Zur Beurteilung der Situation in der DDR
9. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2387 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Moskauer Konferenz steht nach wie vor im Mittelpunkt der Diskussionen über politische Tagesfragen.1 Jedoch haben sich umfangmäßig und inhaltlich keine Veränderungen gegenüber dem Vortage ergeben. Nur wenig wird über den Verbotsprozess der KPD diskutiert.2 Meist sind die Gespräche positiv. Selten werden uns negative Diskussionen bekannt. Ein Lehrling vom VEB Gummiwerk Riesa, [Bezirk] Dresden: »Sämtliche Protestbewegungen, die in der DDR gegen das Verbot der KPD gestartet werden, nützen doch nichts. Es hat sich bisher immer gezeigt, dass die KPD in Westdeutschland bei Versammlungen oder auch bei Sitzungen im Bundestag störend aufgetreten ist. Aus diesem Grunde steht jeder Staatsmacht frei, diejenigen Organisationen zu verbieten, die sich der herrschenden Staatsmacht feindlich gegenüberstellen. Das Gleiche trifft auch für das Verbot der FDJ zu.«3
In vielen Betrieben diskutiert man über die Auszahlung der Weihnachtsgratifikation. Größtenteils ist der Beschluss des Ministerrates von den Werktätigen mit Freude aufgenommen worden.4 Ein Arbeiter vom VEB Ziegelwerk Gransee, [Bezirk] Potsdam: »Hier zeigt sich doch ganz klar, dass wir unserer Regierung Vertrauen schenken können, denn sie tut doch alles, um unseren Menschen zu helfen. Uns ist es dadurch wieder möglich, entsprechend der Weihnachtszuwendung unseren Weihnachtstisch reicher zu decken.«
Teilweise ist man jedoch mit der Höhe im Vergleich zum Jahre 1953 nicht ganz einverstanden, wobei man zum Ausdruck bringt, dass es jedes Jahr weniger gibt. Einige Werktätige sind der Meinung, dass die Grenze bis zu DM 500 zu niedrig ist. Ein Arbeiter vom VEB Getriebewerk Leipzig äußerte: »Das wird immer weniger, erst gab es 40,00 DM und jetzt nur noch DM 35,00.5 Es dauert nicht mehr lange, und wir bekommen überhaupt nichts mehr.«
Im VEB Oberlausitzer Glaswerk, Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, diskutiert man in der Form, dass mit der Festlegung der 500-DM-Grenze die fleißigen Arbeiter, die über diese Summe hinausverdienen, nichts bekommen würden, während die Bummelanten und faulen Arbeiter die Grenze nicht erreicht haben und damit in den Genuss der Weihnachtszuwendungen kommen. Ähnliche Diskussionen treten im VEB Glaswerk Annahütte, Kreis Senftenberg, [Bezirk] Cottbus, auf.
Ein Arbeiter vom Gummiwerk Elbe [Piesteritz, Kreis] Wittenberg, [Bezirk] Halle: »Im vorigem Jahr bekamen wir 40,00 DM. In diesem Jahr bekommen wir nur 35,00. Die 5,00 DM sind bereits für die Volksarmee.«
Im Stickstoffwerk Piesteritz, Kreis Wittenberg, [Bezirk] Halle, spricht man kaum noch über die Deklaration der Moskauer Konferenz. Die Hauptdiskussionen sind die Weihnachtszuwendungen. Man ist mit der Anordnung nicht einverstanden, dass die Arbeiter mit einem Verdienst über DM 500 keine Zuwendung erhalten. Im Karbidofenhaus diskutieren die Arbeiter wie folgt: »Wir müssen sonntags arbeiten, wir arbeiten zu Weihnachten und Neujahr und erhalten keine Zuwendungen. Die anderen, die sich gemütliche Feiertage machen, bekommen dann noch das Geld. Wir fordern, dass auch wir diese Zuwendung erhalten.«
Im Stahlwerk Silbitz, [Kreis] Eisenberg, [Bezirk] Gera, wird folgende Nachricht verbreitet: »Der Frankfurter Sender6 hat bekanntgegeben, dass es in Westdeutschland an Weihnachtsgeldern für Verheiratete DM 80,00, für Ledige 60,00 und für jedes Kind DM 20,00 gibt.«7
Kohlenmangel
Im VEB Frottierweberei Großschönau, [Kreis] Zittau, [Bezirk] Dresden, ist großer Kohlenmangel zu verzeichnen, da im Laufe der letzten Monate die Brikettzuteilung von 80 auf 20 Tonnen reduziert wurde.
Im VEB Zellstoffwerk Pirna und Heidenau, Kreis Pirna, [Bezirk] Dresden, besteht weiterhin Kohlenmangel. Die zugesicherten Lieferungen gehen nur schleppend ein. Der Kohlenvorrat reicht nur noch für zwei Tage.
