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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

11. November 1954
Informationsdienst Nr. 2364 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über politische Tagesfragen wird wenig diskutiert. In den Diskussionen über den Prozess gegen die sieben Agenten der Gehlen-Organisation nimmt man neben anderen Gesprächen zum Urteil selbst Stellung.1 Verschiedentlich wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass man alle Agenten hätte zum Tode verurteilen sollen. Ein Teil der Werktätigen erklärt sich mit dem Urteil einverstanden. Es tritt auch die Meinung auf, dass [die] Todesstrafe viel zu wenig sei. Man müsse sie lebenslänglich einsperren, damit sie arbeiten lernen. Im VEB Patent Lineol in Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, erklärte sich das Leitungskollektiv mit dem Urteil nicht einverstanden und sandte an das Oberste Gericht ein Telegramm mit folgendem Inhalt: »Es wird für alle Agenten die Todesstrafe gefordert.«

Ein Arbeiter aus einem volkseigenen Betrieb des Kreises Bernau: »Diesen Banditen müsste man die Köpfe abhacken. Alle verdienen das, denn hier ist nur die härteste Strafe gerecht. Während wir hier für unsere Planerfüllung arbeiten, bereiten die einen neuen Krieg vor, das darf man nicht zulassen.«

Ein parteiloser Arbeiter vom VEB Gummiwerk Pausa, [Kreis] Zeulenroda, [Bezirk] Gera: »Wenn ich Richter gewesen wäre, dann hätte ich das Urteil ausgesprochen, dass man diese Verbrecher und Verräter des deutschen Volkes alle geköpft hätte. Unsere Gerichte sind in dieser Hinsicht noch viel zu human.«

Eine Kollegin vom Postamt in Schleiz: »Es ist unfassbar, dass sich Menschen zu solchen Dingen hergeben. Das ausgesprochene Urteil entspricht vollkommen der verräterischen Handlungsweise der Verurteilten und ist nicht zu hart.«

Ein Arbeiter vom VEB Ziegelwerk Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt: »Der Tod ist für diese Menschen viel zu wenig. Diese Bande hat ja den Tod erwartet. Man hätte sie alle zur lebenslänglichen Arbeitsstrafe verurteilen sollen, damit sie arbeiten lernen.«

Zwei Arbeiterinnen vom VEB Feinstrumpfwerk Lichtenstein, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Man sollte an und für sich die Todesstrafe nicht anwenden, denn wir betrachten diese Strafe als zu mild. Unserer Meinung nach müssten diese Verbrecher die Strafe im Zuchthaus verbüßen, damit sie ihr schändliches Handwerk laufend fühlen.«

Ganz vereinzelt wurden negative Diskussionen bekannt. Ein Fernschreiber von der Redaktion »Thüringer Neuste Nachrichten Erfurt«:2 »Ich kann nicht verstehen, was die Amerikaner und die Gehlen-Organisation mit dem Spionagematerial anfangen sollen und dass dieses Material der direkten Kriegsvorbereitung dienen soll, wie die Angeklagten selbst aussagen. Das glaube ich nicht.« Die Sekretärin aus dem gleichen Betrieb vertrat die Meinung, dass dieser Prozess nur Theater sei.

Im Bezirk Halle wurden in vielen größeren Städten Demonstrationen und Kundgebungen durchgeführt, gegen die Kriegsverträge von London und Paris – für einen Friedensvertrag.3 Die Beteiligung war allgemein gut.

Verschiedene Arbeiter aus der Galvanischen Abteilung des VEB Fichtel & Sachs in Reichenbach,4 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, stellten Lohnforderungen an den Werkleiter. Entwickelt hat sich diese Diskussion dadurch, dass die Arbeiter die Lebensmittelkarte B fordern, mit der Begründung, dass in anderen Kreisen für die gleiche Arbeit die Lebensmittelkarte »B« ausgegeben wird und sie nur die »C«-Karte erhalten.5 Aus diesen Diskussionen ergab sich dann die Lohnforderung. Verschiedene Arbeiter brachten dabei zum Ausdruck, dass sie für das wenige Geld diese Arbeiten nicht mehr verrichten. Ein Arbeiter rief bei der Diskussion mit dem 2. Sekretär der BPO dazwischen: »Wenn ihr das mit dem Geld nicht klären könnt, dann haben wir noch andere Mittel, euch dazu zu zwingen.«

