Zur Beurteilung der Situation in der DDR
30. November 1954
Informationsdienst Nr. 2379 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Vordergrund der Diskussionen über politische Tagesfragen steht der Verbotsprozess gegen die KPD.1 Dabei sind überwiegend positive Stimmen bekannt geworden, die sich inhaltlich gegenüber dem Vortag nicht unterscheiden. Mehrfach wird in Protestschließungen von Kollegen aus einzelnen Abteilungen und Betrieben die Einstellung des Prozesses gefordert. Daneben wird erst vereinzelt von Arbeitern über die Konferenz in Moskau gesprochen.2 Neben positiven Stimmen, in denen die Konferenz begrüßt und der Weg der Verhandlungen befürwortet wird, wurden nachstehende negative Meinungen geäußert.
Ein Ingenieur aus dem [Kraft-]Werk Holzweißig, [Bezirk] Halle: »Ich denke, dass die Konferenz nichts erreicht. Die Delegationen sind ja nur einseitig, nämlich aus den volksdemokratischen Ländern. Damit kommt die Meinung der westlichen Länder gar nicht zutage, was aber ausschlaggebend wäre.«
Zwei Arbeiter aus dem sächsischen Kunstseidenwerk Pirna, [Bezirk] Dresden: »Grotewohl3 ist wieder nach Moskau geflogen, um neue Befehle zu erhalten. Morgen haben sie eine Konferenz. Die Westmächte werden sich jedoch an diesem Mist nicht beteiligen.«
Zu den Ausführungen auf der 21. ZK-Tagung ist das Echo noch sehr gering.4 Eine Ursache hierfür ist, dass erst ein kleiner Teil der Genossen und Kollegen die Rede des Genossen Walter Ulbricht5 studiert hat.6 Teilweise wird von Arbeitern die Frage diskutiert, weshalb 27 Prozent aller VEB unrentabel sind und warum dieser Mangel nicht schon Mitte des Jahres aufgezeigt wurde, um ihn im II. Halbjahr zu beseitigen. Solche Meinungen stammen vor allem von Arbeitern der Leuna-Werke »Walter Ulbricht«. Von Intelligenzlern wurden bisher noch keine Äußerungen bekannt. Einzelne Kollegen befassen sich bereits mit Ursachen für unrentables Arbeiten in den Betrieben. So sagten z. B. verschiedene Kollegen im Chemischen-Werk Buna: »Es wurde allerhöchste Zeit, dass die Partei zu diesem Problem Stellung nahm. Wenn man sieht, was in verschiedenen Betrieben noch gesündigt wird, muss man sich wundern, dass wir überhaupt noch so vorankommen. Es gibt bei uns Meister, die zulassen, dass verschiedene Kollegen ihren Arbeitsplatz eine halbe Stunde vor Arbeitsschluss verlassen.«
Ein Kollege aus der T-2-Hauptwerkstatt der Filmfabrik Wolfen: »Nach meiner Meinung sind die Verwaltungskosten der Betriebe zu hoch und der Verwaltungsapparat zu aufgebläht. An den Arbeitern liegt es bestimmt nicht.«
Andere diskutieren in diesem Zusammenhang besonders über Normenfragen. Im Bau 15 des Leuna-Werkes besteht die Meinung, dass in der Dreherei die Norm um 8 Prozent erhöht wird. Es gibt jedoch noch Unklarheiten, besonders bei dem Normieren, wie hoch die richtige Norm sein muss.
Von Jugendlichen des Walzwerkes Hettstedt wird erklärt, dass verschiedene Normen im Betrieb viel zu niedrig sind. Zum Beispiel könnte bei guter Arbeitsorganisation an der Vorwalzstraße eine durchschnittliche Leistung von 180 Prozent erzielt werden. Hierzu äußerte sich ein Kollege feindlich und erklärte, dass man keine Hochleistungsschichten mehr fahren sollte, weil danach die Normen erhöht werden würden.
Die Kumpels der Eisengießerei des Eisenhüttenwerkes Thale erreichen zzt. Arbeitsleistungen zwischen 180 bis 200 Prozent. Sie sind der Meinung, wenn bei ihnen technisch begründete Arbeitsnormen7 eingeführt werden, würden sie bedeutend weniger verdienen. Sie verhalten sich jetzt abwartend und sind gespannt, wann und wie eine neue Normierung erfolgen wird.
