Zur Beurteilung der Situation in der DDR
2. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2381 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Weiterhin steht der Verbotsprozess gegen die KPD im Vordergrund der Diskussionen.1 Dazu werden immer wieder Protestresolutionen verfasst, worin man dieses Verbrechen anprangert und das Absetzen dieses Prozesses fordert. Die Einzeldiskussionen haben sich inhaltlich nicht verändert. Verschiedentlich bringen Arbeiter Zweifel über einen Erfolg der Resolutionen zum Prozess zum Ausdruck. So äußerten z. B. drei Arbeiter aus dem VEB Bleichert Leipzig Folgendes: »Wir können von der DDR aus keinen Einfluss in Karlsruhe geltend machen, denn in Westdeutschland herrschen andere Gesetze und auch eine andere Regierung. Die machen drüben sowieso was sie wollen.«
Über die Moskauer Konferenz sind die Gespräche noch gering, haben jedoch etwas zugenommen.2
Mit den Ausführungen auf der 21. ZK-Tagung befasst man sich noch wenig,3 da die Aufklärung hierüber mangelhaft bzw. nicht erfolgt ist und andererseits in einem Teil der Betriebe Kommissionen, die die Tagung für den Betrieb auswerten sollen, noch gebildet werden.
Verschiedentlich wird von Arbeitern begrüßt, dass die vorhandenen Missstände, die sie selbst verspürten, endlich von der Partei aufgedeckt wurden. In diesem Zusammenhang werden Mängel in den Betrieben kritisiert und ihre Änderung gefordert. So sagte z. B. ein parteiloser Dreher aus der Mathias-Thesen-Werft in Wismar: »Ich begrüße den Beschluss des 21. Plenums. Ein Beweis für die Richtigkeit der Ausführungen ist z. B., dass in der Halle I 17 Prüfer rumlaufen, die Lohngruppe VII und VIII bekommen, jedoch bei Weitem nicht ausgelastet sind. Außerdem sind eine Reihe von Meistern auf der Werft beschäftigt, die als solche bezahlt werden, jedoch keine Meisterprüfung haben.«
Ein Produktionsdisponent von der Peene-Werft Wolgast erklärte: »Es wird höchste Zeit, dass das Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten zugunsten der Arbeiter verändert wird.«
In einer Rechenschaftsversammlung zum BKV im VEB Simson-Werk Suhl II4 wurde stark der Schlendrian in der BGL und von einigen Wirtschaftsfunktionären kritisiert. Ein Härtemeister erklärte ferner: »Es muss endlich aufhören, den Wettbewerb formal durchzuführen. Außerdem muss der Betriebsplan auf jeden Kollegen aufgeschlüsselt werden.«
Einige Betriebe haben schon Maßnahmen ergriffen, um die Arbeit wirtschaftlicher zu gestalten. So gingen z. B. im Nahrungsmittelwerk »NACO« Cottbus verschiedene Angestellte in die Produktion. An einigen Maschinen wurden Verbesserungen zur Materialeinsparung vorgenommen.
Wie mangelhaft man sich bisher mit den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht5 selbst unter Wirtschaftsfunktionären befasst hat,6 beweisen folgende Beispiele.
Der Leiter des VEB Glashütte Zossen,7 [Bezirk] Potsdam (SED), kannte bis vor wenigen Tagen die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht noch nicht. Nachdem er sie gelesen hatte, erklärte er: »Ich mache nichts mehr. Viele Jahre lang habe ich mich bemüht und bis heute sind keine Erfolge zu verzeichnen. Wir sind nur zwei Genossen im Betrieb und wir können uns nicht um alles kümmern.«
Der Betriebsleiter des VEB »Karma« Strumpffabrik in Zwönitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Durch die neuen Maßnahmen nach dem 21. Plenum und der damit verbundenen Einsparung in der Verwaltung wird in Zukunft ein Hauptbuchhalter, der bisher 500 DM verdiente, vielleicht nur noch 350 DM erhalten.«
Über Weihnachtsgratifikationen wird weiterhin wie am Vortage diskutiert.8 Ein großer Teil der Kollegen wünscht Weihnachtsgelder und ist gespannt, wie hoch diese ausfallen werden. So ist z. B. der größte Teil der Kollegen der Abteilung Zentrale Gasanlage im VEB Thale der Meinung,9 dass die Höhe der Gelder ebenso groß wie im vergangenen Jahr sein wird.