Im VEB Rheinmetall Sömmerda6 werden über die Stromabschaltungen negative Diskussionen geführt, da durch diese Abschaltungen Wartestunden entstehen und die Arbeiter Lohnausfall haben. Ein Arbeiter äußerte sich dazu: »Die sollen doch keinen Strom an Polen und die ČSR liefern, dann hätten wir auch genug für uns.«

Durch den Fall Fridolin weigern sich im Betrieb Varia Mügeln,7 [Kreis] Oschatz, [Bezirk] Leipzig, die dort beschäftigten Frauen, in Zukunft zur Nachtschicht zu gehen (80 Prozent der Belegschaft).8 Es ist ein Gespräch im Umlauf, dass sich in Leipzig eine Bande herumtreibt, welche die Frauen nackt auszieht und gewalttätig wird.9

Kohlenmangel

Im VEB Möbelstoffwerk Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ist die Brennstoffversorgung ernsthaft gefährdet. Wenn in kürzester Zeit keine Änderung eintritt, muss der Betrieb stillgelegt werden.

Arbeitskräftemangel

In dem VEB Baumwollspinnerei und Weberei Adorf, [Kreis] Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht ein großer Mangel an Arbeitskräften, der sich auf die Planerfüllung auswirkt.

Materialschwierigkeiten bestehen in einigen Betrieben.

Im VEB Lederwerk Guben, [Bezirk] Cottbus, fehlen 7 000 Ziegenfelle, welche für die Herstellung von Handschuhleder benötigt werden. Aufgrund dieser Materialschwierigkeiten war der Betrieb gezwungen, sieben Arbeiterinnen zu entlassen und demnächst weitere Entlassungen vorzunehmen.10

Im VEB Gummiwerk Weißenfels, [Bezirk] Halle, fehlt 1 Tonne Blei und 0,3 Tonnen Antimon.

Nach wie vor bestehen in den Werften Rostocks Materialschwierigkeiten.

Im VEB Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden, wird die Produktion in ein bis zwei Tagen zum Stillstand kommen. Der Grund hierfür ist, dass Wasserkästen, welche für den Einbau in die Wagen bestimmt sind, nach Artern in die Kyffhäuserhütte zum Verzinken gegeben wurden. Auf Anweisung des Ministeriums für Maschinenbau dürfen aufgrund eines wichtigeren Auftrags für Dessau die Wasserkästen für den Waggonbau nicht verzinkt werden.11

Produktionsstörung

Im Braunkohlenwerk Mücheln, [Bezirk] Halle, war im Pressenhaus ein Brandherd in der gesamten Trockenanlage zu verzeichnen. Aufgrund dessen musste der Betrieb stillgelegt werden.

Handel und Versorgung

Die teilweise bestehenden Mängel in der Versorgung verursachen immer wieder Unzufriedenheit und machen sich wie folgt bemerkbar.

  • Im Kreis Pasewalk, [Bezirk] Neubrandenburg, fehlt es an Tee, Haferflocken, Mehl, Zuckerwaren und Waschmittel.

Ähnliche Mängel sind teilweise auch in anderen Bezirken.

  • Im Kreis Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus (Frischfisch, Hülsenfrüchte, Schokoladenwaren).

  • In den Kreisen Köthen, Gräfenhainichen, Zeitz und Eisleben, [Bezirk] Halle (Fischkonserven, Eier, Käse).

  • In Neuruppin, [Bezirk] Potsdam (Kindernährmittel).

  • In den Kreisen Torgau, Delitzsch und Stadt Borna, [Bezirk] Leipzig (HO-Fleisch).

  • Im Bezirk Rostock (Winterbekleidung).

  • Im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl (Bettwäsche und Emaillewaren).

  • Im Kreis Hildburghausen, [Bezirk] Suhl (Ersatzteile für Kfz und Benzin).

  • Im Kreis Ribnitz, [Bezirk] Rostock, benötigt das Täschnerhandwerk 3 000 m Reißverschlüsse zur Herstellung von Handtaschen.

  • Im Kreisforstbetrieb Parchim, [Bezirk] Schwerin (Bügelsägen, Äxte, Feilen).

  • In Groß-Berlin mangelt es nach einer Analyse des KGV teilweise an folgenden Waren: Untertrikotagen, besonders für Kinder, wollhaltige Pullover, Jacken, Miederwaren, Kindermäntel, Hülsenfrüchte, Bestecke, Stahlwaren, Biergläser, Papierwaren für HO-Gaststätten.

