bautzen wurde mit Ölfarbe geschrieben: »Die Wahl ist ein großer Schwindel.« In Meißen, [Bezirk] Dresden, wurde ein Schaukasten der Nationalen Front beschädigt.

Am Bretterzaun des VEB Fortschrittwerkes Singwitz,22 [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, wurde ein handgeschriebener Zettel mit Hetze gegen die Volkswahlen und die Regierung der DDR angebracht.

Am 17.10.1954 wurde in Oderin, [Bezirk] Potsdam, der Abschnittsbevollmächtigte der VP23 bei einem Tanzvergnügen von einem Einwohner von Oderin tätlich angegriffen und niedergeschlagen, nachdem dieser aufgefordert worden war, das Lokal zu verlassen, da der Wirt Feierabend geboten hatte.

Am 19.10.1954 wurden nach der zweiten Auszählung der Stimmscheine des fliegenden Wahllokals in Saalfeld, [Bezirk] Gera, von zwei an der Auszählung beteiligten Personen 205 gültige Wahlscheine für die Kandidaten der Volkskammer und 207 gültige Wahlscheine für Kandidaten des Bezirkstages verbrannt. Von den Personen wurde angegeben, dass sie diese Scheine verbrannt hätten, weil sie der Meinung gewesen seien, dass es sich um überzählige, ungebrauchte Wahlscheine gehandelt hätte.24

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 20.10.1954 brannten in Dannenwalde, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam, eine Scheune der Vdgb mit 400 dz ungedroschenem Sommergetreide, 15 Fuhren Heu und 30 Fuhren Stroh, von zehn Siedlern, vermutlich infolge Brandstiftung nieder. Schaden: ca. 25 000 DM.

Einschätzung der Situation

Die Stimmung zum Ergebnis der Volkskammerwahl ist überwiegend positiv. Im Vordergrund der Diskussionen steht aber immer noch der Wahlablauf. Dabei zeigt sich jetzt verschiedentlich ein Rückgang der Gespräche. Bemerkenswert ist die Zunahme der positiven gegenüber der teilweisen Abnahme der negativen Meinungen. Trotzdem hält aber die Hetze der Feinde, die diese Lage ausnutzen, unvermindert an.

Anlage vom 22. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2347

Auswertung der Westsendungen

Volkswahlen

Im Zusammenhang mit den an den Vortagen gestellten Forderungen des RIAS als »Schlussfolgerungen« aus dem Wahlergebnis, wie z. B. Abschaffung des SfS usw., beschäftigte sich der Hetzsender mit der Mitteilung des sowjetischen Botschafters über die Übergabe von Strafgefangenen an die Behörden der DDR.25 Er fordert, dass diese Personen durch die Regierung der DDR begnadigt werden sollten und es heißt: »Damit könnte die Regierung der DDR beweisen, dass sie wenigstens selbst an die Echtheit des Wahlergebnisses glaubt. Dann könnte der Vertrauensbeweis der Bevölkerung mit einer Vertrauenskundgebung der Regierung beantwortet werden.«

Gleichzeitig fordert der RIAS, »die Störsender abzubauen, da nach Meinung der SED sowieso kein Mensch dieselben mehr hört«.26

So wie vor der Wahl vor »unbedachten Handlungen« gewarnt wurde, um seine wahre Gesinnung nicht zu zeigen, warnt der RIAS auch weiterhin seine Agenten, dass sie sich nicht durch Äußerungen oder Ähnliches »gefährden« sollen.

Die Westzeitungen beginnen jetzt mit Meldungen über angebliche Verfolgung von Bürgern der DDR, weil sie sich nicht an der Wahl beteiligten, die Wahlkabinen benutzten oder durch Äußerungen ihren Unwillen über die Wahl zum Ausdruck brachten. Circa 300 Personen hätten sich bereits bei Westberliner Dienststellen gemeldet, da sie von der VP zu »Rücksprachen« bestellt worden seien.

In den Sendungen, die sich mit der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes für das III. Quartal 1954 beschäftigen, wird wiederholt, wie auch bei den früheren Berichten, gehetzt, dass die Berichte über den Volkswirtschaftsplan nicht der Wahrheit entsprächen.

Zu dem Bericht über das III. Quartal stellen die Sender »Freies Berlin« und der RIAS fest, dass »im Allgemeinen der gemeldete Zuwachs der Industrieproduktion immer geringer wird« und »dass im Allgemeinen eine bemerkenswerte Verlangsamung des Fortschrittstempos vor allem bei den Investitionen festzustellen ist«. Mit Zahlenbeispielen soll gleichzeitig bewiesen werden, dass die Entwicklung in der Bundesrepublik besser ist als in der DDR.

Der Sender »Freies Berlin« schlussfolgert aus der Feststellung, dass der Arbeitslohn mehr gestiegen ist als die Arbeitsproduktivität, dass »die Leiter der staatlichen Organe und der VEB alle Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten umfassender als bisher vorbereiten und in der Durchführung kontrollieren müssen. Wir haben also leider zu erwarten, dass demnächst wieder, da ja nun die Wahlen vorbei sind, der Druck verstärkt wird.«

In einer Sendung über den »Grenzbahnhof Frankfurt/Oder« gibt der RIAS angeblich genaue Zahlen über die den Bahnhof passierenden Züge. Die Zahlen betreffen Exportlieferungen für die SU und vor allem Züge mit Ausrüstungen für die Sowjetarmee.

Westberlin bzw. Westdeutschland

Auf Antrag der SPD hat der Bonner Bundestag beschlossen, dass ab 1.11.[1954] an Bürger der DDR bzw. des Demokratischen Sektors, welche in Westberlin bzw. Westdeutschland arbeiten, Arbeitslosenunterstützung gezahlt werden kann.27

Über die Zulassung der SED im Wahlkampf zum 5. Dezember [1954]28 sprach eine Vertreterin der SPD über den RIAS und legte folgende Punkte über die »Haltung der Berliner Sozialdemokraten gegenüber der SED« fest:

  • 1)

    Kein SED-Mitglied erhält auf SPD-Versammlungen das Wort. Wenn sie sich als Parteilose ausgeben und dann als SED-Mitglied erkannt werden, wird ihnen sofort das Wort entzogen.

  • 2)

    Kein Sozialdemokrat darf Veranstaltungen der SED besuchen.

  • 3)

    Den Flugblättern der SED ist keine Beachtung zu schenken.

  • 4)

    Der Vertrieb von Zeitungen der SED in Westberlin ist zu verbieten.

  • 5)

    Der RIAS und andere Sender dürfen SED-Mitglieder nicht sprechen lassen.

  • 6)

    Keine Erlaubnis für Kundgebungen unter freiem Himmel f[ür] d[ie] SED.

  • 7)

    Öffentliche Räume für SED-Versammlungen sind nur in sehr begrenztem Umfang »entsprechend der Bedeutungslosigkeit der Zahl ihrer Anhänger« zu bewilligen.

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