In der Mitteldeutschen Druckerei Halle wird diskutiert, dass für Verheiratete 50,00 DM und für Ledige 40,00 DM Weihnachtsgelder gezahlt werden.
Wegen Nichtauszahlen der Quartalsprämie wird heftig unter den Arbeitern und Intelligenzlern der Maxhütte Unterwellenborn diskutiert. Sie sind darüber verärgert. Die Quartalsprämien wurden deshalb nicht ausgezahlt, weil der Finanzplan mit 3,3 Millionen DM überzogen ist.
Unter der technischen Intelligenz des Öl- und Fettwerkes Magdeburg »Hans Schellheimer« besteht eine schlechte Stimmung, weil sie keine Prämien im III. Quartal erhalten sollen. Der Produktionsplan wurde mit 124 Prozent erfüllt, der Finanzplan jedoch nur mit 71 Prozent. Die Ursache liegt darin, dass am 1.9.1954 ein abgeänderter Finanzplan dem Werk gegeben wurde, der in keinem Verhältnis zur Produktion steht. Verschiedene Intelligenzler wollen kündigen.
Material- und Brennstoffschwierigkeiten sind oftmals Anlass zu negativen Diskussionen unter den Arbeitern. So sagte z. B. ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Möbelstoffwerk Hohenstein[-Ernstthal, Bezirk] Karl-Marx-Stadt, welches unter erheblichen Brennstoffschwierigkeiten leidet: »Unsere Regierung wird nie lernen, ihre Geschäfte zu meistern. Jedes Jahr fehlt etwas Anderes. Die Leitung müssen eben fähige Köpfe übernehmen, sonst klappt der ganze Laden nicht.«
Große Schwierigkeiten in der Kohlenversorgung haben die Zuckerfabriken im Bezirk Magdeburg. So haben die Zuckerfabriken in Niederndodeleben und Wolmirstedt einen Vorrat für drei bis vier Tage. Wenn sie nicht täglich 400 Tonnen Kohle bekommen, muss die Produktion unterbrochen werden.
Materialschwierigkeiten bestehen im Gaswerk Sebnitz, [Bezirk] Dresden. Es fehlen Gussrohre für Reparaturarbeiten. Die Bevölkerung ist über die dadurch entstehenden Gasabschaltungen unzufrieden.10
Im Elektrostahlwerk Freital11 mangelt es an Erz und ist die Stromzuteilung ungenügend. Auch Ersatz für das Erz (Hammerschlacke und Walzsinter) sind nicht mehr im ausreichenden Maße vorhanden. Die Planerfüllung ist gefährdet. Die Kumpels diskutieren, dass sie »nur noch von einem Tag zum anderen produzieren«.12
Die Kollegen des VEB Wälzlagerfabrik Berlin sind über die mangelhafte Versorgung des Betriebskonsums unzufrieden. Die Zigarettenauswahl ist unzureichend. Die Zuteilung an Südfrüchten zu gering. Ebenfalls mangelt es sehr an HO-Eiern. Dadurch kommt es zu Äußerungen wie: »Was gibt es denn hier schon zu kaufen« und »Wird das einmal besser werden.« Besonders verärgert sind die Kolleginnen.
In der mechanischen Werkstatt des VEB Kirow-Werk Leipzig besteht eine sehr schlechte Arbeitsorganisation, worüber besonders die Dreher sehr unzufrieden sind. Die Mängel wurden schon oft von ihnen kritisiert, jedoch von der Werkleitung nicht beseitigt. Außerdem kritisiert man, dass die Betriebsleitung an den Produktionsberatungen der Arbeiter bisher noch nicht teilgenommen hat und ihre Verbesserungsvorschläge nicht berücksichtigt.
Produktionsstörungen
Am 30.11.1954 entstand im Nahrungsmittelwerk »NACO« Cottbus eine Heißluftexplosion, Ursache noch unbekannt.
Am 29.11.1954 fiel im Kalikombinat »Ernst Thälmann« in Merkers, [Bezirk] Suhl, ein Fördergefäß der Förderanlage des Schachtes III aus. Der Produktionsausfall beträgt ca. 1 500 t Rohsalz. Ursache ist noch nicht geklärt.
