Zur Beurteilung der Situation in der DDR
26. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2350 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Bei den Diskussionen über politische Tagesfragen steht die Volkskammerwahl immer noch im Vordergrund,1 jedoch haben die Gespräche allgemein nachgelassen, sodass der Umfang gering geworden ist. Während zum Ergebnis fast nicht mehr gesprochen wird, befassen sich die meisten Stimmen mit der Wahlhandlung. Es sind meist Einzelmeinungen. Inhaltlich haben sich gegenüber den Vortagen keine Änderungen ergeben. So diskutieren z. B. alle Angestellten in der Produktionsleitung des VEB »7. Oktober«2 über den Ablauf der Wahl negativ. Ein Kollege erklärte: »Das war doch keine Wahl, sondern nur eine Zettelabgabe.« Eine Kollegin äußerte: »Als ich mit meinem Mann das Wahllokal verlassen hatte, haben wir beide laut gelacht und gesagt, dass wir erst gar nicht hätten hingehen brauchen.«
Von den Kollegen in der Bäckerei des VEB »Aktivist« Berlin wird allgemein die Ansicht vertreten, dass die Volkswahlen keine richtigen Wahlen waren, da auf den Stimmzetteln keine Kreise waren, in denen man sein »Ja« oder »Nein« hätte zum Ausdruck bringen können.
Ein Produktionsleiter aus dem Stahlwerk Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Die Partei hat bei der Wahl einen Fehler gemacht, indem die Wahlkabinen so ungünstig hingestellt wurden. Wenn jeder an der Wahlkabine vorbeigegangen wäre und sie trotzdem nicht benutzt hätte, könnten wir darauf stolz sein. Es hätte dann vielleicht einige Gegenstimmen mehr gegeben, aber die Wahl wäre in Ordnung gewesen.«
Im RAW Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wurden verschiedentlich negative Diskussionen geführt, dass die Wahl nicht demokratisch war. So äußerte ein Kollege vom Betrieb: »Wahlkabinen habe ich gar keine gesehen und außerdem konnte man nicht wählen, weil gar keine Bleistifte vorhanden waren.« Weiterhin äußerte er, wenn er die Kabine benutzt hätte, würde er vielleicht nicht mehr frei herumlaufen. Ähnliche Ansichten haben mehrere Kollegen.
Offen feindliche Äußerungen werden nur noch selten gemacht. So sagte z. B. ein Kollege aus der Halle 46 im Karl-Marx-Werk Babelsberg, [Stadt] Potsdam: »Die Volkswahl war genauso ein Betrug wie die Volksbefragung.3 Damals hat man anstatt Rot-, Blau- oder Kopierstifte nur Bleistifte ausgelegt, damit man nachher Radierungen vornehmen konnte.« Ähnlich äußerte sich ein Kranführer aus der gleichen Halle.
Zur Note der Sowjetregierung an die Westmächte vom 23. Oktober 1954 wird bisher nur ganz vereinzelt gesprochen.4 Meist ist der Inhalt der Note unter den Werktätigen noch nicht bekannt. Überwiegend stammen die geringen Äußerungen von Arbeitern und sind positiv. Man begrüßt allgemein die ständigen Bemühungen der SU um die Erhaltung des Friedens und die Wiedervereinigung Deutschlands und stellt dem die aggressive Politik der USA gegenüber. Einige hoffen auf einen Erfolg der Bemühungen der Sowjetunion. So sagte z. B. ein Wismut-Kumpel5 aus Gera: »Während die USA-Imperialisten alles versuchen, einen neuen Krieg zu entfesseln, setzt sich die SU immer wieder für die Erhaltung des Friedens ein und setzt ihre Politik der Verständigung unbeirrbar fort.«6
Ein parteiloser Arbeiter aus Döbeln, [Bezirk] Leipzig: »Die Russen treiben jetzt die Amerikaner in die Enge. Diese werden bald nicht mehr ausweichen können und müssen verhandeln, oder sie müssen eines Tages aus dem Westen abziehen.«
Eine parteilose Arbeiterin aus dem VEB Dampfhammerwerk Großenhain, [Bezirk] Dresden: »Ich bin verwundert darüber, was für eine ungeheure Geduld die Sowjetregierung besitzt. Das wird genauso wie mit der Genfer Konferenz.7 Die Westmächte sind praktisch gezwungen, eine solche Konferenz mitzumachen. Wenn ich Molotow8 wäre, würde ich den Knüppel nehmen und den Brüdern zwischen die Hörner klopfen.«
Eine skeptische Einstellung zum Erfolg des Notenwechsels kommt in folgenden Beispielen zum Ausdruck. Einige Wismut-Arbeiter in Zeulenroda sagten: »In den Konferenzen kommt ja doch nichts zustande. Wenn man schon in einigen Punkten Klarheit erzielt, dauert es wieder Monate und Jahre bis wieder ein anderes Problem behandelt wird. Die Sache der Einheit müssen die Deutschen selbst in die Hand nehmen.«
Ein Kollege aus dem VEB Stoßdämpferwerk Hartha, [Bezirk] Leipzig: »Wir werden in nächster Zeit wieder tüchtig mit dem Kopf schütteln, denn die neue Konferenz im November wird ebenfalls nichts Konkretes erreichen, genauso wie die vorangegangenen Konferenzen.«
Im VEB Feinjute in Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, sind die Kollegen darüber unzufrieden, dass eine 6. Nachtschicht eingeführt werden soll, um den Planrückstand aufzuholen. Dieser ist infolge starker Fluktuation von erfahrenen Arbeitern entstanden, denen die Schichtarbeit nicht gefällt.
