Zur Beurteilung der Situation in der DDR
12. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2337 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Vordergrund der Diskussionen über politische Tagesfragen steht die Volkswahl.1 Gegenüber dem Vortag ist umfangsmäßig eine geringe Zunahme zu verzeichnen, während sich im Inhalt keine Änderungen ergeben haben. Negative Diskussionen traten nur vereinzelt auf.
Wie der Bezirk Gera berichtet, besteht bei vielen Eisenbahnern des BW Gera nicht die Möglichkeit, am 17.[10.1954] wählen zu gehen, da sie am Sonnabend ihren Dienst antreten und Sonntagnacht erst beenden. Selbst wenn sie Stimmzettel hätten, könnten sie wegen des kurzen Aufenthaltes auf den einzelnen Stationen ihrer Wahlpflicht nicht nachkommen.2
Vorwiegend wird über verschiedene betriebliche Fragen diskutiert, worüber teilweise Unzufriedenheit besteht. Die Kollegen des VEB OGEMA in Grüneberg,3 [Bezirk] Potsdam, sind mit der Ortsklasseneinstufung unzufrieden.4 Deshalb wollen viele Facharbeiter in Berlin oder Oranienburg Arbeit aufnehmen. Außerdem beklagen sich die Kollegen des Betriebes über Ersatzteilschwierigkeiten, besonders bei Fahrzeugen.
Im BW Seddin besteht unter den Kohlenladern Unzufriedenheit über die Arbeitsnormerhöhung. Während sie früher die Norm bis zu 180 Prozent erfüllten, können sie heute mit denselben Kräften und Leistungen nur noch 100 bis 130 Prozent erreichen. Die als Kranführer eingesetzten Kollegen sind über ihre Bezahlung unzufrieden.5
Im Zementwerk Nietleben, [Bezirk] Halle, sind die Kollegen über die Bezahlung nach dem Stein- und Erdentarif unzufrieden, weshalb eine Fluktuation in die Hallischen Metallurgischen Betriebe erfolgt.
Im VEB Elektroversorgung Ost in Großröhrsdorf, Kreis Bischofswerda, [Bezirk] Dresden, besteht eine Fluktuation unter den Kohlenarbeitern in die Bau-Union, da dort die Verdienstmöglichkeiten besser sind. Dadurch ist die Stromversorgung gefährdet.
Unter den Kollegen der Förderbrücke des VEB Kombinat Espenhain, [Bezirk] Leipzig, wird vorwiegend über Lohnfragen diskutiert. Die Arbeiter klagen über ihren Verdienst und äußern, dass sie noch nie so wenig verdient hätten wie jetzt. Sieben Arbeiter haben bereits die Arbeitsstelle verlassen.
Unter den Kollegen des Bahnhofs Gröditz, [Bezirk] Riesa, werden wieder Diskussionen gegen die Ortsklasseneinstufung bei der Reichsbahn (Ortsklasse »O«) geführt.6
In der Grube Finkenheerd, [Bezirk] Frankfurt/Oder, besteht eine starke Missstimmung über die ausgezahlten Quartalsprämien an das ingenieurtechnische Personal und die kaufmännischen Angestellten. Dies führt auch zu verschiedenen Diskussionen gegen die Volkswahl. So äußerte z. B. ein Arbeiter: »Wir sollen unser Soll erfüllen, um den Herren die Prämie zu sichern. Unsere Kumpels haben schon recht, wenn sie kein Interesse daran zeigen. Wir verdienen viel zu wenig dabei. Die Quittung wird denen oben am 17.[10.1954] schon gegeben werden.« Diese Missstimmung besteht auch unter den Angestellten, da diesmal die Prämien für sie nach Leistungen gezahlt wurden. Bei der letzten Zahlung hatte man 1 Prozent des Monatsgehaltes gegeben.
In einer Gewerkschaftsversammlung im VEB Hochbau Berlin waren die Kollegen unter anderem mit den Vorschlägen zur Auszeichnung am 13. Oktober [1954] nicht einverstanden, da fast die gesamte Betriebsleitung aufgestellt wurde. Die Kollegen waren darüber verärgert.