Berichtigung zur Meldung im Bericht vom 30.11.1954, Seite 4, über »Lagerung von Massenbedarfsgütern im VEB ›Wilhelm Pieck‹ in Rudolstadt, [Bezirk] Gera«.13 Wie nachträglich gemeldet, lagerten die Güter 6 bis 8 Wochen und sind in den letzten drei Tagen mit Ausnahme von Sporthosen (Wert: 30 000 DM nach Herstellerpreis) in den Handel gekommen. Das Kunstfaserwerk hatte vorher alle Artikel zum Herstellerpreis angeboten, jedoch hatte das Ministerium für Leichtindustrie, Absatzabteilung für Textilien, Außenstelle Karl-Marx-Stadt, den Akziseaufschlag nicht bekannt gegeben.
Handel und Versorgung
Die Mängel in der Versorgung der Bevölkerung bestehen weiterhin wie in den Vortagen, dabei macht sich jetzt der Mangel an HO-Fleischwaren nicht mehr so stark bemerkbar wie am Monatsende, wenn die Lebensmittelkarten verbraucht sind. Zurzeit sind Waren für den Weihnachtsbedarf in ungenügendem Maße vorhanden, besonders Schokoladen- und Süßwaren, da den Herstellerbetrieben Verpackungsmaterial fehlt. Besonders fehlt es für die Weihnachtsbäckerei an Zutaten, da die bisher in den Handel gekommenen Waren nicht ausreichend sind, um den augenblicklichen Bedarf zu decken.
Jetzt machen sich vereinzelt auch schon im Handel Fragen über die Zahlung der »Weihnachtsgratifikation« bemerkbar. Zum Beispiel wird unter der Belegschaft der DHZ Kraftstoffe und Mineralöle in Halle darüber gesprochen, es erfolgt aber keine Aufklärung, »da noch keine Richtlinien erfolgt sind«.
Landwirtschaft
Zum geplanten Verbot der KPD in Westdeutschland wird nur wenig, aber überwiegend positiv diskutiert. In den positiven Meinungen kommt hauptsächlich das Verlangen nach der Niederschlagung des Karlsruher Prozesses gegen die KPD zum Ausdruck. Teilweise wird auch der Notwendigkeit zur Aufklärung der westdeutschen Bevölkerung große Beachtung geschenkt. Wie z. B. in der MTS Dahlen, [Bezirk] Leipzig. Dort wurde in einer Belegschaftsversammlung eine Protestresolution gegen das KPD-Verbot einstimmig angenommen und der Briefverkehr durch die Bildung von Briefzirkeln nach Westdeutschland beschlossen.
Zu den Landtagswahlen in Westdeutschland sagte ein parteiloser Bauer aus der LPG Berreuth, Kreis Dippoldiswalde: »Habt ihr schon in der Presse gelesen, dass Adenauer14 zu den Landtagswahlen in Hessen und Bayern eine große Niederlage erlitten hat.15 Mit einer demokratischen Wahl hat das drüben doch gar nichts zu tun, wenn die CDU einen großen Teil ihrer Stimmen eingebüßt hat und trotzdem zwölf Sitze im Landtag mehr erhält, während die KPD wieder keine Vertreter hat.«
Anlässlich des 21. Plenums des ZK hat die MTS Löwenberg, [Bezirk] Potsdam, aufgrund des Referates des Genossen Walter Ulbricht beschlossen, eine Hochleistungswoche durchzuführen. Sie wollen die Winterfurche termingemäß erfüllen. Alle Traktoristen verpflichteten sich, im 3-Schichtensystem zu fahren. Ein Traktorist dieser MTS sagte: »Wir werden allen Banditen durch unsere Arbeit beweisen, dass wir gewillt sind, die Arbeiter- und Bauernmacht zu stärken.«
Bei einer Rechenschaftslegung des BKV auf dem VEG Kammermark, [Kreis] Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, wurde eine scharfe Kritik an den bestehenden Mängeln geübt. Vor allem wurden die Versorgung mit Baumaterial, Dachpappe, Holz und Glas und der katastrophale Zustand der Wohnungen kritisiert. Bei vielen Landarbeitern fehlen die Fensterscheiben, Winter wie Sommer, und das VEG bemüht sich vergeblich, Glas zu bekommen. Die Abteilung Aufbau beim Rat des Kreises erklärt, dass das Glas nicht bewirtschaftet sei. Die Glasermeister dagegen lehnen die Aufträge ab, weil sie kein Glas bekommen. Einige Kollegen erklärten in der Diskussion, dass die Abschaffung solcher Missstände nur durch den Minister Zweck habe, da die Verwaltung der VEG, Partei und FDGB ihren Aufgaben nicht nachkommen.