  • Bei den […]12 der Gaststätten besteht ein Materialmangel an Glas, Papier, Pappen, Möbelstoffen, Frisiervorhängen, Fußbodendielen, Lackfarben, Glühbirnen, Armaturen für Toiletten und Wasserleitungen. Ebenso Leuchtröhren.

  • Die DHZ Perleberg erhielt vom Fischkombinat Rostock 30 Fässer verdorbene Salzheringe.13

Landwirtschaft

Die Stellungnahmen zu den politischen Problemen haben weiterhin einen geringen Umfang, jedoch einen überwiegend positiven Inhalt. Anlässlich des Monats der DSF14 wurde hauptsächlich in den MTS und LPG – mit wenigen Ausnahmen – positiv diskutiert und eine Reihe Neuaufnahmen für die DSF getätigt.

Zum Urteil über die Gehlen-Verbrecher wird zwar nur wenig, aber ebenfalls überwiegend positiv Stellung genommen. Zum größten Teil zeigt man volles Verständnis für dieses Urteil und empfindet diese Strafe als gerecht, teilweise noch als zu mild. Ein werktätiger Bauer, ehemaliges Mitglied der NSDAP aus Krumhermersdorf, [Kreis] Zschopau,15 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte hierzu: »Es gibt bei uns noch viele Bauern, die aus der Vergangenheit nichts gelernt haben. Ich war in der SA und habe eingesehen, dass ich damit einen großen Fehler begangen habe. Wenn die Gehlen-Agenten jetzt zum Tode und zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt wurden, dann geschieht das mit Recht. Wir Bauern brauchen Frieden und ich will nicht noch einmal meinen Hof allein lassen, um Soldat zu spielen. Wenn jemand jedoch unseren Staat bedroht, der uns in letzter Zeit so viel gegeben hat, denn schlage auch ich mit zu.«

Ein parteiloser Angestellter der MTS Fröden-Jüterbog, [Bezirk] Potsdam: »Ich habe damit gerechnet, dass alle sieben Agenten der Gehlen-Organisation die Todesstrafe erhalten.«

Ein Genossenschaftsbauer aus Reichstädt, [Kreis] Dipoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Ich habe den Prozess in der Presse eingehend verfolgt. Ich kann es noch nicht begreifen, wie sich Funktionäre, Abteilungsleiter aus Ministerien für Spionagezwecke zur Verfügung stellen können. Die Todesstrafe ist für diese Verbrecher noch viel zu gering. Sie müssten unter schwersten Bedingungen in Lagern arbeiten und dort ihre Strafe verbüßen.«

Nur vereinzelt wurden negative Stellungnahmen bekannt. Gegen die Schandverträge von London und Paris waren im Bezirk Halle die Protestkundgebungen und Veranstaltungen gut besucht. In den Landgemeinden Schmiedeberg, [Kreis] Wittenberg, nahmen 1 000, in Brestoj16 900, in Bad Dürrenberg,17 [Kreis] Merseburg, 15 000 und in Bad Lauchstädt 800 Werktätige [teil]. In den Gemeinden Kayna, Frankenberg18 und Mücheln nahmen insgesamt 3 600 Werktätige an den Protestversammlungen teil.

Im MTS-Bereich Brehna waren es 14 000 und in der MTS Ketschau19 bekundeten 90 Kollegen durch Unterschrift ihren Protest gegen die Schandverträge und gegen den Verräter Adenauer.20

Im Bezirk Potsdam machen sich in Versammlungen und Schulungen über die Schandverträge von London und Paris oft negative Diskussionen bemerkbar, die im Zusammenhang mit der Oder-Neiße-Friedensgrenze geführt werden. So diskutierte z. B. in einer bäuerlichen Massenschulung in der Gemeinde Buberow, [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam, ein Teilnehmer wie folgt: »Um das Saargebiet wird heute wieder viel geschrieben und gesprochen.21 Ich bin auch dafür, dass das Saargebiet bei Deutschland bleibt. Aber warum erwähnt man nicht die Ostgebiete? Warum hat man diese ohne unseren Willen an Polen abgetreten? Wenn wir ein einiges Deutschland haben wollen, dann muss es ein ganzes Deutschland sein. Ich bin davon überzeugt, dass durch Anstrengung aller Deutschland einmal einig sein wird. Aber die Ostgebiete, die der Pole allein nicht bearbeiten kann, werden weiterhin die Forderung aller Deutschen sein.«