In der Zuckerfabrik Nauen sind die Arbeiter über ihren Lohn unzufrieden. Von einigen Kollegen wurde errechnet, dass der monatliche Durchschnittsverdienst vor zwei Jahren 300 DM betrug, während es jetzt nur 260 DM seien. Ähnlich ist es in der Zuckerfabrik Ketzin, Kreis Nauen. Hier äußerten mehrere Arbeiter, dass sie in den Streik treten wollen, wenn die Löhne nicht erhöht werden. Infolge der Entlohnung besteht eine Fluktuation unter den Arbeitskräften, wodurch in der Zuckerfabrik Nauen zzt. etwa 80 Arbeiter fehlen.
Im volkseigenen Konstruktions- und Entwicklungsbüro Roßlau, [Bezirk] Halle, besteht unter den Intelligenzlern eine Beunruhigung, da der Betrieb angeblich nach Ludwigsfelde verlegt werden soll. Verschiedene Intelligenzler wollen deswegen kündigen.
Unter den Kollegen der Reichsbahn im Bezirk Gera wird weiterhin negativ über die Entlohnung diskutiert. Dazu wird wiederum vom Bahnhof Saalfeld berichtet, dass dort eine starke Fluktuation besteht.
Wie schon mehrmals berichtet, herrscht unter der Bevölkerung von Gräfenthal, [Kreis] Neuhaus, [Bezirk] Suhl, Unstimmigkeit über die Sperrzonenzulage.9 Aus diesem Grunde wollen sich die Kollegen der Porzellanfabrik »Schneiders Erben« in Gräfenthal nicht eher an der gesellschaftlichen Arbeit beteiligen bis sie die 15-prozentige Sperrzonenzulage erhalten.
Am 23.10.1954 erkrankten im VEB Galvanotechnik Leipzig 50 Personen an Durchfall. Die Ursache konnte bisher nicht festgestellt werden. Untersuchungen werden noch geführt.
Vom Dieselmotorenwerk Rostock wird über die schlechte Qualität der Zylinderblöcke aus dem VEB Guss Torgelow10 geklagt. Von 25 Blöcken waren bisher elf Ausschussstücke.
Wegen mangelhafter Belieferung mit Rohkohle aus dem Tagebau der Braunkohlenwerke »Franz Mehring« und »Freundschaft« ist die Versorgung der Brikettfabriken des BKW Schipkau, Kreis Senftenberg, des Öfteren gestört. Aus dem gleichen Grunde entstehen auch im BKW Großräschen laufend Betriebsstillstände.
Materialmangel
Im Berufsverkehr des Walzwerkes Hettstedt bestehen Schwierigkeiten, weil die Autobusse der Marke »IKARUS« infolge Materialmangel noch immer nicht repariert werden konnten.
Im VEB Leichtmaschinenfabrik Auerbach11 bestehen größere Materialschwierigkeiten, wodurch der Plan nicht erfüllt werden kann. Der Betrieb hat Exportaufträge für China, Ungarn und Albanien. Zurzeit fehlen 9 t Stahl für Exportaufträge.12
Im VEB Schuhfabrik Löbau, [Bezirk] Dresden, mangelt es an Oberleder, wodurch ein Teil der Beschäftigten für Nebenarbeiten eingesetzt werden muss.