In der IKA-Batteriefabrik Worbis, [Bezirk] Erfurt, besteht unter Kollegen eine schlechte Stimmung, da wegen Fehlen von Messingband 0,3 mm ein Teil der dort beschäftigten Frauen auf Wartestunden bezahlt wird. Im VEB Schott,7 [Bezirk] Gera, besteht unter einem Teil der Arbeiter eine Verärgerung, da die Kohlenlieferungen für den Betrieb sowie für die Hausbrandversorgung mangelhaft ist. Ein parteiloser Angestellter äußerte dazu: »Es ist schlecht, dass dieser Zustand ausgerechnet vor den Wahlen eintritt, man sagt, es soll immer besser werden, aber hier sieht man wieder, dass es nicht der Fall ist.«
Bei einer Aussprache mit der Intelligenz im VEB Guss Torgelow,8 [Bezirk] Neubrandenburg, beklagen sich die Intelligenzler unter anderem über den Wohnraummangel. Ein anderer Ingenieur war vor seiner Tätigkeit im Betrieb selbstständig. Bei seiner Einstellung wurde ihm ein Einzelvertrag in Aussicht gestellt, jedoch bis heute nicht gewährt. Er trägt sich mit den Gedanken, sich wieder selbstständig zu machen.
Durch Verzögerungen des deutschen Amtes für Material- und Warenprüfungen bei der Erteilung des Gütezeichens II für den »Waschbären«9 ist das EAW »J. W. Stalin«10 mit der Auslieferung von Massenbedarfsgütern stark in Verzug gekommen. Erst nach drei Monaten wurde das Gütezeichen gewährt. Dabei wurde von dem Amt unter anderem zum Ausdruck gebracht, dass die positiven Ansichten der Verbraucher kein Maßstab für ihre Beurteilungen seien. Man hätte nämlich festgestellt, dass der Waschbär keine Zeitersparnis bringe, praktisch wirkungslos sei und das Gewebe zerstöre. Die Erteilung eines Gütezeichens für den Staubsauger »Steppke« wurde abgelehnt mit ähnlichen Begründungen. Aus diesem Grunde musste die weitere Montage der Staubsauer eingestellt werden, nachdem ca. 3 000 Stück fertig sind.
Materialschwierigkeiten
Beim Wagenmeister in Jüterbog, [Bezirk] Potsdam, fehlen Heizschläuche, wodurch Personenzüge von Seddin nach Jüterbog und von dort nach Wildpark nicht beheizt sind.
Im VEB Kalikombinat Merkers, [Bezirk] Suhl, bestehen Materialschwierigkeiten. So kann Hettstedt 25 Tonnen Bleche nicht liefern. Die DHZ Metallurgie Hennigsdorf hat ein Kontingent von 23 t Grobstahl bis auf 2 t Flachstahl gesenkt.
Arbeitskräftemangel besteht im BKW Hirschfelde, Abteilung Kesselhaus, da der Lohn für Hilfsheizer und Heizer bei der Einstellung nur DM 1,20 pro Stunde beträgt.
Produktionsstörung. Am 9.10.[1954] brach auf der Schiffsbau- und Reparaturwerft Stralsund von einer Schwimmramme der ca. 20 m lange Schwenkarm ab. Die Anlage wurde vom VEB Kranbau Eberswalde gebaut. Ursache wird noch ermittelt. Schaden beträchtlich, aber noch nicht übersehbar.
Benzinmangel besteht im Braunkohlenwerk Zeitz (Oktoberkontingent von 2 200 Liter auf 780 Liter gekürzt) und im Hydrierwerk Roßleben, [Bezirk] Halle (Oktoberkontingent von 3 000 auf 1 017 Liter gekürzt), wodurch Produktionsschwierigkeiten entstehen.
Handel und Versorgung
Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohlen bestehen in einigen Orten des Bezirkes Rostock, mit Einkellerungskartoffeln im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, und mit Fleisch teilweise in den Bezirken Potsdam, Dresden, Halle und Gera. Im Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, z. B. mangelt es an Schweinefleisch. Die Belieferung mit Hammelfleisch dagegen ist dort so hoch, dass es teilweise im Verhältnis 1: 2 abgegeben wird, um es vor dem Verderb zu schützen. In Buschow, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, wird in der Konsumfleischerei Rind- und Schweinefleisch nur bei Abnahme von Hammelfleisch verkauft. Der VEB Schlachthof Görlitz, [Bezirk] Dresden, erhielt am 10.10.1954 7 t Hammelfleisch, Güteklasse »C«, das so schlecht ist, dass sich die Fleischer weigern, dieses Fleisch abzunehmen. Mängel in der Belieferung mit Speck sind im Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, und Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, zu verzeichnen. Im Konsum Ducherow, [Kreis] Anklam, z. B. hat es weder vor noch nach der Preissenkung11 Speck gegeben. Da es dort auch an Margarine, Weizenmehl und Kindernährmitteln fehlt, sagen die Hausfrauen zum Verkaufsstellenleiter: »Macht euern Laden zu und geht in Urlaub, bei euch gibt es ja doch nichts.«
Nährmittel und billige Zigaretten fehlen im Kreis Roßlau, [Bezirk] Halle. Die größeren Betriebe in Wittstock, [Bezirk] Potsdam, klagen über den Mangel an Glühbirnen von 100 bis 200 Watt, die für ihre Arbeit dringend benötigt werden.