Eine negative Stimmung herrscht zum Teil unter den bäuerlichen Kreisen in verschiedenen Landkreisen des Bezirkes Cottbus über die Verteilung von Bohnenkaffee an die Industriearbeiter. Einige Bauern sagten hierzu: »Wenn der Bauer sein Soll dem Staat gegenüber erfüllt hat, ist er ebenfalls berechtigt, Bohnenkaffee zu empfangen.«

Klagen über das Fehlen von Unterbringungsmöglichkeiten für das Vieh und die sehr mangelhafte Durchführung von Stallbauten insbesondere Schweineställen kommen immer wieder, besonders aus den LPG.

Am 8.11.1954 fand in Neuruppin eine Kreiskonferenz der LPG statt. In der Diskussion wurden von Vorsitzenden und Genossenschaftsbauern der LPG Schwierigkeiten und Mängel berichtet. Vor allem wurde das Fehlen entsprechender Viehställe, die den gesamten Wirtschaftsplan der LPG gefährden, einer Kritik unterzogen. Des Weiteren wurde über das Problem der Krankenversicherung gesprochen und die Frage gestellt, warum Mitglieder der LPG kein Krankengeld erhalten. Diese bezieht sich insbesondere auf die Mitglieder, die ohne Land in die LPG eingetreten sind.22 Es wurde vorgeschlagen, dieses Problem auf der 3. Konferenz der LPG in Leipzig weiterzubehandeln.

Teilweise wird eine schlechte Arbeit bzw. negatives Verhalten einzelner LPG- und ÖLB-Leiter festgestellt. Der LPG-Vorsitzende aus Schwaan, Kreis Bützow, z. B. diskutierte mit den Bauern über die Schulden der LPG und sagte, dass ist noch viel zu wenig, im nächsten Jahr müssten wir statt 88 000 DM 288 000 DM Schulden haben.

Der Vorsitzende der LPG aus Kritzow, Kreis Schwerin, sagte: »Das Ziel unserer Regierung ist doch, die Landwirtschaft zu vernichten.« Er versuchte es damit zu begründen, dass alle jungen Menschen für die Volkspolizei geworben werden. Von den Traktoristen der MTS Leezen23 will niemand mehr auf der LPG Kritzow arbeiten, weil dieser Vorsitzende die Verträge nicht unterschreiben will.

In dem ÖLB Zittow, [Kreis] Schwerin, sind noch 25 ha Getreide zu säen. Der neue Leiter, der aus Westdeutschland in die DDR zugezogen ist, zeigt keinerlei Interesse für die Entwicklung in der ÖLB.

Eine schlechte Stimmung zeigt sich in der LPG Obhausen, [Kreis] Querfurt, [Bezirk] Halle. Bei einer Mitgliederversammlung war zu verzeichnen, dass ca. 80 Prozent der anwesenden LPG-Mitglieder die Meinung vertraten, dass sie früher unter den Kulaken24 besser gelebt hätten wie jetzt als Angehörige der LPG.

Unzufriedenheit über Ersatzteilmangel herrscht in einigen MTS. In der MTS Seehausen, [Bezirk] Magdeburg, kann das Schichtsystem in allen drei Stationen nicht im vollen Umfang durchgeführt werden, weil für die Hälfte der Traktoren die Regler für die Lichtmaschinen fehlen. Es handelt sich um ungarische Regler.

Aus den MTS des Kreises Grimmen, [Bezirk] Rostock, kommen Klagen über das augenblickliche Fehlen der Ersatzteile für Pflüge. Der Leiter der MTS Appelsdorf25 sagte zu dem Mangel an Ersatzteilen: »Die Ersatzteillieferung hängt immer um eine Kampagne zurück. Jetzt bekommen wir laufend Ersatzteile für Erntemaschinen und andere Geräte, wo die Ernte schon abgeschlossen ist. Und nun, wo wir Pflugersatzteile brauchen, gibt es keine.«

In Berlin besteht ein Mangel an Hufstollen für Pferde für den Winter, es werden ca. 250 000 Stück benötigt, aber voraussichtlich nur 20 bis 30 000 Stück zur Verfügung gestellt.

Verdorbene bzw. dem Verderb ausgesetzte Produkte

In der VdgB (BHG) Brehna wurde festgestellt, dass in den Mieten bis 40 Prozent Frühkartoffeln Fäulniserscheinungen aufweisen, sodass sie für die Frühjahrsaussaat 1955 nicht geeignet sind.