Immer wieder wird festgestellt, dass Kartoffeln in großen Mengen durch unverantwortliche Handlungsweise verderben. So beklagen sich z. B. Bauern aus Dahlenwarsleben, [Kreis] Wolmirstedt, [Bezirk] Magdeburg, über die VEAB Gutenswegen – Dahlenwarsleben, dass diese die Bauern erst zur sofortigen Ablieferung angetrieben hat und jetzt liegen die Kartoffeln noch tonnenweise auf dem Hof der VEAB.
Das VEG Ogrosen, Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, erhielt von der LPG Zarrentin, [Kreis] Hagenow, [Bezirk] Cottbus,16 150 dz Saatkartoffeln, von denen ein großer Teil angefroren und angefault waren. Ursache dafür war, dass die Kartoffeln bereits am 13.11.1954 in einem offenen Wagen verladen und nur mangelhaft mit Stroh bedeckt wurden.
Im ÖLB Grammendorf, [Bezirk] Rostock, liegen 100 dz Kartoffeln auf den Feldern, die nur mit Kraut bedeckt sind. Im ÖLB Langenfelde [liegen] ca. 500 dz, die nur mit Stroh bedeckt sind.
Im ÖLB Falkenberg, [Kreis] Freienwalde, sind 2 000 Ztr. Kartoffeln erfroren, die in Mieten gelagert, leicht mit Stroh zugedeckt waren.
Im VEG »August Bebel« in Quedlinburg, [Bezirk] Halle, sind ca. 250 Morgen Kartoffelland nicht nachgelesen und zum Teil schon umgepflügt worden. Ähnlich ist es mit Zuckerrüben.
Durch die Nichterfüllung der Verträge seitens der MTS Wilmersdorf sind auf dem VEG Alt Temmen, Kreis Templin, 15 000 Zentner Zuckerrüben erfroren. Außerdem hat das VEG noch 4 Hektar Zuckerrüben in der Erde. Ebenfalls durch die Nichterfüllung der Verträge durch die MTS Glewitz, [Bezirk] Rostock, befinden sich noch 35 Morgen Zuckerrüben der LPG Keffenbrink in der Erde. Dem VEG Beerbaum sind über 8 ha Futterrüben erfroren.
Futtermangel, der sich nachteilig auf die Viehhaltung auswirkt, hat die Schweinemästerei Görlitz, [Bezirk] Dresden. Die Futterlieferung für das VI. Quartal von 300 Tonnen Mais wurde durch die VEAB wieder rückgängig gemacht. Die Schweinemästerei verfügt zzt. über Roggenbrot, was sich bei den Schweinen unter 50 kg schädlich auswirkt und dadurch tägliche Verluste entstehen. Auch für die Tiere in der Quarantäne, die nur mit Weizenkleie und Gerstenschrot gefüttert werden sollen, sind diese Futtermittel nicht vorhanden.