Landwirtschaft
Im Umfang und Inhalt der politischen Diskussionen gibt es keine wesentlichen Veränderungen. Vorherrschend ist der positive Charakter zur Volkskammerwahl, der durch zahlreiche weitere Selbstverpflichtung seinen Ausdruck findet. Die negativen Meinungen treten weiterhin im geringen Umfang in Erscheinung und werden nach wie vor von Groß- und Mittelbauern (hauptsächlich) in den Forderungen nach Listenwahlen, Sollstreichung und »freier Wirtschaft« vertreten. Einige Großbauern aus Spielberg, [Kreis] Naumburg, [Bezirk] Halle, äußerten sich gegenüber den Aufklärern: »Eure Erklärung ist nutzlos, denn der Kommunismus zwingt uns, unser Besitztum aufzugeben. Die Anforderungen sind so hoch, dass wir kaputtgehen müssen. Der Westen stellt eine Armee gegen den Kommunismus auf. Dort leben die Menschen weitaus freier. Die durch die Remilitarisierung vertriebenen Bauern im Westen haben so viel Geld bekommen, dass sie anständig leben können.«
Ein Großbauer aus Göhlsdorf, [Bezirk] Potsdam: »Nach der Volkswahl werden wieder Brotkarten eingeführt. Die Funktionäre der SED wollen die Großbauern kaputtmachen.« Dieser Großbauer gab offen zu, dass er bei der Volksbefragung für die EVG12 gestimmt hat.13
Ein Großbauer aus Belsdorf, [Bezirk] Haldenshausen, [Bezirk] Magdeburg: »Was nützt uns schon die Wahl, wenn wir nicht wissen, wen wir wählen? Das Endergebnis ist ja immer dasselbe. Sie wollen ja nur, dass alles LPG wird und wir dürfen nichts mehr besitzen. Dann haben sie uns an der Kandare und wer nicht zur Arbeit kommt, bekommt nichts zu essen.«
Ein Mitglied der DBD aus dem Kreis Schleiz, [Bezirk] Gera: »Viele Leute sagen, wenn sie nur wüssten, wie man den Stimmzettel ungültig macht. Hingehen zur Wahl muss man ja schon, damit man nicht auffällt.«
Vereinzelt wird die Beteiligung an der Wahl von wirtschaftlichen Forderungen abhängig gemacht. Eine Bäuerin aus Oschatz, [Bezirk] Leipzig: »Wenn ich keine Schlachtgenehmigung bekomme, gehe ich nicht zur Wahl. Die LPG-Mitglieder sind sowieso alle faule Schweine und große Tagediebe.«
Stellenweise ist die negative Einstellung auf Verärgerung zurückzuführen. Ein Landarbeiter aus Grammenthin, [Kreis] Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich gehe mit meiner Familie nicht zur Volkswahl. Ich habe im Jahre 1951 eine Siedlung abgegeben und das Vieh ist mir zwangsweise abgenommen worden. Bis zum heutigen Tage bin ich noch nicht im Besitz des Entschädigungsgeldes.«
Im Vordergrund des Interesses steht die Bergung der Hackfruchternte, da die Befürchtung vorherrscht, dass die Hackfrüchte in dem durchnässten Boden oder durch einsetzende Fröste, bei einer Verzögerung, dem Verderb ausgesetzt werden. Hinzu kommen die Arbeiten mit der Winterfurche. Wegen dieser Inanspruchnahme werden sowohl die politischen Diskussionen als auch die restliche Getreideablieferung zum größten Teil in den Hintergrund gerückt. Im Zusammenhang damit erklärte ein Teil Bauern aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, dass für sie die wichtigste Aufgabe die Einbringung der Hackfrüchte ist. Für die Ablieferung des Getreides wäre danach noch Zeit.