Verschiedentlich wird die Bedeutung des 21. Plenums nicht erkannt. So äußerten z. B. mehrere Bauarbeiter während der Bahnfahrt nach Leipzig, dass alle, die einen Bauberuf erlernt haben und auf dem Dorfe wohnhaft sind, aus den Fabriken herausgenommen werden sollen und in LPG und MTS eingesetzt werden. Daraufhin erklärte ein Bauarbeiter: »Wir werden doch noch machen können, was wir wollen und arbeiten, wo wir wollen.«
Den Einfluss feindlicher Kräfte beweisen Gespräche in der Halle I der Mathias-Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock. Hier wird erzählt, dass im Zusammenhang mit dem 21. Plenum 3 000 Arbeiter der Werft entlassen werden sollen.
Über Weihnachtsgratifikationen hat der Umfang der Gespräche zugenommen. So wird heute aus den Bezirken Halle, Gera, Erfurt, Dresden, Magdeburg und Potsdam gemeldet, dass solche Diskussionen in mehreren Betrieben geführt werden. Hierbei wird meist die Frage gestellt, ob überhaupt Weihnachtsgelder ausgezahlt werden. Dabei werden teilweise Gerüchte über die Auszahlung verbreitet. So äußerte z. B. ein Kollege aus dem Bau F 16 des Buna-Werkes, dass die Arbeiter im Leuna-Werk DM 25,00 und für jedes Jahr, welches sie nach 1945 im Werk beschäftigt sind, außerdem 2,00 DM erhalten.
Im Stahlwerk Brandenburg entstanden die Diskussionen dadurch, dass ein Kollege erklärte, Personen aus der DDR, die zum Weihnachtsfest in Westdeutschland weilen, würden vom Bürgermeister des jeweiligen Ortes 20,00 DM und das Geld für die Rückreise erhalten.
Von einigen Angestellten der Verwaltung und des Fahrzeugpersonals der Halberstädter Straßenbahn, [Bezirk] Magdeburg, wurde in den letzten Tagen verbreitet, es sei schlecht, dass die Regierung noch keine Beschlüsse über Weihnachtsgelder gefasst hat. Vom Bonner Bundestag dagegen sei bereits beschlossen worden, dass in Westdeutschland an Arbeiter und Angestellte DM 60,00 gezahlt werden.8 Ähnliche Diskussionen wurden im Walzwerk Burg, [Bezirk] Magdeburg, laut.
Im Zug von Halle nach Leuna wurde unter Arbeitern in Diskussionen erzählt, dass die Auszahlung der Weihnachtsprämien prozentual erfolgt und zwar: Für die Lohngruppen 1 bis 4 4 Prozent und für die Lohngruppen 5 bis 8 2 Prozent.
Im Privatbetrieb »Jäger« in Eisenberg,9 [Bezirk] Gera, werden unter den Arbeitern viele Diskussionen über die Lebenslage in der DDR geführt, worin zum Ausdruck kommt, dass sie sich jetzt weniger kaufen können als in den Jahren 1949 und 1950.
Im VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt, [Bezirk] Gera, liegen seit längerer Zeit Massenbedarfsgüter im Werte von 0,5 Million DM, die nicht ausgeliefert werden können, weil die Preisstelle von Berlin die neuen Preise noch nicht festgesetzt hat. Die vom Werk festgesetzten Preise lagen unter dem HO-Preis und wurden deshalb nicht bestätigt.
Wegen Waggonmangel ist immer wieder die Produktion einzelner Betriebe gehemmt. So hat z. B. der VEB Gipswerk Sperenberg, [Bezirk] Potsdam, Schwierigkeiten beim Abtransport von Gipsplatten, weil im Oktober von 100 angeforderten Güterwagen nur 57 gestellt wurden, im November von ebenfalls 100 Waggons bis zum 18.11.1954 nur 24 gestellt wurden. Wenn keine Besserung in der Waggongestellung eintritt, muss das Werk wegen überfüllter Lagerräume stillgelegt werden.
Produktionsstörungen
Im VEB Dampfhammerwerk Großenhain, [Bezirk] Dresden, ist am 29.11.1954 der Brückenhammer ausgefallen.
Im Braunkohlenwerk Hirschfelde, [Bezirk] Dresden, trat ein Planverlust von ca. 25 Tonnen Kohle ein, da an einer Maschine eine Welle brach.
Im Braunkohlenwerk »Franz Mehring«, Kreis Senftenberg, [Bezirk] Cottbus, kam es zu einigen Wagenentgleisungen.