In der Kapsmühle in Heiligenstadt lagern seit längerer Zeit größere Mengen von Kleie. Diese Kleie ist dem Verderb ausgesetzt und hat bereits ca. 50 Grad Wärme erreicht. Trotzdem die Lagermöglichkeiten dieser Mühle erschöpft sind, hat der Besitzer noch keine Anweisung erhalten, die Kleie auszuliefern. Ähnliche Zustände wurden vor Kurzem in der Obermühle Heiligenstadt26 festgestellt.

Übrige Bevölkerung

In der Stimmung der übrigen Bevölkerung hat sich keine bemerkenswerte Veränderung ergeben. Weiterhin nehmen die Gespräche über politische Probleme einen geringen Rahmen ein. Neben der Zustimmung zum Strafmaß für die Gehlen-Agenten kommt es vielfach zu der Meinung, dass die Strafen zu mild seien und dass die Verbrecher alle die Todesstrafe verdient hätten. Zum Beispiel sagte ein Angestellter (parteilos) aus Illmenau, [Bezirk] Suhl: »Wir müssen von früh bis abends arbeiten, damit jedes Rädchen bei unserem Aufbau laufen kann und diese verkommenen Subjekte lassen sich für Geld kaufen, weil sie zum Arbeiten zu faul sind. Sie waren bereit, unseren Aufbau zu zerstören und friedliebende Menschen zu morden. Ich empfinde die ausgesprochene Strafe des Obersten Gerichtes viel zu human für diese Verbrecher.«

Eine Hausfrau (parteilos) aus Fambach, [Bezirk] Suhl: »Es ist nicht genug, dass nur zwei Todesurteile gegen die Gehlen-Agenten ausgesprochen wurden. Alle müssten sie geköpft werden. Diese Menschen würden wegen einiger Mark ein Volk ins Unglück stürzen. Wenn diese Verbrecher so unter den beiden Kriegen gelitten hätten wie ich, könnten sie so etwas bestimmt nicht machen.«

Eine Hausfrau aus Zeithain, [Bezirk] Dresden: »Ich bin der Meinung, dass die Agenten, welche zwölf und 15 Jahre Zuchthaus bekommen haben, viel zu milde verurteilt worden sind. Ich bin der Ansicht, dass sie alle aufgehängt werden müssen.«

Ein Rentner aus dem gleichen Ort: »Wir sind heute mit den Feinden unserer Republik noch viel zu human. Wenn ich überlege, wie wir Antifaschisten 1933 behandelt wurden, so ist das heute ein Kinderspiel. Ich bin dagegen, dass man Gleiches mit Gleichem vergeltet, aber wir dürfen auch nicht zu menschlich urteilen.«

Negative Stellungnahmen zu der Aburteilung der Gehlen-Agenten sind ganz vereinzelt. Eine Hausfrau aus Kirschau, [Kreis] Bautzen: »Unsere Regierung schimpfte auf die Amerikaner, als sie die Rosenbergs hinrichtete,27 weil dadurch zwei Waisen hinterblieben. Was geschieht aber nun bei uns? Von den Verurteilten hat doch auch einer zwei Kinder?«

Am ersten Tag des Prozesses gegen die Gehlen-Agenten in Magdeburg28 waren ca. 150 Personen aus verschiedenen Betrieben und Verwaltungen anwesend. In den Pausen wurde vielfach in den Diskussionen zum Ausdruck gebracht, dass man empört ist über die Tätigkeit dieser verbrecherischen Elemente. Schon während der Verhandlung, wenn die Agenten über ihre Tätigkeit berichteten, kommt es fortwährend zu empörten Gemurmel.