Schwierigkeiten in der Termineinhaltung bei der Hackfruchternte ergeben sich wegen Arbeitskräftemangel und Fehlleitung derselben. In der ÖLB Dabergotz, [Kreis] Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, z. B. sind noch 90 Prozent Kartoffeln zu roden. Dafür wurden Erntehelfer beim Kreiskomitee angefordert und auch versprochen. Diese sind aber nicht gekommen. Zu gleicher Zeit aber schickte man Erntehelfer nach Linow, [Kreis] Neuruppin, die bei Einzelbauern Kartoffeln hinter der Egge auflasen. Das Gleiche erfolgte auch auf der LPG Menz, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam [in anderer Weise].14
In Erwartung der Erntehelfer haben die Genossenschaftsbauern dort 10 Morgen Kartoffeln mit der Maschine ausgerodet. Durch das Nichterscheinen der Arbeitskräfte sind sämtliche Kartoffeln liegengeblieben und angefroren. Der zuständige Kreisrat sagte hierzu: »Solche Pannen können eintreten. Man soll die Kartoffeln dann eben für das Vieh verfüttern.«
Unter den Einzelbauern der Gemeinde Neulöwenberg, [Kreis] Gransee, herrscht Missstimmung, weil am Sonntag 25 KVP-Angehörige bei Großbauern zum Kartoffelroden eingesetzt wurden. Darauf wurden die KVP-Angehörigen zurückgezogen und der LPG im gleichen Ort zugeteilt, wo sie Kartoffeln klappern sollten.15 Die LPG war aber darauf nicht vorbereitet und die Genossen standen zum größten Teil herum. Eine Großbäuerin sagte hierzu: »Auch die Kartoffeln der Großbauern müssen geborgen werden, denn sie dienen ebenfalls für die Ernährung unserer Bevölkerung.«
In einigen Gemeinden des Bezirks Potsdam bestehen Schwierigkeiten bei der Kartoffelrodung wegen Maschinen- und Gerätemangel. Vor allem beklagen sich die MTS immer wieder über den Kartoffelroder »Schatzgräber« von der Fa. VEB Bodenbearbeitungsgeräte-Werke Leipzig, der den Anforderungen nicht entspricht, weil er zu wenig gehärtet ist.16
Übrige Bevölkerung
Nach wie vor ist zu verzeichnen, dass die Stimmung zur bevorstehenden Volkskammerwahl überwiegend positiv ist. Das zeigt sich in vielen Stellungnahmen, in denen zum Ausdruck gebracht wird, dass sie mit der Aufstellung der Kandidatenliste einverstanden sind, da es bei der Lösung der Deutschlandfrage sowie im Kampf um den Frieden keine Zersplitterung der Kräfte geben darf. Zum anderen kommt es auch in den zahlreichen Verpflichtungen in den Hausversammlungen zum Ausdruck, die beinhalten, dass die Bewohner geschlossen zur Wahl gehen und ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front geben wollen.
Weiterhin sind es vorwiegend bürgerliche Kreise sowie Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien, die die Aufstellung der gemeinsamen Kandidatenliste ablehnen und sich in abfälliger Weise über die Wahl aussprechen. Als Hauptargument tritt immer wieder in Erscheinung, dass die Wahl aufgrund der gemeinsamen Liste nicht demokratisch sei. Zum Beispiel sagte ein Oberbuchhalter aus Zittau: »Die Wahl ist alles Schwindel. Sie ist nur dafür da, um die Volksmassen zu verdummen. Ich weiß genau, dass bei der Volksbefragung ungültige Stimmen als Ja-Stimmen gezählt wurden.«
In Kamenz verteilten Junge Pioniere selbstangefertigte Losungen. Diese wurden von einem Geschäftsmann mit folgender Äußerung vom Ladentisch geworfen: »Ich brauche das Dreckzeug nicht.« Außerdem trat er mit den Füßen auf diese Losungen.