In den VEB Kieswerken Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, ruht seit über 14 Tagen die Produktion von Zementsteinen wegen Mangel an Zement.13
Im EOW Dingelstädt,14 [Kreis] Worbis, [Bezirk] Erfurt, fehlen noch immer teilbare Reißverschlüsse. Außerdem können die Flachstrickmaschinen nicht eingesetzt werden, weil es an Nadeln mangelt.
Produktionsstörungen
Am 23.10.1954 stießen auf der Strecke Braunkohlenwerk Deuben – Grube »Einheit« zwei vollbeladene Kohlenzüge zusammen. Als Schuldiger wurde der Stellwerker ermittelt.
Am 23.10.1954 stießen in der Grube Thurow, [Bezirk] Dresden,15 zwei Kohlenzüge zusammen, wodurch die Gleisanlage blockiert wurde. Dadurch entstand im Großkraftwerk Hirschfelde ein Kohlenmangel, sodass die Stromproduktion eingeschränkt werden musste.
Handel und Versorgung
Die teilweise unzureichende Warenbereitstellung hält weiterhin an und macht sich wie folgt bemerkbar.16
In Rostock fehlen Eier und HO-Butter. In mehreren Kreisen des Bezirkes Potsdam, z. B. Königs Wusterhausen, fehlt es an HO-Eiern und Frischfisch. In mehreren Kreisen des Bezirkes Halle fehlen Speck, Eier, Hülsenfrüchte, Käse und Räucherfisch. Billige Zigaretten fehlen in Quedlinburg und anderen Kreisen des Bezirkes Halle. Bettwäsche, Möbelstoff, Ersatzteile für Fahr- und Motorräder fehlen in den Kreisen Zeitz und Gräfenhainichen. Ähnliche Beispiele gibt es in einer ganzen Reihe anderer Kreise und Bezirke.
Im Kreis Rudolstadt, [Bezirk] Gera, sind die Einkellerungskartoffeln teilweise bis zu 100 Prozent als Speisekartoffeln untauglich.
Am 10.10.1954 wurde in Lärz bei Neustrelitz ein Schiff mit Speisekartoffeln für Berlin verladen. Bei Ankunft des Schiffes in Berlin-Osthafen am 12.10.1954 wurde das Schiff mit Kartoffeln von Vertretern der Kartoffelversorgung für Berlin zur Stärkefabrik Zehdenick, Kreis Gransee, beordert, mit der Begründung, dass die Kartoffeln nur noch als Industriekartoffeln zu verwenden seien. Als das Schiff am 19.10.1954 in Zehdenick eintraf, erklärte dort eine Kommission der VEAB, dass dies keine Industrie-, sondern Speisekartoffeln seien. Daraufhin wurde das Schiff wiederum mit neuen Frachtpapieren versehen und verließ am 21.10.[1954] Zehdenick mit dem Bestimmungsort Neustrelitz, wo diese Kartoffeln als Speisekartoffeln für die Bevölkerung ausgegeben werden sollen.
Für die importierten Pampelmusen ist im Bezirk Rostock kein Absatz vorhanden, da der Preis mit 4,40 DM pro kg sehr hoch liegt. Circa 20 Prozent der lagernden Pampelmusen sind schon verdorben.
Landwirtschaft
Die Diskussionen zum Ergebnis der Volkswahl haben nur noch einen geringen Umfang, sind aber meist positiv. In den positiven Meinungen kommt zum Ausdruck, dass man mit dem Wahlergebnis zufrieden ist. Sie beinhalten die Überzeugung, dass unsere Regierung den guten Willen zeigt, dem Volk zu helfen, was an ihren Maßnahmen und der Steigerung des Lebensstandards ersichtlich ist. Die feindlichen Stellungnahmen treten nur vereinzelt in Erscheinung und tragen den Charakter der bereits bekannten Feindpropaganda aus dem Westen.