Neben den Stellungnahmen, in denen die Handlungsweise Adenauers in der Saarfrage verurteilt wird, kommt es verschiedentlich, besonders unter den Neubürgern,29 wie z. B. in Frankfurt, zu negativen Äußerungen im Zusammenhang mit der Oder-Neiße-Friedensgrenze. Zum Beispiel äußerte ein Neubürger aus Freienwalde: »Man sollte bei uns erst Ordnung schaffen. Westdeutschland wird sich allein kümmern. Über die Ostgrenze ist auch noch keine Klärung da.«

Die Diskussion über die Bedeutung des Monates für Deutsch-Sowjetische Freundschaft ist gering. Die anlässlich des Freundschaftsmonates durchgeführten Veranstaltungen nehmen allgemein einen guten Vorlauf. Zu negativen Äußerungen kommt es nur in geringem Maße. Zum Beispiel sagte eine Finanzbuchhalterin aus Frankfurt: »Man kann von mir nicht verlangen, dass ich Plaketten kaufe oder Freundschaft mit solchen Menschen halte, die jetzt noch nach zehn Jahren keine Zivilisation kennen. Vor Kurzem hat man mich erst überfallen.«

Eine Hausfrau ebenfalls aus Frankfurt: »Wir haben über 40 befreundete Nationen und mit jeder wollen wir Freundschaft halten. Wo käme ich mit meinem Haushaltgeld hin, wenn ich für jede Freundschaft etwas ausgeben soll? Für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft gebe ich gar nichts. Denn mit den Russen passiert jeden Monat etwas.«

Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wird in Mitgliederversammlungen der bürgerlichen Parteien noch immer in ablehnender Form über den Wahlablauf am 17.10.[1954]30 gesprochen, dabei kommt es vereinzelt zu offenen feindlichen Äußerungen. Zum Beispiel sagte ein Schlosser (NDPD) aus Cainsdorf: »Bei uns ist das ganze bolschewistische Regime nichts wert und wir werden schon dafür sorgen, dass es bald anders wird.«

In der medizinischen Fakultät der Universität Jena wird sehr wenig zu politischen Problemen Stellung genommen. Gleichzeitig besteht eine sehr schwache FDJ- und Parteiarbeit, sodass sich negative Elemente immer offener hervorwagen. So sagte z. B. ein Student zu einem anderen, der Kandidat unserer Partei geworden ist: »Du warst mir ja schon früher nicht sympathisch, aber seitdem du den roten Käfer trägst, ist es zwischen uns gleich ganz aus.«

In den Kreisen der Kirche ist in der letzten Zeit bemerkenswert, dass vielfach Pfarrer in ihren Predigten gegen den Entwurf des neuen Familiengesetzes Stellung nehmen.31 Zum Beispiel sagte ein Pfarrer aus Geithain, [Bezirk] Leipzig: »Das neue Familiengesetz ist viel zu revolutionär und marxistisch. Da dies dem Göttlichen schädlich ist, kann ich mich nicht damit einverstanden erklären.«

In der Gemeinde Oberlichtenau, [Bezirk] Dresden, beteiligte sich der Pfarrer nicht an der Wahl. Darüber werden unter der Bevölkerung Diskussionen geführt und zwar, dass der Pfarrer nichts dafür konnte, dass er sein Wahlrecht nicht ausübte, er hätte ja auf Anweisung seiner höheren Dienststelle so handeln müssen. Die Kinder aber schreiben an die Türen der Schulräume: »Der Pfarrer ist ein Kriegsverbrecher.«

Bei den Diskussionen über wirtschaftliche Fragen sind es größtenteils die Mängel in Handel und Versorgung, über die gesprochen wird. So erklärten z. B. viele Hausfrauen im Bezirk Rostock, dass Textilien, die durch die Preissenkung billiger wurden,32 jetzt wieder zum alten Preis verkauft werden.

Im Bezirk Magdeburg klagen Geschäftsleute über den Mangel an Verpackungsmaterial. Was zu negativen Äußerungen führt. Zum Beispiel sagte ein Geschäftsmann aus Oschersleben: »Ich habe das Empfinden, dass man uns vernichten will. Meine Lieferfirmen kommen ständig mit neuen Schwierigkeiten betreffs Lieferungen an den privaten Handel. Scheinbar will man uns doch auslöschen«.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:33 Berlin 16 500, Frankfurt/Oder 10 000, Magdeburg 170 (aus Flugzeugen abgeworfen), Dresden 90.

KgU:34 Cottbus, Kreis Guben, 15 000 (ein Paket).

NTS:35 Karl-Marx-Stadt 10 000, Dresden und Gera einige.

»Tribüne«:36 Karl-Marx-Stadt 454.

In einer Oberschule in Halle wurden drei in Igelit eingepackte Broschüren der NTS gefunden.

Antidemokratische Tätigkeit

In Bandenitz, Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, werden regelmäßig durch unbekannte Täter Plakate und Anschlagtafeln entfernt oder beschmutzt.