Bei einer Unterhaltung erklärte der 1. Vorsitzende der LDP-Ortsgruppe Altruppin, [Bezirk] Potsdam, dass er nicht glaubt, dass die Verhältnisse in Westdeutschland zu einem neuen Krieg führen. Er meinte weiter, dass die LDP nur ein Anhängsel der SED sei. Diese Meinung besteht bei mehreren LDP-Mitgliedern. Ein LDP-Mitglied aus Rheinsberg, [Bezirk] Potsdam: »Die SED steht im Vordergrund. Die anderen Parteien werden unterdrückt.«
Es gibt auch Erscheinungen, dass Personen aufgrund persönlicher Verärgerung über bestehende Mängel, z. B. bei den Handwerkern ist es die schlechte Materialbelieferung, bei anderen Personen sind es Wohnungsfragen oder Mängel in der Warenbereitstellung, negativ zur Wahl Stellung nehmen oder ablehnen, zur Wahl zu gehen. Zum Beispiel sagte ein Polstermeister aus Holzthaleben, [Bezirk] Erfurt: »Man sieht eben, dass uns Handwerker die Regierung zum Bankrott treiben will. Man gibt uns bewusst kein Material. Was nützen alle Versicherungen des neuen Kurses,17 wenn es schon seit Jahren keine Polsterstoffe gibt und wir nicht arbeiten können. Als Dank dafür sollen wir am 17.10.[1954] diese Regierung wieder wählen.«
Aufgrund verschiedener Mängel in der Versorgungslage im Bezirk Magdeburg ist die Stimmung vor allem unter den Hausfrauen nicht besonders gut. Seit Wochen fehlen fast in allen Kreisen des Bezirkes Maizena,18 Haferflocken und andere Kindernährmittel. Ein weiterer Engpass ist die Versorgung mit Eiern, Hülsenfrüchten und HO-Fleisch. Diese Schwierigkeiten führten dazu, dass unter der Bevölkerung keine besondere Teilnahme an politischen Veranstaltungen gezeigt wird.
In letzter Zeit zeigt sich immer deutlicher, dass viele Pfarrer gegen die Wahl sind. Zum Teil sprechen sie das offen aus oder bringen es in versteckter Form in ihren Predigten zum Ausdruck. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass viele Geistliche von ihrer übergeordneten Kirchenbehörde in ihrer Handlungsweise beeinflusst werden. Zum Beispiel sagte ein Pfarrer aus Schönerlinde, [Bezirk] Frankfurt, zu einigen Agitatoren: »Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, dass die Volkswahl einer freien Wahl entspricht. Alle Parteien zusammen können ein großes Ziel haben und sich trotzdem getrennt aufstellen lassen. Die Regierung will auch gar keine freien Wahlen und denkt sich auch die Einheit anders als sie kommen wird.«
In der Gemeinde Schönwerder, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde von einem Pfarrer aus Klinke ein Spruch im Aushängekasten der Kirche mit dem Text »Glaube nicht jedem Geist, sondern prüfe, ob die Geister von Gott sind« angebracht. Des Weiteren wird in der Gemeinde am 17.10.1954 geplant, mit den Konfirmanden eine Fahrt nach Bernau zu unternehmen, um dort die Grabstätte eines Pfarrers zu besuchen.
Ein Pfarrer aus Mattstedt, [Kreis] Apolda, [Bezirk] Erfurt, sprach in einer Einwohnerversammlung zur Diskussion und stellte sich mit der Bemerkung neben das Rednerpult, das mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne geschmückt war, dass er sich wegen der Fahne nicht dahinterstelle. Weiter erklärte er: »Die Volkswahlen sind keine demokratischen Wahlen. Ich gehe nicht zur Wahl und viele meiner Mitgesinnten ebenfalls nicht. In der DDR kann es keine demokratischen Wahlen geben, denn es ist ja eine kommunistische Diktatur.«
Von einigen Pfarrern wird zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht gegen die Wahl sind, sich aber scheuen, das offen zum Ausdruck zu bringen. Nur wenige geben offen eine positive Stellungnahme ab. Zum Beispiel brachten verschiedene Pfarrer des Kreises Herzberg, [Bezirk] Cottbus, zum Ausdruck, dass sie im Prinzip mit der Politik unserer Regierung einverstanden sind, jedoch nicht wagen, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, da der Superintendent von Herzberg dies nicht wünscht.
In dem Interzonensonderwahllokal auf dem Bahnhof Erfurt können durchschnittlich täglich 30 bis 40 Reisende nicht abstimmen, da sie keine Wahlscheine besitzen. Sie bringen in fast allen Fällen zum Ausdruck, dass sie vergessen hätten, sich einen zu besorgen. (Ähnliche Erscheinungen sind auch im Sonderwahllokal S-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße zu verzeichnen.)
In der Stadt Eisfeld, [Kreis] Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, wurden von der SED und Nationalen Front anlässlich des 7. Oktober19 keine Feierstunden sowie Demonstrationen durchgeführt. Dies erweckt bei der Bevölkerung den Eindruck, dass hier etwas nicht in Ordnung sei.