Über die neue Sowjetnote wird nur wenig diskutiert. Diese Gespräche haben teils die Friedensliebe der SU zum Inhalt, die nichts unversucht lässt, um den Frieden in der Welt zu erhalten und die Deutschlandfrage auf friedlichem Wege zu klären. Teils wird aber daran gezweifelt, ob diese Bemühungen einen Zweck haben und die Befürchtung ausgesprochen, dass die Westmächte nicht mitmachen und die Oberhand behalten werden. So erklärte z. B. ein Genossenschaftsbauer aus Neu Kaliß, [Kreis] Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin: »Durch diese neue Sowjetnote sehe ich wieder, dass die Friedensliebe des Sowjetvolkes nichts unversucht lässt, um den Frieden in der Welt zu erhalten.«
Ein Buchhalter einer LPG im Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, Mitglied der NDPD: »Es wäre gut, wenn die Konferenz zustande käme und Erfolg hätte. Man sieht es aber am französischen Ministerpräsidenten, wie der sich geändert hat. Erst hat er fortschrittlich angefangen und in London fiel er wieder in das Fahrwasser der Kapitalisten zurück.17 Aber eines ist schon zu spüren, die Regierungen können nicht mehr so, wie sie wollen, weil das Volk auch ein Wort mitspricht.«
Ein werktätiger Bauer aus Uichteritz, [Kreis] Weißenfels, [Bezirk] Halle: »Was wird uns denn die neue Note der SU bringen? Die Westmächte machen doch, was sie wollen und wenn sie zur Konferenz zusammenkommen, behalten die westlichen Kapitalisten doch wieder die Übermacht in den Händen.«
In der MTS Straach, [Kreis] Wittenberg, [Bezirk] Halle, hat nach Bekanntwerden der Sowjetnote die Politabteilung Agitationsgruppen zu den Traktoristen gesandt, die dann positiv über die Note diskutierten. Ein Kollege aus der Werkstatt sagte: »Es ist immer die SU, die den Westmächten Vorschläge zur friedlichen Lösung der deutschen Frage bringt. Wir haben aber bisher noch niemals gehört, dass Westdeutschland zur Wiedervereinigung Deutschlands beigetragen hat.«
Im Vordergrund der Diskussionen auf dem Lande stehen die Hackfruchternte und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten. So fehlt es z. B. zur schnellen und verlustlosen Einbringung verschiedentlich an Arbeitskräften, Maschinen oder Transportraum. Im Bezirk Halle macht sich der Arbeitskräftemangel besonders bemerkbar, der z. T. durch Ernteeinsätze aus den Betrieben ausgeglichen wird.
Schwierigkeiten mit Ersatzteilen haben fast alle MT-Stationen des Bezirkes Neubrandenburg. In der MTS Falkenwalde, [Bezirk] Neubrandenburg, z. B. fehlt es an Reifen für Traktoren, Kugellager für verschiedene landwirtschaftliche Maschinen und Geräte sowie Körben für Rübenroder. Ähnlich ist es in den MTS des Bezirkes Rostock.18
In der MTS Rhinow, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, fehlt Kraftstoff für Traktoren.
Übrige Bevölkerung
Unter der übrigen Bevölkerung wird in geringem Maße zur neuen Note der Sowjetunion Stellung genommen, jedoch ausschließlich positiv. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass es immer wieder die SU ist, die die Initiative ergreift und Schritte zur Herstellung der Einheit Deutschlands unternimmt. Die in der Note enthaltenen Vorschläge entsprechen ganz den Interessen des deutschen Volkes und können deshalb nur unterstützt werden. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau aus Lübz, [Bezirk] Schwerin: »Ich begrüße die Sowjet-Note mit dem Vorschlag, dass im November eine erneute Viermächtekonferenz durchgeführt werden soll, auf der die Herstellung der Einheit Deutschlands behandelt werden soll. Ich hoffe und wünsche, dass auf dieser Konferenz die Deutschlandfrage zur Zufriedenheit geregelt wird.«
Ein Jugendlicher (FDJ) ebenfalls aus Lübz: »Die Sowjetregierung zeigt wieder, dass sie an der Wiedervereinigung Deutschlands interessiert ist. Das beweisen die drei Hauptpunkte, die in der Note enthalten sind.«
In Ilmenau, [Bezirk] Suhl, unterhielten sich mehrere Personen und brachten dabei zum Ausdruck: »Man muss doch staunen, dass es immer wieder die Sowjetunion ist, die eine Vierer-Konferenz vorschlägt. Wollen wir hoffen und wünschen, dass sie sich doch noch einigen und Deutschland wieder eins wird, denn so kann es ja nicht weitergehen.«
Ein Rentner aus Hohenmölsen, [Bezirk] Halle: »Der neue Vorschlag der SU ist ein gewaltiger Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands. Diese Vorschläge müssen von uns allen unterstützt werden, denn sie zeigen den einzigen richtigen Weg zur Wiedervereinigung auf friedliche Weise auf. Hier kommt die Friedenspolitik der SU wieder zum Ausdruck.«