Im Braunkohlenwerk »Spreetal« setzte durch eine Störung der Abraumbagger aus. Außerdem kam es zu Wagenentgleisungen. Diese sind zurückzuführen auf die schadhaften Schwellen der Gleisanlagen. Es wurde festgestellt, dass der Betrieb sehr mangelhaft mit Schwellen von der DHZ Schnittholz in Spremberg beliefert wird.
Handel und Versorgung
Unzufriedenheit herrscht weiterhin über die teilweise unzureichende Versorgung mit HO-Fleisch, Fisch, Süßwaren, Textilien und insbesondere über das Fehlen der Waren für den Weihnachtsbedarf.
- –
Im Bezirk Suhl z. B. fehlt es an Süßwaren, Schokoladenerzeugnissen und Textilien.
- –
Bezirk Halle, Kreis Quedlinburg (Weißkäse, HO-Fleisch wurde im IV. Quartal um 70 t gekürzt. Außerdem fehlen Eier), Kreis Gräfenhainichen (HO-Fleisch, Fisch, Süßwaren und Feingebäck).
- –
Bezirk Dresden (Rosinen und Mandeln).
- –
Bezirk Cottbus, Kreis Spremberg (Fettkäse, Fisch, Süßwaren, Kakao, Schokoladenpulver), in anderen Kreisen (Fisch, Kakao, Südfrüchte).
- –
Bezirk Potsdam, Kreis Pritzwalk (HO-Fleisch, Fisch).
- –
Bezirk Schwerin (Kindernährmittel, HO-Fleisch, Eier, Stärkeerzeugnisse).
- –
Bezirk Gera, Kreis Gera (Hausbrandkohle).
- –
Bezirk Potsdam, in mehreren Kreisen (HO-Fleisch), Gransee (Oberhemden).
- –
HO Wismut10 (Textilien, Süßwaren, Frisch- und Konservenobst, Eier, »Turf«-Zigaretten, Zutaten für die Weihnachtsbäckerei).
Die zuständigen Lieferfirmen für Süßwaren teilen laufend mit, dass eine termingerechte Lieferung nicht möglich ist, da es an dem notwendigen Verpackungsmaterial fehlt. Dadurch verzögert sich die Lieferung um drei bis vier Wochen. Solche Mitteilungen erhielt zum Beispiel [die] HO Wismut Johanngeorgenstadt von nachstehenden Firmen: VEB Süßwarenfabrik Elbflorenz Dresden, VEB Sachar Delitzsch, Felsche Leipzig,11 Mauxion Saalfeld,12 Berggold Pößneck, Falke[npflug] Döbeln, Henze Eilenburg,13 Trumpf Berlin-Weißensee, Wesa Wilkau-Haßlau.
In Kyritz, [Bezirk] Potsdam, wird im Dezember ein Weihnachtsmarkt eröffnet, der für die Dauer von sieben Tagen vorgesehen war. Da aber nicht genügend Ware vorhanden ist, wurde er auf drei Tage reduziert. Nach Meinung der Handelsorgane reicht der Vorrat nicht einmal für die vorgesehenen drei Tage. Vor allem fehlt es an Spielwaren, Süßigkeiten und Unterwäsche.
Landwirtschaft
Die Landbevölkerung nimmt nur in ganz geringem Umfang zum geplanten Verbot der KPD und zur Moskauer Konferenz Stellung. Die Stellungnahmen sind mit wenigen Ausnahmen positiv und stammen hauptsächlich aus dem sozialistischen Sektor. Neben den bereits bekannten Meinungen über den Karlsruher Prozess gegen die KPD wird der Moskauer Konferenz große Aufmerksamkeit geschenkt. Man erhofft von dieser Konferenz die Verhinderung eines neuen Krieges und verurteilt vor allem die Ablehnung der Teilnahme der Westmächte. Ein Traktorist aus der MTS Teuchern, Kreis Hohenmölsen, [Bezirk] Halle, bringt zum Ausdruck: »Ich sitze lieber in der DDR auf einem Traktor als auf einem Panzer der Adenauer14-Wehrmacht.«
Ein Mittelbauer aus Rückersdorf, Kreis Sebnitz, [Bezirk] Dresden: »Es kann ruhig wieder einmal etwas schlechter gehen, wenn nur ein neuer Krieg verhindert wird.«
Ein parteiloser Kraftfahrer vom VEG Genshagen, [Kreis] Zossen: »Ich bin enttäuscht, dass der Westen an der Europakonferenz nicht teilnimmt. Auch die Westmächte hätten sich an der Konferenz beteiligen sollen.«
Bei der Ablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse kommt es teilweise zur Verärgerung wegen dem Fehlen von Transportmitteln, insbesondere der Waggons von der Reichsbahn. Der Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, beschwert sich, dass die termingerechte Gestellung von Waggons durch die Reichsbahn nicht eingehalten wird. Am 26.11.1954 wurden durch die VEAB Zarrentin bei der Reichsbahn Hagenow-Land Waggons zur Verladung von Vieh für den 28.11.1954 angefordert. Aufgrund dieses Termins wurden die Erzeuger benachrichtigt, mit der Verladung zu beginnen. Gegen 10.00 Uhr standen ungefähr 100 Fuhrwerke und ein Lastzug der MTS Zarrentin auf dem Verladebahnhof, um ca. 500 Schweine zu verladen. Die Waggons bleiben jedoch aus. Des Weiteren wurde am 30.11.1954 ein Waggon für 20 Tonnen Kartoffeln angefordert, worauf die Reichsbahn bis zum heutigen Tage keinerlei Bescheid erteilt hat.