Am 9. und 10.10.1954 fanden überall in den Bezirken Veranstaltungen und Demonstrationen anlässlich des 50. Jahrestages der Deutschen Arbeiterjugendbewegung statt.20 Diese nahmen im Allgemeinen einen guten Verlauf und auch die Beteiligung war zufriedenstellend. Zum Beispiel sprach in der Veranstaltung in Suhl ein westdeutscher SPD-Genosse, seine Worte fanden stürmischen Beifall. In Potsdam war allerdings zu verzeichnen, dass die Großkundgebung schlecht organisiert war. Es waren lediglich 210 FDJler anwesend.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD-Ostbüro:21 Schwerin 52 500, davon in Techentin, [Kreis] Ludwigslust, 50 000, Berlin 40 000, Potsdam 15 000, Suhl große Mengen, Magdeburg, Kreis Tangerhütte, 2 000, Kreis Genthin einige, Frankfurt/Oder 8 000, Karl-Marx-Stadt 3 000, Leipzig 153, Halle, Kreis Zeitz und Hohenmölsen 500, Neubrandenburg 19, Dresden 11, Gera-Stadt 31, in Saalfeld mehrere (durch Personen ausgelegt), Cottbus, an der Bahnstrecke Senftenberg – Kamenz 270, vermutlich aus einem Zug geworfen.
NTS:22 Potsdam 10 000, Kreis Herzberg, [Bezirk] Cottbus ca. 1 000, Karl-Marx-Stadt 593, Kreis Genthin, [Bezirk] Magdeburg, 100, Leipzig 132, Dresden 78, Hettstedt, [Bezirk] Halle, 40.
KgU:23 Dresden 10 343, Potsdam 10 000, Gera-Stadt 30 von Personen ausgelegt.
Unbek[annter] Herkunft: Cottbus 41 371, davon Kreis Calau 20 000, Cottbus 10 000, Hoyerswerda 3 000, Halle, Kreis Wittenberg, 20 000, Gräfenhainichen 28 000, Bitterfeld 11 000. In Raßnitz, Kreis Merseburg, [Bezirk] Halle, 16 000 in zwei Kartons ausgelegt.
»Der Tag«:24 Halle-Stadt 1 000, Gröbers, [Bezirk] Saalkreis, 410, Kreis Merseburg 80, Gräfenhainichen 100, Roschbach,25 Kreis Naumburg, 300.
»Wochenpost«:26 Potsdam 350 mit S-Bahn eingeschleust.
Die Mehrzahl der Flugblätter wurde mit Ballons eingeschleust und sichergestellt. Der Inhalt richtet sich überwiegend gegen die Volkswahl mit den bekannten Argumenten.
Abreißen oder Beschädigen von Wahlplakaten, Losungen oder Fahnen
Magdeburg: Am 9.10.[1954] in Oschersleben mehrere Plakate. In Rossau, Kreis Osterburg, drei Plakate, in Burg ein Fahnenmast herausgerissen, Kreis Stendal eine Fahne, in Badingen vier Plakate. In Westeregel, Kreis Staßfurt, 90 Prozent der Plakate und Transparente zum Tag der Republik abgerissen.
Dresden: Am 8.10.[1954] in Leutersdorf, Kreis Zittau, ein Transparent. In Oberlichtenau, Kreis Kamenz, ein Plakat. In Görlitz27 am 11.10.[1954] eine Sichterwerbung abgebrannt, am 8.10.[1954] in Großenhain eine Fahne.
Leipzig: In Polenz am 9.10.[1954] zwei Plakate. In Hainichen, [Kreis] Eilenburg, am 10.10.[1954] ein Plakat, in Glaucha am 11.10.[1954] acht Plakate.
Rostock: In Triebsees, Kreis Stralsund, ein Plakat.
Potsdam: In Bergsdorf, [Kreis] Gransee, eine Losung. In Sieversdorf, Kreis Kyritz, ein Transparent, in Nackel28 ein Transparent. In Kyritz zwei Plakate. In Dabendorf, Kreis Zossen, zwei Plakate. In Strubbensee,29 Kreis Neuruppin, zwei Fahnen. In Wünsdorf, Kreis Zossen, zwei Plakate, in Potsdam eine Wandzeitung beschmiert.
Berlin: Am 7.10.[1954] in Treptow mehrere Plakate.