Ersatzteilmangel besteht in der MTS Moisall, [Bezirk] Schwerin, wie Spurstangenbuchsen, Bolzenbuchsen, Federbolzen, Ein- und Auslassventile, Greifer, Reifen und Muttern (20 mm).17
Übrige Bevölkerung
Die Stellungnahmen zum Verbotsprozess gegen die KPD sind weiterhin gering, jedoch ausschließlich positiv. Immer wieder wird erklärt, dass durch diesen Prozess deutlich wird, welcher Weg in Westdeutschland eingeschlagen werden soll. Zum Beispiel sagte ein Angestellter aus Friesack, [Bezirk] Potsdam: »Es fängt genauso an wie bei Hitler. Erst wird die KPD verboten, dann die Gewerkschaften und schließlich die anderen Parteien. Adenauer braucht diesen Weg, um eine Militärdiktatur zu errichten. Deshalb muss gegen diesen Prozess in Karlsruhe schärfstens protestiert werden.« Ein Angestellter aus Frankfurt: »Dieser Prozess zeigt das wahre Gesicht des westdeutschen Staates. Da kann man sehen, wie ihre Demokratie aussieht. Leider wird das Verbot der KPD nicht aufzuhalten sein.«
Zur Auswertung der 21. Tagung des ZK der SED fanden in den Handelsbetrieben des Kreises Neuhaus, [Bezirk] Suhl, Kurzversammlungen statt. Es wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit festgelegt. Alle Genossen waren sich einig, dass eine 100-prozentige Planerfüllung nur durch eine exakte Anwendung des Ertragssystems möglich ist. In zahlreichen Verpflichtungen brachten die Mitarbeiter des Handelsapparates ihre Zustimmung zu den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht zum Ausdruck. So verpflichteten sich z. B. die Mitarbeiter der HO-Gaststätten, monatlich Produktionsberatungen mit der Betriebsleitung durchzuführen, um sich über den Stand der Planerfüllung zu orientieren und Maßnahmen festzulegen, die die bestehenden Schwierigkeiten beseitigen helfen.
Auf einer Belegschaftsversammlung im Großhandelskontor für Textilwaren wurden in der Diskussion vorwiegend wirtschaftliche Probleme behandelt. Unter anderem wurde die Frage gestellt, ob dieses Jahr mit der Zahlung einer Weihnachtsgratifikation zu rechnen sei.
Unter einem Teil der Angestellten der Deutschen Notenbank in Leipzig kursiert das Gerücht, dass sie dieses Jahr eine Weihnachtsprämie bekommen würden, da sie im vergangenen Jahr nichts erhalten haben.
Nach wie vor kommt es aus den Kreisen der Handwerker und der Einzelhändler zu Klagen über die unzureichende Material- bzw. Warenzuteilung. Zum Beispiel sagte ein Tischler aus Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg: »Ich habe durch den neuen Kurs keine Verbesserung erfahren,18 denn die Materialzuteilung und die Qualität sind sehr schlecht.«
Ein Bürstenmacher, ebenfalls aus Oschersleben sagte, dass man in der Belieferung zwischen Stadt und Land immer noch Unterschiede mache und die Gemeinden dadurch gegenüber der Stadt benachteiligt werden.
Ein Einzelhändler aus dem gleichen Ort: »Was nützen alle Versammlungen und schöne Reden, wenn der private Einzelhandel schlechter denn je beliefert wird. Im Monat November habe ich überhaupt noch keine Lieferung bekommen. Wie soll ein Geschäft seine monatlichen Unkosten decken können, wenn die Ware fehlt, noch dazu jetzt kurz vor dem Fest, wo man mit erhöhter Lieferung bedacht werden müsste.«
Aus den Kreisen der Kirche
Am 29.11.[1954] fand in Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, eine Kreissynode unter der Leitung des Superintendenten Rathmann19 aus Pritzwalk statt. Es nahmen alle Pastoren aus dem Kirchenkreis sowie aus jeder Gemeinde ein Mitglied des Kirchenrates daran teil. Der ganze Verlauf trug einen negativen Charakter. Es wurde besonders über das neue Familiengesetz,20 über Arbeitseinsätze an Sonntagen gesprochen. Des Weiteren erklärte ein Pfarrer aus Reckenthin, dass die Kirche bei dem Gottesdienst bespitzelt wurde und dass es keine Freiheit mehr gäbe.