Am 9.11.[1954] stempelten unbekannte Täter das Zeichen der NTS37 auf verschiedene Kinoplakate in Berlin, Klement-Gottwald-Allee.

Am sowjetischen Ehrenmal in Köbeln, Kreis Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, wurden von unbekannten Tätern zwei vertrocknete Kränze zwischen die am 7. Nov[ember] [1954] niedergelegten Kränze abgelegt.

Am 8.11.[1954] wurde an der Haustür der Kreisleitung der SED in Greiz ein Zettel mit den Worten »es lebe der Führer Adolf« sowie ein Hakenkreuz angebracht.

Terror

Am 7.11.[1954] wurde während einer Tanzveranstaltung in Leißnitz, Kreis Beeskow, [Bezirk] Frankfurt/Oder, ein Gemeindevertreter (SED) von einem Großbauern und einem Landarbeiter mehrere Male provoziert, später aus der Gaststätte gelockt und niedergeschlagen. Der Bürgermeister der Gemeinde wurde auf dem Nachhauseweg von dem angeführten Landarbeiter verfolgt und bedroht.

Im Betrieb Hohlglas Drebkau,38 Kreis Cottbus, wurden vor kurzer Zeit viele Facharbeiter von einem ehemaligen Werksangehörigen, der republikflüchtig wurde, aufgefordert, nach Westdeutschland in die Glasindustrie zu kommen. Dabei wurde reichliche Entlohnung zugesichert. Aufgrund dessen ist in der letzten Woche ein Facharbeiter mit seiner Familie republikflüchtig geworden.

Gerücht

In Waltersdorf, Kreis Zittau, [Bezirk] Dresden, wird das Gerücht verbreitet, dass Mehl knapp wird und man sich deshalb Vorräte anschaffen müsste.

Im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, wird verbreitet, dass [es] im nächsten Jahr wieder Brotmarken geben solle. So äußerte zum Beispiel ein Mühlenbesitzer aus Neuhaus gegenüber einer Einwohnerin: »Halten Sie ihr Korn noch zurück und kaufen Sie sich Brot, denn im kommenden Jahr werden wieder Brotmarken eingeführt.«

Im Kreis Teterow, [Bezirk] Neubrandenburg, wird das Gerücht verbreitet, dass die Preise für den Aufkauf von Schlachtvieh auf freie Spitzen39 auf eine Mark pro Kilo herabgesetzt werden. Infolgedessen wurden bei der Viehabnahme am 8.11.1954 200 Schweine angeliefert, die vorher nicht erfasst worden waren.

Am 8.11.[1954] erhielt der Kreisvorstand der Nationalen Front Angermünde ([Bezirk] Frankfurt/Oder), acht telefonische Anrufe, die provokatorischen Charakter aufwiesen. Der Anrufer befand sich in der LPG Schmargendorf, Kreis Angermünde.

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 9.11.[1954] brannten in Buckau, Kreis Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, zwei Scheunen und vier Ställe ab. In den Scheunen lagerte Stroh und ungedroschenes Getreide. Es verbrannten außerdem Vieh und landwirtschaftliche Maschinen. Brandursache: vermutlich Brandstiftung.

Am 9.11.[1954] brannte die Scheune einer Mittelbäuerin aus Freienhagen, Kreis Oranienburg, [Bezirk] Potsdam. Brandursache: vermutlich Brandstiftung.

Westberlin

Versammlung der SPD am 4.11.[1954] im Lokal »Sporteck« Berlin-Wilmersdorf. Referent war der stellvertretende Bürgermeister von Wilmersdorf.40 In der Diskussion wurde von einem ehemaligen Angestellten, ca. 60 Jahre alt, bereits vier Jahre arbeitslos, erklärt, dass die SPD unkonsequent [sic!] sei. Weiterhin führte er aus, dass die SPD als Arbeiterpartei Verbindung mit dem Osten herstellen müsste, um die Arbeitslosigkeit in Westberlin zu beseitigen. Ferner bemängelte er, dass die SPD kein Wahlprogramm habe. Der stellvertretende Bürgermeister von Wilmersdorf bezeichnete diesen Redner als SED-Mitglied und hetzte gegen ihn.

SPD-Versammlung am 8.11.[1954] in Zehlendorf, Rathaus – Lichtspiele. Thema: Rentner, wo drückt der Schuh. Anwesend waren ca. 400 Personen. Referent war die Bezirksstadträtin Gertrud Grün.41 Bei Eröffnung der Versammlung wies sie darauf hin, dass für die SED und DP Redeverbot besteht.