Neubrandenburg: In Torgelow 40 Prozent aller Plakate.
Cottbus: Am 10.10.[1954] in Rade, Kreis Jessen, ein Transparent, am 9.10.[1954] [im] Kreis Cottbus mehrere Plakate. Eins davon angebrannt.
Suhl: In Herpf und Stepfershausen am 11.10.[1954] einige Plakate.
Anschmieren von Hetzlosungen: In Großenhain an die Tür eines Zimmers einer Lehrerin eine Hetzlosung. In Meißen: »Stimmt Nein« (mit schwarzer Farbe angeschmiert).
Terror: Am 11.10.[1954] wurde ein FDJler aus dem Lehrlingswohnheim »Max Reimann« Saalfeld, [Bezirk] Gera, auf dem Nachhausweg gefragt, ob er für die Wahl eingesetzt war. Nach Bejahung der Frage wurde er verprügelt.
Diversion: An einer Straßenbahnhaltestelle in Meißen, [Bezirk] Dresden, wurden in das Gleis Steine gelegt, sodass ein Wagen entgleiste.
Im Kraftwerk Lauta,30 [Bezirk] Cottbus, entgleiste ein Zug, da die Weichen mit Steinen und Schotter ausgefüllt waren.
Gerüchte: Im Gummiwerk Riesa wird das Gerücht verbreitet, dass nach dem 17.10.[1954] die Wehrpflicht eingeführt wird und am 18.10.[1954] neues Geld in Umlauf kommt. In einzelnen Stadtteilen von Leipzig wird das gleiche Gerücht von einer Währungsreform wie in Riesa verbreitet.
Gefälschter Anruf: Im Kreis Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden, versucht man seit einigen Tagen durch gefälschte Telefonanrufe Störungen in Versammlungen und Veranstaltungen hervorzurufen.
Drohbrief: Ein Mitglied der LPG Petzschwitz, [Bezirk] Dresden, erhielt einen handgeschriebenen Drohbrief aufgrund eines von ihm verfassten Zeitungsartikels.
In Schönfeld, Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, wurde in dem neu errichteten Speiseraum der Schule (ehemaliges Schloss) eine Fensterscheibe eingeworfen.
Brände: Am 11.10.1954 brannte in Barchfeld, Kreis Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, die Scheune eines Rentners. Am 11.10.[1954] brach in der DHZ in Bad Salzungen ein Brand im Arbeitsraum des Leergutlagers aus. In beiden Fällen sind die Ursachen noch nicht bekannt.
Einschätzung der Situation
Der Einfluss reaktionärer Kirchenbehörden verstärkt sich. Es werden immer mehr Fälle bekannt, bei denen ein Teil der Geistlichen gegen die Volkswahlen auftritt und fortschrittliche Pfarrer zur Zurückhaltung gezwungen werden. Sonst hat sich die Lage gegenüber den Vortagen nicht wesentlich verändert.
Anlage 1 vom 12. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2337
Stimmung zum Besuch des sowjetischen Außenministers Genossen Molotow31
In zahlreichen Diskussionen, die in den verschiedensten Schichten geführt werden, wird überwiegend zum Ausdruck gebracht, dass sie über den Besuch des sowjetischen Außenministers erfreut sind und dass seine Ausführungen über die Deutschlandfrage ihre vollste Zustimmung finden.32 Zum Beispiel sagte ein Arbeiter (parteilos) aus dem VEB Baumwollspinnerei Tannenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Der Empfang Molotows durch die Bevölkerung in Berlin war wirklich einzigartig. Ich glaube kaum, dass Dulles33 in Westdeutschland so empfangen wurde.«
Eine Angestellte (parteilos) aus dem gleichen Betrieb: »Der 7. Oktober [1954] war wirklich ein Freudentag und die Freundschaftsbande wurden weiter gefestigt. Bezeichnend ist der Ausspruch Molotows, uns in jeder in- und außenpolitischen Angelegenheit zu helfen.34 Es braucht daher uns Deutschen vor der Zukunft nicht bange sein.«
Ein Sachbearbeiter aus dem chemischen Werk Leuna »Walter Ulbricht« sagte: »Es ist erfreulich, dass man es für so wichtig erachtet und den Außenminister der UdSSR zum 5. Jahrestag der DDR nach Berlin schickte. Seine Ausführungen werden den Kampf um den Frieden und die Einheit Deutschlands sehr stark unterstützen und den Bundestagsabgeordneten in Bonn zu denken geben.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Waggonbau Görlitz: »In London berieten die Teilnehmer der neun Staaten über die Aufrüstung Westdeutschlands,35 während die Sowjetunion immer wieder Angebote zur friedlichen Lösung der Deutschlandfrage macht. Es müsste jedem Menschen klargeworden sein, auf welcher Seite die Freunde des Friedens sind.«