In stärkerem Maße zeigt sich unter der Bevölkerung eine Missstimmung aufgrund der Mängel im Handelsapparat. Vor allem wird das ungenügende Warenangebot in der Vorweihnachtszeit stark kritisiert. Vielfach wird zum Ausdruck gebracht, dass nicht so viele Menschen nach Westberlin fahren würden, wenn es bei uns genügend Waren, besonders für die Weihnachtsbäckerei, geben würde. Auch das Verkaufspersonal ist vielfach missgestimmt, weil es die Wünsche der Kundschaft nicht erfüllen kann. In diesem Zusammenhang treten immer wieder Stimmen auf, dass es im Westen dagegen alles zu kaufen gibt. So sagte z. B. eine Hausfrau (parteilos) aus Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Man muss tatsächlich nach dem Westen fahren, um seine Weihnachtsbäckerei zu sichern. Es ist eine große Schweinerei, dass in der DDR – neun Jahre nach Kriegsende – solche Waren nicht zu haben sind.«
Ein Zigarrenhändler, ebenfalls aus Hohenstein-Ernstthal: »Man kann doch immer wieder sagen, dass wir ein ganz lumpiger Staat sind. Die Verantwortlichen bringen es noch nicht einmal fertig, den Menschen zum Weihnachtsfest eine Freude zu bereiten.«
Eine Verkäuferin aus Klingenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Warum gibt es denn bei uns nichts, doch nur deshalb, weil wir keinen Handel und Wandel treiben. Wenn unsere nicht so stur wären und nachgeben würden, dann wäre schon längst alles in Ordnung.«
Im Demokratischen Sektor von Groß-Berlin wird teilweise von der Bevölkerung beanstandet, dass es in den HO- und Konsumverkaufsstellen keine Teppiche in niedrigen Preislagen gibt. Besonders herrscht ein Mangel an Teppichen in der Preislage bis zu 400 DM. In höherer Preislage sind genügend [Teppiche] vorhanden und die Kunden bringen hierbei zum Ausdruck, dass sich ein Arbeiter solch einen Teppich nicht kaufen kann. Außerdem wird immer wieder über das ungenügende Angebot an Oberhemden Klage geführt.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD-Ostbüro:21 Gera 115, Gera, Kreis Lichtenberg,22 10 000, Erfurt, Kreis Eisenach, 7 000, Halle 65, Karl-Marx-Stadt, Kreis Plauen, 3.00 [sic!], Potsdam und Dresden einige.
KgU:23 Dresden, Kreis Freital, 28, Rostock 25, Karl-Marx-Stadt, Kreis Klingenthal, 18 000, Kreis Auerbach 2 000, Schwerin 700, Gera 40.
NTS:24 Dresden einige, Frankfurt 250, Rostock 130, Gera 5 000, Karl-Marx-Stadt 2 000, Potsdam, Kreis Wittstock, 200.
»Der Tag«:25 Frankfurt, Kreis Bernau, 1 000.
Unbek[annter] Herkunft: Potsdam, Kreis Luckenwalde, 10 000 (Hetze gegen DSF und Volkswahlen).26
In tschechischer Sprache: Dresden 75.
FDP: Gera 10, Karl-Marx-Stadt 11.
Die Hetzschriften wurden größtenteils durch Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Innerhalb der letzten Tage wurden in Dresden fünf Kindergärten durch Banditen zerstört. Es handelt sich um die Kindergärten Fröbelstraße, Emerich-Ambros-Ufer, Rudolf-Renner-Straße, Roquettestraße und Raimundstraße. Der letztgenannte wurde bereits seit 1952 das 5. Mal demoliert. Sie zerschlugen die Scheiben, das Spielzeug und Mobiliar, vernichteten vorrätige Lebensmittel und stahlen DM 106. Als Werkzeug benutzten sie Beile und schwere Hämmer. Die Heime waren ab Sonnabend, 16.00 Uhr, unbesetzt.
Antidemokratische Tätigkeit
Im Stahlwerk Gröditz, Kreis Riesa, wurde im Bad eine Hetzparole auf ein Waschbecken geschrieben.
In der Gemeinde Wiesa, Kreis Kamenz, [Bezirk] Dresden, wurde der FDJ-Kasten heruntergerissen und vor das Gemeindeamt gestellt.
Im Wismut-Schacht 20727 wurde an die Luftleitung ein Hakenkreuz gemalt.
Am 1.12.1954 wurde in Pasewalk, [Bezirk] Neubrandenburg, am sowjetischen Ehrenmal ein Grabstein umgestoßen.
Vermutliche Feindtätigkeit
In Wiesa, Kreis Kamenz, wurden im Futtergetreide, welches von der BHG Kottersdorff28 an die LPG geliefert wurde, zwei Nägel, 100 mm lang, gefunden.
Im VEB Waggonbau Niesky musste die Arbeit an der Taktstraße unterbrochen werden, da 33 Fensterrahmen als fertig gemeldet, aber nicht hergestellt waren. Aufgrund dessen mussten ca. 100 Arbeiter mit Ausweicharbeiten beschäftigt werden.