Als erster Diskussionsredner wollte ein am Stock gehender Rentner sprechen. Seitens der SPD-Mitglieder erhob sich ein Tumult und der Redner wurde als getarnter SED-Agent bezeichnet. Von einem SPD-Ordner wurde er deshalb brutal von der Bühne gerissen. Daraufhin forderte ein großer Teil der Anwesenden, den angeblichen Kommunisten reden zu lassen. Da die Grün dies ablehnte, verließ ein großer Teil den Saal. Die Versammlung wurde dann geschlossen.

Einschätzung der Situation

Der Gehlen-Prozess hat bei vielen Menschen aufklärend gewirkt. Darum wurden meistens die höchsten Strafen gefordert. Deshalb ist auch einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung das Urteil zu milde, da viele die Todesstrafe für alle sieben Verbrecher für angemessen halten.

Sonst ergeben sich in der Lage keine besonderen Veränderungen gegenüber den Vortagen.

Anlage vom 11. November 1954 zum Informationsdienst Nr. 2364

Westberliner Stimmen zu den Senatswahlen am 5. Dezember 195442

In vielen Diskussionen, u. a. geführt von Arbeitslosen, Arbeitern, Hausfrauen, Gewerbetreibenden, wird zur Beteiligung der SED an den Dezember-Wahlen Stellung genommen. Vorwiegend wird von den Personen, die mit dem jetzigen Senat nicht zufrieden sind, zum Ausdruck gebracht, dass sie die Beteiligung der SED an den Wahlen begrüßen und darüber hinaus erklären sie, dass sie für die SED stimmen werden. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau aus Zehlendorf: »Ich begrüße es von ganzem Herzen, dass die SED zu den bevorstehenden Wahlen zugelassen ist. Ich verspreche mir etwas davon. Wenn ich auch in keiner Partei bin, so kann ich mir doch ein Bild machen, wer es ehrlich meint oder wer nur Versprechungen macht.«

Die unter den Arbeitern des Betriebes »Mix und Jänicke«43 geführten Diskussionen sind zum großen Teil positiv. Vielfach wird zum Ausdruck gebracht, dass man die SED wählen will, da man die großen Leistungen und den Aufbau im Demokratischen Sektor anerkennt und dies vorwiegend das Verdienst der SED sei.

Bei einer Diskussion vor dem Arbeitsamt in der Pallasstraße44 erklärte ein Kriegsversehrter: »Kollegen, wir alle müssen dafür sorgen, dass am 5. Dezember [1954] die Banausen aus Schöneberg45 verschwinden. Ich habe es satt, mich länger von der SPD zum Narren halten zu lassen und wähle deshalb die SED

Nach einer Wahlversammlung wurde von einer Gruppe Erwerbsloser zum Ausdruck gebracht: »Wir sind froh, dass sich die Partei der Arbeiter an der Wahl beteiligt. Die anderen Parteien haben doch alle nichts für uns übrig. Sie haben noch nichts getan für uns Erwerbslosen, sondern nur unter sich geschoben.«

Zum anderen zeigen sich aber auch bei Agitationseinsätzen – neben den positiven Beispielen – vielfach negative bzw. feindliche Erscheinungen. Es kommt vor, wie das z. B. bei einem Einsatz in Zehlendorf der Fall war, dass man es ablehnt, überhaupt mit den Aufklärern zu diskutieren, das Propagandamaterial verweigert oder Beschimpfungen gegen die SED ausspricht. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau: »Was, sie kommen von der SED und wagen sich bei mir vorzusprechen, das ist ja allerhand. Was können das schon für Menschen sein, die sich für so eine Partei einsetzen.«

Eine andere Hausfrau erklärte: »Wir gehen in alle Versammlungen, nur nicht in die der SED, da bringt uns keiner hin.«

Ein Angestellter äußerte: »Machen sie, dass sie fortkommen und nehmen sie ihr Propagandamaterial wieder mit, so etwas brauche ich nicht. Lassen sie sich aber kein zweites Mal bei mir sehen.«

Eine Hausfrau (CDU) erklärte: »Ich muss sagen, sie haben Mut, hier vorzusprechen. Die SED ist doch nur zu den Wahlen zugelassen, damit man weiß, wie stark sie noch ist, hier in Westberlin.«

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