In einigen Bezirken wurde festgestellt, dass durch fahrlässige Behandlung große Mengen Kartoffeln dem Verderb ausgesetzt wurden. So sind z. B. in dem VEG Ottenhagen, Kreis Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg, zwei Kartoffelmieten mit ca. 1 000 dz zum Teil erfroren. Die Arbeiter des VEG machten den Betriebsleiter darauf aufmerksam, die Kartoffeln ordnungsgemäß abzudecken. Der Betriebsleiter vertrat jedoch die Meinung, dass es vorerst noch keinen Frost geben wird und er schon wüsste, was er macht.
In dem ÖLB Jakobshagen, Kreis Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, sind ca. 100 Tonnen Kartoffeln erfroren.
Im Kreis Rostock sind über 7 000 dz Kartoffeln erfroren. Davon bei den LPG ca. 2 000 dz und in den ÖLB 3 300 dz. Begründet wird dieses meistens mit Arbeitskräftemangel und Mangel an Transportraum.
In der VEAB Mittenwalde, Kreis Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, sind ca. 500 Ztr. Roggen dem Verderb ausgesetzt. Der Roggen beginnt zu schimmeln und zum Teil zu keimen. Zuständig ist die VEAB Mittenwalde.
Oft kommen Klagen über schlechte Saatkartoffeln. Die BHG Bennungen, [Kreis] Sangerhausen, [Bezirk] Halle, erhielt von der DSG Haldensleben einen Waggon Saatkartoffeln, die zu 45 Prozent mit Braunfäule befallen sind.
Die DSG Naumburg lieferte der BHG Prititz, Kreis Weißenfels, [Bezirk] Halle, zwei Waggon Hochzuchtsaatkartoffeln, wovon ca. 400 Ztr. zu Futterkartoffeln eingedämpft werden mussten.
Häufig beklagen sich Erntehelfer über die schlechte Arbeitsmoral der LPG. Am 27.11.1954 wurde auf der LPG Lanz, Kreis Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, ein Großeinsatz zur Bergung der Zuckerrüben durchgeführt. Hieran beteiligten sich die Genossen des VPKA Ludwigslust und die Grenzpolizei. Von den 75 Mitgliedern der LPG beteiligte sich niemand.
In Groß Garz, Kreis Seehausen, [Bezirk] Magdeburg, bezahlen viele Bauern ihre Steuern nur schleppend und einzelne sind sogar einige Jahre im Rückstand. Die Bauern wurden bereits mehrmals gemahnt und reagieren wie folgt darauf: »Die Steuern werden uns noch gestrichen, denn bald brauchen wir keine mehr zu bezahlen. Es kommt doch noch anders.«
Übrige Bevölkerung
Die Gespräche über politische Tagesfragen haben weiterhin einen verhältnismäßig geringen Umfang, sind aber in der Mehrzahl positiv. In den Stellungnahmen zu der am 29.11.1954 in Moskau begonnenen Konferenz wird übereinstimmend zum Ausdruck gebracht, dass die Verhandlungen erfolgreich sein und zur Entspannung der internationalen Lage beitragen mögen. Zum Beispiel sagte ein Postangestellter (parteilos) aus Thierow,15 [Bezirk] Rostock: »Ich bin der Meinung, dass die Europakonferenz eine Dringlichkeit ist, da nur hierdurch die Ziele des Friedens verwirklicht werden können. Ich war stets ein Gegner des Krieges, insbesondere aber die Jahre an der Front haben mir die Augen geöffnet. Nie könnte ich irgendwelche Vorbereitungen für einen neuen Krieg gutheißen. Aus dem Grunde begrüße ich die Europakonferenz und bedaure, dass die westlichen Staaten nicht daran teilnehmen.«
Eine Hausfrau (parteilos) aus Lindenbrück: »Hoffentlich bringt die Moskauer Konferenz einen Erfolg, damit die Menschen in der Welt von dem Albdruck eines bevorstehenden Krieges erlöst werden. Auch wäre es schön, wenn wir nicht mehr länger unter der Spaltung unseres Vaterlandes zu leiden hätten.«
In einer Diskussion mehrerer Mitglieder der NDPD in Quedlinburg wurde zum Ausdruck gebracht, dass die jetzige Konferenz in Moskau das einzig Mögliche sei, das westliche Kriegslager vor eventuell übereilten Beschlüssen und Unbesonnenheiten zu bewahren. Es müsse verhindert werden, dass Europa in ein unvorstellbares Elend gestürzt würde.
