Zur Beurteilung der Situation in der DDR
7. November 1954
Informationsdienst Nr. 2360 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Zum 37. Jahrstag der großen sozialistischen Oktoberrevolution
Anlässlich des 37. Jahrestages der großen sozialistischen Oktoberrevolution fanden bereits am Vorabend Feierstunden statt.1 Diese Feierstunden waren gut besucht, da sie meist kulturell umrahmt wurden. Teilweise wurden von den Werktätigen in den volkseigenen Betrieben Produktionsverpflichtungen übernommen. Im VEB Kalikombinat »Ernst Thälmann« in Merkers, [Bezirk] Suhl, verpflichtete sich eine Brigade, eine Stoßschicht zu Ehren der großen sozialistischen Oktoberrevolution zu fahren. Diese Sonderschicht wurde in der Nacht vom 4. zum 5.11.[1954] geleistet und dabei eine Erfüllung von 190 Prozent erreicht.
Vereinzelt wird unter der Bevölkerung über den 37. Jahrestag der großen sozialistischen Oktoberrevolution diskutiert. Diese Diskussionen sind meist positiv. Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Röhrenwerk Neuhaus, [Bezirk] Suhl: »Der Tag des Sieges des Sowjetvolkes jährt sich zum 37. Mal. Stalin und Lenin führten ihr Volk zum Sieg. Wir können auf die Freundschaft mit der Sowjetunion stolz sein.«
Ganz vereinzelt wurden negative Erscheinungen bekannt. So äußerte z. B. ein Meister aus dem VEB Gaselan [Fürstenwalde], [Bezirk] Frankfurt: »Ich trete nicht in die DSF ein, denn ich bin mit den Russen und den Kommunisten nicht einverstanden. Freund des anderen Volkes kann man auch ohne Organisation sein.«
Ein Reichsbahnarbeiter aus Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt: »Erst vergewaltigen sie unsere Frauen und jetzt machen sie noch einen Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft,2 wofür man noch Geld bezahlen soll. Aber ohne mich.«
Im VEB Pumpfabrik Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, wurden Plaketten für den Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft verkauft. Ein Arbeiter äußerte sich, nachdem er eine Plakette gekauft hatte, wie folgt: »Die sollen uns erst einmal unsere Heimat wiedergeben.« (Der oben genannte Arbeiter ist ehemaliger Umsiedler.)
In einer Agitatorenbesprechung im ELMO-Werk Magdeburg3 erklärten einige Agitatoren, dass die Kollegen für politische Diskussionen nicht zugänglich sind, da sie durch den Materialmangel missgestimmt sind.
In der Mathias-Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock, wurden durch die Leitung der GST alle Kleinkaliber-Gewehre eingezogen. Die Arbeiter erklärten dieses für falsch, dass man gerade jetzt während des Einsatzes zum Tage der Oktoberrevolution die Gewehre angeblich überholen will.
Im Allgemeinen wird über politische Tagesfragen weiterhin nur gering diskutiert. Bei diesen wenigen Diskussionen stehen die Gespräche über die sieben Agenten der Gehlen-Organisation4 im Mittelpunkt. Die Diskussionen sind fast ausschließlich positiv. Darin bringt man zum Ausdruck, dass solche Menschen, die sich für die schmutzigen Geschäfte hergeben und zur Vorbereitung eines neuen Krieges beitragen, die höchste Strafe – Todesstrafe – erhalten müssen.
Missstimmung herrscht in einigen Betrieben.
Im VEB Rheinmetall Sömmerda, [Bezirk] Erfurt, sind Diskussionen im Umlauf, dass jeder Republikflüchtige, welcher wieder in die DDR zurückkehrt, sofort ein Überbrückungsgeld bekommt und auch gleich eine Wohnung erhält.5 Diese Diskussionen haben unter den Arbeitern eine Missstimmung ausgelöst, da einige Arbeiter bereits seit Jahren versuchen, eine bessere Wohnung zu bekommen.
Im VEB »Heinrich Rau« Wildau,6 [Bezirk] Potsdam, bestehen Schwierigkeiten in der Lohnabrechnung, die zu Missstimmungen unter den Kollegen führen. Zurückzuführen sind diese Schwierigkeiten darauf, dass die Lohnabrechnungsscheine von den Meistern und Kontrolleuren zu spät in das Lohnbüro zur Berechnung gegeben werden. Dadurch erfolgen die Lohnauszahlungen an die Arbeiter unpünktlich. Trotzdem auf diesen Missstand schon öfters hingewiesen wurde, hat sich bis jetzt noch nichts geändert.
Kohlenmangel
Im VEB Federnwerk Zittau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ist aufgrund von Kohlenmangel die weitere Produktion infrage gestellt. Der Betrieb ist ein wichtiger Zubringerbetrieb für die Lokomotiven- und Waggonbaubetriebe.
Im VEB Wärmegerätewerk Dresden werden monatlich 120 Tonnen Briketts benötigt. Von der Hauptverwaltung Halle wurden 60 Prozent gestrichen. Dadurch musste in einem Brennofen die Produktion eingestellt werden. Das Werk ist dadurch nicht in der Lage, seinen Exportverpflichtungen nachzukommen. Im Hauptwerk Dresden herrschen die gleichen Zustände.