In bürgerlichen Kreisen in Quedlinburg, [Bezirk] Halle, wurde ebenfalls über die neue Note der SU gesprochen. Dabei kam es zu Äußerungen wie: »In der neuen Note sieht man wieder einmal, wie die UdSSR bemüht ist, die Spannungen in Europa und in der Welt zu beseitigen. Es wäre wünschenswert, dass die Westmächte in einer Vierer-Konferenz im November auf die Vorschläge eingingen.«
Die Diskussionen über die Volkswahlen nehmen weiterhin ab. Verschiedentlich wird zum Wahlergebnis Stellung genommen und zum Ausdruck gebracht, dass es nicht die wahre Meinung der Bevölkerung widerspiegelt. Zum Beispiel sagte ein Oberassistent (SED) von der Technischen Hochschule Dresden: »Der Wahlsieg von 99,46 Prozent kann meiner Ansicht nach nicht die wahre Meinung der Bevölkerung sein, sondern durch den Wahlvorgang wurde das Ergebnis stark frisiert.«
Ein Genosse aus Reichstädt, [Kreis] Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Wir haben es nicht nötig, wie Adolf unbedingt 99 Prozent Ja-Stimmen zu erhalten. Es stehen genug Personen hinter unserer Regierung.«
Von einigen Einwohnern aus Zeitz wurde wie folgt diskutiert: »Was helfen uns die 99 Prozent, wenn sie nicht frei gewählt werden konnten. Es wäre besser gewesen, wenn wir uns geheim entscheiden können und die Regierung wüsste, dass 90 Prozent hinter ihr stehen. So stimmten alle dafür und wo man hinkommt, wird geschimpft.«
Ein Einwohner aus Struth-Helmersdorf, [Bezirk] Suhl: »Das war keine Wahl. So etwas haben wir nicht nötig, wenn wir auch 20 bis 30 Prozent Gegenstimmen gehabt hätten, wir hätten aber wenigstens unsere Kräfte genau abwiegen können.«
In abfälliger Form sprechen sich meist nur noch feindliche Elemente über die Wahlhandlung aus, die in Verbindung damit gegen unsere Partei und Regierung hetzen. In einer Unterhaltung sprachen fünf Kollegen des »Theaters der Freundschaft« Berlin negativ über die Durchführung der Wahlen. Eine parteilose Kollegin behauptete, dass die Wahlen bei Hitler besser gewesen seien, da man wenigstens die Kabine betreten konnte und einen richtigen Wahlzettel hatte. Sie habe im Wahllokal für Reisende im Ostbahnhof gewählt und sei hier von den Wahlhelfern am Betreten der Kabine gehindert worden. Bei ihrem Aufenthalt am 17.10.1954 in Halle habe sie die Feststellung machen können, dass die Bevölkerung überhaupt nicht mit dieser Wahl einverstanden gewesen ist und dass geäußert wurde, dass es keine freien, demokratischen Wahlen sind. Weiter sagte sie, dass es in Halle »kocht« und der 17. Juni dort nicht mehr fern sei.
Eine Lehrerin (CDU) aus Angermünde, [Bezirk] Frankfurt: »Bei diesen Wahlen kann man es Adenauer19 nicht verdenken, dass er es ablehnt, mit den Kommunisten zu verhandeln oder sich sogar mit ihnen zu verbünden.«
Einen größeren Rahmen nehmen unter der übrigen Bevölkerung die Diskussionen über wirtschaftliche Probleme ein. Unter anderem kommt es in den Kreisen des Einzelhandels immer wieder zu Klagen über eine ungenügende Warenbelieferung. Zum Beispiel wurde in Arnstadt auf einer Handelstagung für den privaten Einzelhandel und Großhandel der Industrie- und Handelskammer Folgendes zum Ausdruck gebracht: »Der Einzelhandel bekomme nur die Ware, die der Staatliche und Genossenschaftliche Handel nicht mehr aufnehmen könne oder an die DHZ zurückgeben.« Weiter erklärte ein Lebensmittelhändler aus Arnstadt, dass die Begünstigung des Handwerkes als eine Umerziehung vom Kapitalisten zum Geldsackpatrioten wäre. Des Weiteren verherrlichte er das Ratensystem in Westdeutschland und fand großen Beifall bei den Anwesenden.20
Im Kreis Wittstock, [Bezirk] Potsdam, beschweren sich die Handwerker, die Kraftfahrzeuge besitzen, darüber, dass die Benzinzuteilung zu niedrig sei. Zum Beispiel erklärte der Inhaber einer Kraftfahrzeugreparatur- und Vertragswerkstatt für IFA, dass er wegen der schlechten Benzinversorgung die Ersatzteile von der DHZ nicht heranschaffen kann. Er erklärte, dass er vor dem neuen Kurs besser mit Benzin beliefert wurde, als es jetzt der Fall sei.21
Gegenstand der Diskussion, besonders unter den Hausfrauen, ist verschiedentlich die Kartoffelversorgung. Zum Beispiel wurde in Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, bei der Anmeldung der Kartoffelscheine den Bestellern eine Freibelieferung ins Haus zugesichert und jetzt müssen sich die Hausfrauen stundenlang nach ihren Kartoffeln anstellen, um sie selbst nach Hause zu transportieren.