Ein Einwohner aus Pappenheim: »Man kann der SU nicht dankbar genug dafür sein, dass sie unbeirrbar eine Politik des Friedens und der Verständigung verfolgt. Sie ist in der Lage, mit der Unterstützung der Volksdemokratien und all den anderen Kräften des Friedens die Kriegstreiber in Schach zu halten. Ich begrüße die Konferenz in Moskau, weil sie uns hoffentlich Verminderungen in der bestehenden Spannung bringt und dazu beiträgt, die Kriegsgefahr in Europa zu bannen.«
Negative Meinungen zur Moskauer Konferenz wurden auf einer Handwerkerversammlung in Calau, [Bezirk] Cottbus, vertreten. Im Allgemeinen waren die Anwesenden dafür, dass eine solche Konferenz durchgeführt wird, brachten jedoch zum Ausdruck, dass es uns nichts nutzen würde, weil die Westmächte nicht mitmachen. So führe die SU die Konferenz mit den Vertretern der Volksdemokratien allein durch und dadurch würde in der Folge die DDR eben auch eine Sowjetrepublik werden.
Die Äußerungen zum Verbotsprozess gegen die KPD in Karlsruhe sind ausschließlich positiv. Es wird immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass in der Bundesrepublik der gleiche Weg beschritten wird, den Hitler gegangen ist. Zum Beispiel sagte ein Einwohner aus Walddrehna, [Bezirk] Cottbus: »Ich hörte vor Kurzem in einer Rundfunkübertragung Ausschnitte aus dem Reichstagsbrandprozess.16 Damals hat man die gleichen Methoden angewandt, wie sie jetzt in Westdeutschland wieder praktiziert werden, um fortschrittliche Menschen verhaften zu können.«
Ein Lehrer aus Flöha: »Es müsste doch einem jeden klar sein, dass der Kurs der Adenauer-Regierung mit dem Prozess gegen die KPD der gleiche Weg ist, den Hitler 1933 ging. Wir müssen uns dagegen entschieden zur Wehr setzen.«
In Kleinmachnow werden in verstärktem Maße darüber Diskussionen geführt, dass dieser Ort den Westsektoren angegliedert werden sollte. So sagte z. B. ein Einwohner: »Es wird zzt. soviel geredet, sodass man gar nicht mehr weiß, woran man ist. Eigentlich wäre es ja sehr schön, wenn Kleinmachnow an Westberlin angeschlossen würde, aber ob wir dann noch hier wohnen bleiben können oder woanders hinkommen, das weiß man nicht. Im Januar sollen die Verhandlungen stattfinden. Das ist das Tagesgespräch in Kleinmachnow. Ob überhaupt etwas Wahres an der Sache ist, weiß man nicht.«
In Neustadt-Glewe, [Bezirk] Schwerin, wird unter der Bevölkerung vielfach darüber gesprochen, dass bei der Herstellung der Einheit Deutschlands mit einer neuen Währung zu rechnen sei. Dazu äußerte eine Hausfrau: »Es ist jetzt an der Zeit einzukaufen, denn wenn die Einheit Deutschlands kommt, gibt es eine neue Währung und unser Geld ist dann wertlos.«
Aus dem Bezirk Leipzig wurde berichtet, dass in letzter Zeit zu verzeichnen ist, dass aufgrund der Verbreitung von Gerüchten Hamstereinkäufe getätigt werden. Zum Beispiel äußerte eine Hausfrau aus Radefeld, [Kreis] Delitzsch, gegenüber Einwohnern im Ort: »Die Fleischereien im gesamten Kreis dürfen keine Schweine mehr zur Schlachtung annehmen.« Sie forderte die Einwohner auf, sich mit Fleisch- und Wurstwaren einzudecken, weil es in nächster Zeit nichts mehr geben würde.