Eine parteilose Angestellte vom Rat des Kreises Bergen, [Bezirk] Rostock: »Die Rede Molotows zeigt uns wiederum, dass uns die SU die vollste Unterstützung in unserem Kampf um die Einheit Deutschlands und den Abzug der Besatzungstruppen gewährt.«
Ein Ingenieur (parteilos) vom Deutschen Schifffahrt- und Umschlagbetrieb Berlin: »Hoffentlich ist es bald soweit. Denn beim einheitlichen Deutschland braucht man sich nicht mehr so viel Sorgen um die Arbeit machen. Man muss jetzt wirklich glauben, dass es die SU ernst meint mit ihrer Friedenspolitik. Ist es nicht komisch, wo wir doch gegen die SU gekämpft haben, dass uns Molotow, welcher schon mit allen hohen Politikern gesprochen hat, Freundschaft zuruft.«
Der Betriebsleiter (parteilos) des Entwurfsbüros des Staatssekretariats für Schifffahrt Berlin: »Es ist interessant, dass Molotow wieder vom Abzug der Besatzungstruppen spricht, um endlich die Einheit Deutschlands zu verwirklichen. Wenn man dagegen die Meinung der Westmächte hört, so gehen die Ansichten weit auseinander. Das gibt besonders zu denken, da in Westdeutschland ein 500 000-Mann-Heer errichtet werden soll.«36
Ein Neubauer (parteilos) aus Altefähr, [Bezirk] Rostock: »Am 17.10.1954 werden wir Adenauer37 zeigen, wer stärker ist als er. Wir haben die UdSSR hinter uns und Molotow hat es ja bei seiner Ansprache wieder gesagt, dass sie uns stets helfen werden.«
Negative Äußerungen sind Einzelerscheinungen. So sagte ein Transportarbeiter aus Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Solche Vorschläge des Russen sind zwar richtig, aber er hätte sie schon früher stellen sollen. Jetzt ist es für Vieles schon zu spät. Der Ami und der Russe streben die Weltherrschaft an. Der Russe hat viele Fehler gemacht, nun sieht er endgültig, wo es sonst hingeht.«
Ein Rentner (ehemaliges Mitglied der SPD) aus Langensalza, [Bezirk] Erfurt: »Den Worten Molotows glaubt ja doch keiner. Dies kann man nur kleinen Kindern erzählen.«
Anlage 2 vom 12. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2337
Auswertung der Westsendungen
Volkswahl
Der Sender »Freies Berlin« verbreitet zur Verleumdung unseres Staates die Meldung, dass Angehörige der KVP, »soweit sie nicht in ihrem Heimatort stationiert sind«, einen zweiten Stimmzettel erhalten »als Voraussetzung für eine doppelte Stimmenabgabe«.
Der Londoner Rundfunk38 weist die Hörer auf eine Sendung am Sonnabend, den 16.10.1954 hin, in der der Kommentator Lindlay Fraser39 zur Wahl in der DDR sprechen wird. Alle Hörer werden aufgefordert, die Sendung zu empfangen.
Industrie
In einer Sendung über die Verwendung der Warenzeichen von Zeiss Jena40 fordert der RIAS die Arbeiter der Zeiss-Werke Jena auf, die »Freilassung der zu Unrecht Verurteilten« (gemeint sind ehemalige jetzt verurteilte Funktionäre des Werkes)41 auf der nächsten Betriebsversammlung zu verlangen. Auch der Ministerrat solle sich damit beschäftigen.
Über die Reichsbahn hetzt der RIAS, dass der Zugverkehr infolge Kohlenmangels gefährdet ist. Die Hetze richtet sich insbesondere gegen die Feuerung von Braunkohle. Die Heizer werden aufgefordert, »infolge der größeren physischen Anstrengung« einen zweiten Heizer zu verlangen.42
Landwirtschaft
Um dem Verhältnis zwischen den werktätigen Einzelbauern und der Regierung der DDR zu schaden, hetzt der RIAS, dass bei der Einbringung der Hackfruchternte nur die VEG, LPG und ÖLB unterstützt werden und die werktätigen Einzelbauern nicht.