Einschätzung der Situation
Die Diskussionen zu den aktuellen politischen Fragen, wobei die Moskauer Konferenz im Vordergrund steht, sind im Allgemeinen überwiegend positiv. Feindliche Argumente werden nur im geringen Umfang festgestellt. Die Frage der Weihnachtsgratifikation ist in den letzten Tagen im beachtlichen Umfang in Erscheinung getreten, dabei zeigt sich eine völlig ungenügende Aufklärung. Beachtlich ist die weiterhin bestehende Unzufriedenheit der Bevölkerung über das unzureichende Warenangebot vor Weihnachten und verschiedentlich über unzureichende Versorgung mit Brennmaterial.
Anlage vom 2. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2381
Stellungnahmen zur Moskauer Konferenz
Die Stellungsnahmen zur Moskauer Konferenz haben im Vergleich zu den Vortagen etwas zugenommen und sind in der Mehrzahl positiv. In den Produktions- und Verkehrsbetrieben sind es vorwiegend Arbeiter, weniger Angestellte und ganz vereinzelt Angehörige der Intelligenz, die sich dazu äußern. Unter der Landbevölkerung sind die Stellungnahmen nur vereinzelt und kommen meist aus den Kreisen des sozialistischen Sektors, weniger von Einzelbauern. Bei der übrigen Bevölkerung kommen die Äußerungen aus fast allen Schichten.
Übereinstimmend wird in den Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht, dass das Zustandekommen dieser Konferenz nur begrüßt werden kann. Man erwartet, dass in Moskau Beschlüsse gefasst werden, die zur Erhaltung des Friedens beitragen und die die Einheit Deutschlands näherbringen. Des Weiteren wird erklärt, dass sich die Westmächte durch ihre Nichtbeteiligung an dieser Konferenz in der Welt entlarvt haben, dass sie nicht an einer Entspannung der Weltlage interessiert sind. So sagte z. B. ein Fassungsarbeiter (parteilos) aus den Rathenower Optischen Werken, [Bezirk] Potsdam: »Es ist gut, dass sich die SU so intensiv für die Einheit Deutschlands und für die kollektive Sicherheit einsetzt und auch die Initiative ergriff, alle europäischen Staaten und auch die USA zu einer Konferenz einzuladen. Dass die Westmächte einen Aufschub verlangten, haben sie nur gemacht, um ihre Pläne noch vor der Konferenz in Sicherheit zu bringen.29 Die Westmächte befürchten, dass auf der Moskauer Konferenz konkrete Vorschläge gemacht werden, die von allen friedliebenden Menschen anerkannt werden.«
Ein Arbeiter aus dem [Braunkohlen-]Werk »Freiheit« Bitterfeld: »Die Verhandlungen in Moskau haben sich notwendig gemacht, da das Friedenslager nicht mit ansehen kann, wie in Westdeutschland eine neue Armee auf die Beine gestellt wird. Hoffentlich wird mit dieser Konferenz erreicht, dass den Monopolisten etwas angst wird. Ich bin gespannt, wie die Verhandlungen dort ausgehen.«
Ein Angehöriger der Intelligenz aus dem VEB Köpsen,30 Kreis Hohenmölsen, [Bezirk] Halle: »Ich bin fest davon überzeugt, dass die Moskauer Konferenz zur Entspannung der Welt und zur kollektiven Sicherheit in Europa beitragen wird. Jetzt muss alle Kraft eingesetzt werden, um die Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen.«
Ein Traktorist von der MTS Heyda, [Kreis] Wurzen, [Bezirk] Leipzig: »Ich begrüße die Moskauer Konferenz. Dass die USA, England und Frankreich nicht teilnehmen, ist zu bedauern, doch werden die Volksdemokratien sowie die Sowjetunion auf dieser Konferenz bestimmt Beschlüsse fassen, die die Sicherheit dieser Staaten garantieren und zur Erhaltung des Friedens beitragen werden.«
Ein werktätiger Bauer aus Uckro, [Kreis] Luckau: »Diese Konferenz ist nur zu begrüßen, weil damit auch für uns eine Sicherheit geschaffen werden wird. Es darf nicht so weit kommen, dass Deutschland den Amerikanern und Großkapitalisten ausgeliefert wird, welche Europa in einen neuen Krieg stürzen wollen.«