Im Mittelpunkt der Diskussionen über wirtschaftliche Probleme stehen nach wie vor die Mängel in Handel und Versorgung, was immer wieder Unzufriedenheit auslöst. Dazu äußerte z. B. eine Hausfrau aus Neuhaus, [Bezirk] Suhl: »Es wird immer wieder viel über die Verbesserung des Warensortiments gesprochen. Unter anderem auch auf der 21. ZK-Tagung. Wie sieht es aber in dieser Hinsicht in der Praxis aus. Jetzt kurz vor Weihnachten sieht man davon in den Geschäften gar nichts. Es gibt keine Süßwaren, Schokolade usw. Auch in Textilien sind die Auswahl und das Sortiment sehr gering. In den letzten Jahren war die Warenbereitstellung in der Weihnachtszeit besser.«
Eine Hausfrau aus Fambach, [Kreis] Schmalkalden, [Bezirk] Suhl: »Aufgrund der Planwirtschaft müsste man annehmen, dass nach den Bedürfnissen der Bevölkerung produziert wird. Aber das ist nicht der Fall. Zum Beispiel besteht schon seit längerer Zeit ein großer Mangel an Herrenoberhemden.«
Auf einer Hausversammlung in Dresden kritisierte eine Hausfrau den Mangel an Einschlagpapier in den Geschäften. Zum Beispiel müssen immer wieder Tüten zerschnitten werden, um damit Butter und andere Waren einzupacken.
In Dresden wird unter der Bevölkerung darüber diskutiert, dass im dortigen Schlachthof die Lager voll Speck liegen würden. Aber in den letzten vier Wochen keiner zum Verkauf gelangte.
Aufgrund des Kohlenmangels kommt es immer wieder zu Schulschließungen. Zum Beispiel sind in einigen Gemeinden des Kreises Grimmen, [Bezirk] Rostock, bereits einige Schulen geschlossen und weitere Schließungen stehen unmittelbar bevor. Eine Rücksprache mit dem Rat des Kreises Grimmen bestätigte einen akuten Kohlenmangel, wovon auch private Haushalte betroffen werden. Die gleichen Schwierigkeiten sind in den Kreisen Oranienburg, [Bezirk] Potsdam, und Löbau, [Bezirk] Dresden, zu verzeichnen.
Die Oberschule in Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, muss ebenfalls am 30.11.[1954] geschlossen werden, weil die Kohlenvorräte verbraucht sind. Die verantwortlichen Stellen im Kreis sind von diesem Missstand unterrichtet, bis jetzt wurde jedoch keine Abhilfe geschaffen.
In Schmalkalden geht man dazu über, die Kohlenbestände der Schulen für die Betriebe zu verbrauchen. Die Bevölkerung diskutiert darüber und es wird zum Ausdruck gebracht, dass dies ein Zeichen der schlechten Planung und der Armut in der DDR sei.
Bei einer Schulbegehung in der 33. und 34. Grundschule im Demokratischen Sektor wurde von den Heizern angegeben, dass es ihnen unmöglich sei, mit der vorhandenen Rohbraunkohle die höher gelegenen Klassenzimmer genügend warm zu bekommen. Es stehen nur ca. 10 Ztr. Brikett für die gesamte Heizperiode zur Verfügung. Die Klassenzimmer wiesen nur 13 Grad Wärme auf.
Der Kohlenvorrat der Kreiskrankenhäuser Rüdersdorf und Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt, ist fast erschöpft. Trotz Verständigung der Kreis- und Bezirksdienststellen ist bisher noch keine Abhilfe erfolgt. Vom Rat des Kreises Fürstenwalde wurden Instrukteure eingesetzt, um die einzelnen Betriebe zu überprüfen. Aus den vorhandenen Kohlenbeständen sollen eventuell Kohlen für die Krankenhäuser abgezweigt werden.
Erkrankungen
Aufgrund von Scharlachserkrankungen mussten in der Stadt Calau, [Bezirk] Cottbus, vier Klassen der Zentralschule für 14 Tage geschlossen werden (bisher erkrankten 26 Kinder).