Im VEB Faserplattenwerk Schönheida, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ist ebenfalls ein Engpass an Briketts zu verzeichnen.
Der VEB Ziegelei Gülitz, [Bezirk] Schwerin, ist gezwungen, wegen Kohlenmangel (Ofenkohle) die Produktion einzustellen.
Materialschwierigkeiten
Im VEB Stahlwerk Silbitz, [Bezirk] Gera, ist ein Engpass an Formsand eingetreten, die Reserven sind bereits aufgebraucht. Ursache für den Mangel an Formsand ist die nicht termingemäße Bereitstellung von Waggons seitens der Reichsbahn. Die Kollegen sind darüber verärgert, weil sie dadurch weniger Geld verdienen.
In der GUZ Torgelow7 fehlt es an Tiefziehblechen und Feinblechen. Dadurch sind Störungen im Produktionsablauf eingetreten. Durch das fehlende Material können 150 Maschinen nicht fertiggestellt werden. Ein Teil der Maschinen sind Exportaufträge.
Im VEB Schmierfett Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, fehlt es an 80 t Öl, diese sollten bereits am 4.11.[1954] aus Lützkendorf geliefert werden.8 Da das Öl nicht eingetroffen ist, kann der Betrieb am Montag, den 8.11.[1954] seine Arbeit nicht aufnehmen.
Produktionsstörungen
Am 5.11.[1954] entstand in der Generatorenanlage des Stahlwerkes Riesa, [Bezirk] Dresden, eine Explosion. Es wurden drei Arbeiter schwer und fünf Arbeiter leicht verletzt. Ursache noch nicht festgestellt.
Im VEB Edelstahlwerk Döhlen,9 [Bezirk] Dresden, entstand durch erhöhten Gasdruck eine Schadenstelle an der Gasleitung. Drei Feuerwehrleute und ein Elektriker erlitten Gasvergiftungen. Produktionsausfall sowie Sachschaden entstanden nicht.
In dem VEB Maxhütte Unterwellenborn ist die Triostraße durch den Druck einer Wippe zum Stillstand gekommen. Ursache noch nicht bekannt.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
NTS:10 Erfurt 2 000, Potsdam 50, Karl-Marx-Stadt 40, Magdeburg 80, Dresden einige, Berlin größere Anzahl.
»Der Tag«:11 Frankfurt 2 000, Dresden einige.
SPD-Ostbüro:12 Leipzig 50 000, Potsdam 1 000, Dresden 60.
Verschiedener Herkunft: Potsdam 7 000.
»Tarantel«:13 Potsdam 500.
KgU:14 Dresden einige.
In tschechischer Sprache: Dresden einige.
Die Hetzschriften wurden größtenteils durch Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Ein Maschinenschlosser von der MTS Krümmel, [Bezirk] Neubrandenburg, erhielt einen Brief aus Westdeutschland, mit folgendem Inhalt: Eine Zeitungsannonce »Qualifizierte Werkzeugmacher für Spritz- und Pressformenbau gesucht«.
Am 4.11.[1954] erhielt ein Genosse von Bismark, [Kreis] Kalbe, [Bezirk] Magdeburg, einen Brief aus Westdeutschland ohne Absender. In diesem Brief war ein Galgen aufgezeichnet. Darunter stand: »Du SED-Lump, bald ist die Zeit gekommen, da hängst Du genauso wie auf diesem Bilde.«
Antidemokratische Tätigkeit
In der Elbewerft Boizenburg, [Bezirk] Schwerin, wurde in einem Schaukasten eine Sammlung sowjetischer Briefmarken gezeigt. Dieser Kasten wurde von unbekannten Personen entfernt und in ein Rasenbeet geworfen. Briefmarken wurden nicht entwendet.
Gerüchte
Seit einigen Tagen wird im Kreis Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, das Gerücht verbreitet, dass für Angehörige der Roten Armee große Wohnungsbauten vorbereitet werden. Die Überprüfungen ergaben, dass einige bauliche Veränderungen innerhalb des Objektes vorgenommen werden und die dort beschäftigten Bauarbeiter diese baulichen Veränderungen in verstellter Form unter die Bevölkerung brachten.
Im VEB Waggonbau Niesky kursiert das Gerücht, dass in der Nähe von Prag (ČSR)15 Versuche mit Bakterien und Atombomben durchgeführt werden. Zu diesen Versuchen werden deutsche Kriegsgefangene herangezogen, die dabei zugrunde gehen. In Sibirien besteht hohe Radioaktivität, sodass unter der Bevölkerung Massenerkrankungen aufgetreten sind.
Brandstiftung
Am 5.11.1954 brannte in Ütz, [Kreis] Tangermünde,16 [Bezirk] Magdeburg, ein Strohdiemen der LPG ab. Es handelt sich um ca. 400 dztr. Die Untersuchungen der Abteilung K17 ergaben, dass es sich um offene Brandstiftung handelt.