Ein Verwaltungsangestellter aus Rodewisch, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Durch das Zustandekommen dieser Konferenz wird bestimmt die internationale Lage entspannt werden und dieses ist ein weiterer Schritt zur Erreichung der Einheit Deutschlands.«
Ein Einwohner aus Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Ich bin erfreut, dass diese Konferenz trotz der Ablehnung der kapitalistischen Mächte stattfindet. Es ist von größter Wichtigkeit, dass dort Beschlüsse gefasst werden, welche uns einmal den Frieden erhalten und zum anderen die Frage der Einheit Deutschlands näherbringen würden.«
Teilweise wird zum Ausdruck gebracht, dass sich durch die Nichtbeteiligung der Westmächte die Lage nicht entspannen wird, weil sich dadurch deutlich zwei Kräftegruppierungen abzeichnen. In diesem Zusammenhang wird auch zur Aufstellung Nationaler Streitkräfte in der DDR Stellung genommen. Zum Beispiel wurde in Ärztekreisen in Quedlinburg wie folgt diskutiert: »Nachdem die Westmächte, führend die Kreise der USA und ihre Anhänger, nicht gewillt sind, an der Konferenz in Moskau teilzunehmen, zeichnen31 sich deutlich Maßnahmen, die in Moskau getroffen werden, ab, wodurch die Beziehungen der Oststaaten zu den Weststaaten voraussichtlich zu weiteren Spannungen führen werden.«
Ein Planungsleiter (SED) aus dem VEB Glaswerk in Schmiedefeld, [Kreis] Ilmenau, [Bezirk] Suhl: »Dadurch, dass die Westmächte nicht an der Konferenz teilnehmen, werden sich zwei Kräftegruppen bilden und wenn die Remilitarisierung durchgeführt wird, sind auch wir gezwungen, stärkere Kräfte aufzustellen. Dadurch wird dann die Verständigung der beiden Teile Deutschlands erschwert.«
Eine Angestellte vom Rat des Kreises Zeitz, Abteilung Planung: »Es ist richtig, wenn die Bonner und Pariser Verträge ratifiziert werden,32 dass wir dann unsere Nationalen Streitkräfte verstärken. Ich halte es aber für eine Pflicht, alles zu tun, damit die Verträge nicht ratifiziert werden, denn dadurch wird eine Zuspitzung der internationalen Lage eintreten.«
Negative Äußerungen sind nur vereinzelt, kommen aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung und enthalten die verschiedenartigsten Argumente. Zum Beispiel sagte ein Techniker (SED) aus der Abteilung Technologie der Rathenower Optischen Werke, [Bezirk] Potsdam: »Die SU soll doch mit gutem Beispiel vorangehen und die Truppen abziehen, dann sieht die Bevölkerung bei uns den guten Willen der SU und wird mehr für die Vorschläge der SU eintreten und das würde sich auch auf die westdeutsche Bevölkerung auswirken«.
Ein Arbeiter aus dem VEB RFT-Glühlampenwerk Eisenach (SED): »In Moskau, diese Konferenz wird nicht weit her sein, weil viele Staaten nicht erschienen sind, weil sie genau die Taktik der ›Russen‹ kennen. Gerade er hat eine verkehrte Politik betrieben. Heute hat er zu büßen. Eines steht fest, auch bei uns wird es bestimmt eine neue Wehrmacht geben.«
Ein werktätiger Bauer aus Kränzlin, [Kreis] Neuruppin, [Bezirk] Potsdam: »Die SU will nur versuchen, die Stärkung des Westens zu verhindern, um eines Tages auch Westdeutschland in seine Pläne mit einzubeziehen.«
Ein Großbauer aus Protzen im gleichen Kreis: »Sie schreiben viel von der Wiederbewaffnung in Westdeutschland und haben doch bei uns auch die KVP mit Panzern und schweren Geschützen ausgerüstet.33 Die Wiedervereinigung könnte sehr schnell hergestellt werden, wenn die Sowjets ›freie Wahlen‹ zulassen würden, denn die Wahlen am 17. Oktober [1954] waren doch nicht frei.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Planeta Radebeul, [Kreis] Dresden: »Wir wissen schon, warum die in Moskau zusammenkommen. Sie wollen bloß für die DDR die Aufrüstung beschließen. Sie selbst sind ja diejenigen, die den Westen immerfort reizen.«