Bis zum 25.11.[1954] erhöhte sich die Zahl der an Kinderlähmung erkrankten Personen im Kreis Naumburg, [Bezirk] Halle, auf insgesamt 63.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD-Ostbüro:17 Halle, Kreis Artern, 10 000, Erfurt, Kreis Eisenach, 125, Potsdam 350, Gera 45, Schwerin 500, Suhl, Kreis Schmalkalden, 1 500.
NTS:18 Berlin-Biesdorf 135, Potsdam 212, Gera 3 500, Schwerin 1 800, Karl-Marx-Stadt 55, Halle 60, Rostock einige.
»Der Tag«:19 Berlin-Blankenburg 800, Berlin-Weißensee 300, Potsdam 5 000, Erfurt 14.
KgU:20 Potsdam 2 000, Gera 4 000, Neubrandenburg mehrere Tausend, Erfurt 40, Karl-Marx-Stadt 12 000, Dresden 4 000 (Hetze gegen VP und KVP21), Erfurt 800, Karl-Marx-Stadt 8 700.
In tschechischer Sp[rache]: Dresden, Kreis Bautzen, 1 000.
In den meisten Fällen handelt es sich um bekannte Flugblätter. Der größte Teil der Flugblätter wurde durch Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Terror
Am 26.11.1954, gegen 20.00 Uhr wurde ein VP-Angehöriger von einem Landarbeiter in Beckentin, [Kreis] Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin, niedergeschlagen. Der Landarbeiter wurde 1948 wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt und gab an, aus diesem Grunde Hass gegen die VP zu haben.
Gefälschte Lebensmittelkarten
Am 28.11.1954 wurden in Goldberg, [Bezirk] Schwerin, folgende Lebensmittelkarten gefunden: 33 Fleischmarken, 35 Fettmarken mit ca. 50 kg.
In Lübz, [Bezirk] Schwerin, wurden ebenfalls 69 Fleischmarken mit 106 kg und 52 Fettmarken mit 21 kg gefunden.
Am 26.11.1954 versuchte ein Westberliner in einer HO-Gaststätte in Oranienburg, [Bezirk] Potsdam, KVP-Angehörige zur Flucht nach Westberlin zu veranlassen und hetzte dabei gegen die Regierung der DDR. Bei der Festnahme beleidigte er die VP und wurde tätlich.
In Schlamau, [Kreis] Belzig, [Bezirk] Potsdam, wurde eine Liste sichergestellt, in welcher die Freilassung des Tierarztes Dr. Krause,22 der wegen vorsätzlicher Verbreitung der Schweinepest einsitzt, gefordert wird. Die Unterschriften wurden von zwei Schulkindern aus der Gemeinde gesammelt.
Anlage vom 30. November 1954 zum Informationsdienst Nr. 2379
Westberliner Stimmen zu den bevorstehenden Wahlen am 5. Dezember [1954] in Westberlin23
Immer wieder kommt es zu positiven Stellungnahmen bezüglich der Beteiligung der SED an diesen Wahlen, besonders unter den Schichten, die am stärksten unter der Frontstadtpolitik zu leiden haben. Vielfach erhofft man sich eine Besserung der Lage, wenn die SED in den Senat einzieht. Oftmals geht aus den Äußerungen hervor, dass man den Versprechungen der bürgerlichen Parteien nicht mehr glaubt und der SED das Vertrauen schenken will, indem man für sie stimmt. Zum Beispiel sagte ein Arbeiter: »Die SED hat Chancen von mindestens 6 bis 8 Prozent. Sollte sie Sitze im Senat bekommen, muss dann auch die SPD Farbe bekennen, ob sie ihre Mantelträgerei weitermachen will, oder ob sie sich tatsächlich noch als Arbeiterpartei fühlt.«
Ein Arbeiter: »Die SED wird bestimmt eine Menge Stimmen erhalten, weil die anderen Parteien ihre Versprechungen nicht gehalten haben. Außerdem haben die vielen Skandalaffären der Bevölkerung deutlich gemacht, was vom Schreiber-Senat24 zu halten ist.«
Ein arbeitsloser Eisenbahner: »Es ist an der Zeit, dass eine wirkliche Opposition in den Senat einzieht. Ein großer Teil der Eisenbahner, die sehr unzufrieden sind, wird die SED wählen.«
Ein ehemaliger Offizier brachte zum Ausdruck, dass er sich über die Beteiligung der SED freue, da sie die Garantie bietet bei ihrem Einzug in den Senat, dass andere Verhältnisse geschaffen werden. Wäre die SED nicht zugelassen worden, hätte er von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht.