In der Gemeinde Schkopau, [Kreis] Merseburg, [Bezirk] Halle, wo ein großer Teil der Werktätigen des Chemie-Werkes Buna wohnt, ist die Bevölkerung über die Warenbereitstellung des Konsums unzufrieden. Sie warten bereits mehrere Wochen auf die Belieferung mit Kartoffeln und Kohlen. Der größte Teil der Bevölkerung äußerte, dass sie im nächsten Jahr die Bestellung beim Privathändler abgeben werden.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:22 Schwerin: Köselow, [Kreis] Parchim,23 3 500, Dresden 102, Potsdam 70.
KgU:24 Karl-Marx-Stadt 45 000, Dresden 84.
Bei den Hetzschriften des SPD-Ostbüros und der KgU handelt es sich um solche, älterer Herkunft mit Hetze gegen die Volkswahlen.
NTS:25 Magdeburg: Zerbst, Wanzleben, Wolmirstedt, Magdeburg insg[esamt] 15 220, Karl-Marx-Stadt 32, Dresden 71, Erfurt: Arnstadt 2 000, Gotha 4 000, Halle: Saalkreis 3 000, Nebra 300, Weißenfels und Merseburg 100, Gera 100, Potsdam 6 000.
Diese Hetzschriften sind in deutscher und russischer Sprache und nehmen Bezug auf die Desertion26 sowjetischer Soldaten.
In tschechischer Sprache: Karl-Marx-Stadt 1 211, Dresden 970.
»Der Tag«:27 Frankfurt 1 000.
FDP-Ostbüro: Halle: Aschersleben 600.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen mittels Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Antidemokratische Tätigkeit: An der LPG-Hochschule Meißen, [Bezirk] Dresden, wurde die Hetzlosung »SED-Arbeiterverräter« angeschmiert.
In der Gemeinde Niemerlang, [Kreis] Wittstock, [Bezirk] Potsdam, wurde eine Hetzlosung angeschmiert. In der »Märkischen Volksstimme«28 und bei einer Genossin in Potsdam-Babelsberg wurden je ein Hakenkreuz angeschmiert.
Am 21.10.1954 entfernten ein Maschinenschlosser und ein Brigadier in Ludwigsfelde ein Bild unseres Präsidenten und zwei Transparente unter Hetzreden von der Wand.
Diversion: Am 23.10.1954 wurden von einem Traktor der MTS Nedlitz, [Bezirk] Potsdam, ein Ölstutzen, ein Kühlerverschluss und ein Filter vom Vergaser entwendet und in die Ölwanne Sand geworfen (Meldung noch nicht überprüft).
In der Gemeinde Preschen, [Kreis] Forst, [Bezirk] Cottbus, wird das Gerücht verbreitet, dass die Gemeinde geräumt werden müsste. Landmesser hätten das Land bereits vermessen und die KVP würde in der Nähe des Dorfes Stellungen nach kriegsmäßiger Art ausheben.29
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 21.10.1954 brach in einer Scheune in Pampow, [Kreis] Hagenow,30 [Bezirk] Schwerin, ein Brand aus. Schaden noch nicht bekannt. Es besteht Verdacht der Brandstiftung.
Einschätzung der Situation
Die Diskussionen über den Wahlablauf nehmen weiter ab und haben nur noch einen verhältnismäßig geringen Umfang. Dabei wurden vorwiegend die Stimmzettel und der Wahlablauf kritisiert.
Die feindliche Hetze gegen die Volkskammerwahl, die Regierung und Partei tritt nicht mehr so stark in Erscheinung wie vorige Woche.
Über die Note der Sowjetunion vom 23.10.1954 wird erst vereinzelt, aber fast nur positiv gesprochen.