In einem Gespräch in der S-Bahn während des Berufsverkehrs wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Kandidaten der SED doch einwandfrei sein müssten, denn wenn sonst etwas an ihnen entdeckt würde, wäre bestimmt sofort die Presse davon voll. Dagegen könnten die »Angriffe der Ostpresse« in der Hinsicht nicht stichhaltig widerlegt werden. Dem Gespräch war weiter zu entnehmen, dass die Personen mit der Politik des Schreiber-Senats nicht einverstanden waren. Jedoch wurde von ihnen zum Ausdruck gebracht, dass sie die Westmark nicht missen möchten, da sie ihrer Meinung nach mehr Wert besitzt.
In einer Diskussion mit Arbeitern der Firma »Schwarzkopf« wurde von diesen zum Ausdruck gebracht, dass die Wahlhelfer der SED zwar ziemlich oft kamen mit ihren Wahlmaterial, aber dies wäre immer noch besser als die Haltung der anderen Parteien, die sich gar nicht bei den Arbeitern sehen ließen. Eine Arbeiterin sagte, dass sie diesmal bestimmt richtig wählen werden, da man ihnen ja schon wieder Steuern aufbrummen würde. Ein anderer Arbeiter äußerte, dass das Wahlmaterial gut unter den Arbeitern angesprochen habe. Von einigen wird erklärt, dass für sie nichts anderes infrage kommt als ganz links zu wählen.
In den Stellungnahmen von Gewerbetreibenden und Handwerkern zeigt sich ebenfalls eine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und teilweise wird auch in diesen Kreisen eine Änderung der Lage, durch die Beteiligung der SED an den Senatswahlen, erhofft. So sagte z. B. ein Schneidermeister: »Für mich ist es klar, dass ich die SED wähle, denn es wird Zeit, dass hier andere Verhältnisse geschaffen werden.«
Der Inhaber eines Zeitungskioskes: »Ich verurteile die dauernden Korruptionen und begrüße deshalb die Beteiligung der SED an den Wahlen, damit endlich hier Ordnung geschaffen wird.«
Ein Lebensmittelhändler (Halbjude): »Es ist hier in Westberlin nicht mehr weit bis zu einer Kristallnacht,25 wie wir sie schon einmal erlebt haben. Die Nazis erheben schon wieder frech ihr Haupt.«
Ein Geschäftsmann sagte: »Bisher haben alle Parteien versprochen, dem Mittelstand zu helfen, aber keine hat es bis jetzt fertiggebracht.«
Vielfach aber begegnet man den Wahlhelfern offen feindlich, indem man sich gar nicht in ein Gespräch einlässt und sofort mit kurzen negativen Bemerkungen die Tür wieder zumacht. Oder es kommt zu wüsten Beschimpfungen gegen unsere Partei. Dabei bringt man Argumente vor, die ihnen durch die Hetzpropaganda eingeflößt wurden. So sagte z. B. eine Geschäftsfrau: »In Westberlin wird es wohl keine Frau geben, die die SED wählen wird, weil sie nicht vergessen haben, wie sie beim Einzug der ›Sowjets‹ behandelt wurden. Eine Partei, die mit den ›Russen‹ harmoniert, hat hier wenig Aussicht auf Erfolg. Auch die SPD wird abrutschen und Nutznießer wird die CDU sein.«
Bei der Verteilung der Wahlaufrufe in der Paulsborner Straße 24 in Wilmersdorf sagte ein Mieter: »Macht bloß, dass ihr aus dem Haus kommt. Ihr seid wohl verrückt, so eine Frechheit habe ich auch noch nicht erlebt.«
In Kreisen der CDU wurde Folgendes zum Ausdruck gebracht: Wenn bisher, nach Ansicht führender Kreise, nicht genügend gegen die SED getan worden sei, so nur deshalb, weil die Bevölkerung den Versprechungen der SED einen gesunden Widerstand entgegensetze. Gewiss werden einige Westberliner den Verlockungen der SED erliegen. Ansonsten sind aber die Wahlmanöver zu offensichtlich, um darauf reinzufallen.
Durch Wahleinsätze von Lehrern wurde bekannt, dass ihre Westberliner Kollegen ein Revers unterschreiben mussten, dass sie mit keinem Lehrer oder sonstigen Aufklärer auf dem Demokratischen Sektor eine Unterhaltung führen dürfen.