Waggonmangel
Im VEB Glaswerk Coswig, [Kreis] Meißen, [Bezirk] Dresden, lagern 620 Tonnen Fertigwaren, die wegen schlechter Waggongestellung nicht ausgeliefert werden können. Der Betrieb erhält laufend Mahnungen der Konservenfabriken, da dort die Gläser knapp sind und Stillstand der Produktion bevorsteht.
Im VEB Plattenwerk Coswig8 lagern ebenfalls 85 Tonnen Fertigwaren, für die kein Transportraum vorhanden ist.
Handel und Versorgung
Als besonderer Mangel zeigt sich weiterhin die teilweise unzureichende Versorgung mit Weihnachtsbedarf. So fehlt es z. B. in allen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt immer noch an Zutaten für die Weihnachtsbäckerei und in einigen Kreisen an HO-Butter.
Im Bezirk Cottbus sind Apfelsinen und Zitronen nur in geringen Mengen vorhanden. Im Kreis Eisenberg, [Bezirk] Suhl,9 fehlen Sultaninen, Mandeln und Zitronat.
Des Öfteren wird auch die ungenügende Versorgung bzw. die mangelhafte Auswahl an Textilien einer Kritik unterzogen. Hauptsächlich fehlt es an Bettwäsche, Kinderwintermänteln, Damenkleidern und Möbelbezugsstoffen sowie Baumwollwaren. Ursache ist oft die Nichteinhaltung der Liefertermine durch die Produktionsbetriebe. Diese Mängel treten zzt. besonders in den Bezirken Magdeburg, Halle und Karl-Marx-Stadt auf.
Der Mangel an Glühbirnen macht sich zzt. in den Bezirken Schwerin, Karl-Marx-Stadt, Cottbus und Dresden bemerkbar.
Landwirtschaft
Im Vordergrund der politischen Diskussionen steht nach wie vor die Moskauer Konferenz, zu der hauptsächlich in den MTS und LPG in Bezug auf die Nationalen Streitkräfte Stellung genommen wird.
Zum 21. Plenum des ZK wird nur wenig,10 jedoch ebenfalls vorwiegend in den MTS und LPG diskutiert, wobei hauptsächlich auf die bestehenden Mängel hingewiesen wird. So erklärte z. B. ein Genossenschaftsbauer aus Glasow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Dass wir durch die Festigung unserer Wirtschaft die Feinde schlagen und somit an der Schaffung der Einheit Deutschlands mithelfen.« Außerdem verpflichtete er sich, anlässlich des 21. Plenums des ZK neue Mitglieder für die LPG zu werben. Bisher hat er bereits drei neue Mitglieder geworben.
In der MTS Winningen, Kreis Aschersleben, [Bezirk] Halle, diskutiert man sehr lebhaft zum 21. Plenum. Ein Kollege erklärte: »Bisher wurde in Bezug auf die Maschinenpflege nicht richtig gehandelt. Es müsste hier eine Klärung herbeigeführt werden, dass jeder, der seine Maschine gut pflegt und die eingeplanten Reparaturkosten nicht braucht, eine kleine Anerkennung bekommt, die den Kollegen anspornt, noch besser und rentabler zu arbeiten.«
In der LPG Wessin, [Kreis] Schwerin, fand eine Versammlung zur Auswertung des 21. Plenums statt, in der einige Mitglieder besonders die schlechte Arbeitsdisziplin kritisierten. Des Weiteren wurde die ungenügende Unterstützung der MTS des Patenbetriebes11 Schweriner Holzwerke und des Rates des Kreises Schwerin einer Kritik unterzogen.
In der LPG Groß Görnow, [Bezirk] Schwerin, wird unter den Genossenschaftsbauern diskutiert, dass die Fleischlieferungen auf freie Spitzen im kommendem Jahr zusätzlich zum Soll gerechnet werden sollen.12 Die Ursache zu dieser Diskussion gab ein Zootechnicker, der dieses Gerücht dort verbreitete. Die Bauern antworteten darauf: »Wir werden nur noch so viel arbeiten, wie wir zum Leben brauchen.«
In der MTS Mustin, [Bezirk] Schwerin, wurden die Zusammenarbeit des Polit- und Betriebsleiters und die ungenügende Unterstützung durch den Bürgermeister kritisiert. Die werktätigen Bauern sagten, dass die MTS ihre Verträge nicht eingehalten hat und sie gezwungen sind, im kommenden Jahr ihre Felder mit eigenen Pferden zu bearbeiten. Ein Mittelbauer sagte hierzu: »Ich schaffe mir zwei Pferde an und arbeite für mich selber, dann habe ich keinen Zeitverlust und kann meinen Verpflichtungen der Regierung gegenüber nachkommen.«
Über die Weihnachtsgratifikation spricht man meist positiv. Vereinzelt bemängelt man die Höhe der Zuwendungen und zieht Vergleiche mit den vorjährigen und weiter zurückliegenden Weihnachtsgratifikationen. Der Heizer der MTS-Spezialwerkstatt in Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, äußerte sich wie folgt: »Die Weihnachtsgratifikation ist viel zu niedrig. Im vorigen Jahr gab es DM 40,00, diesmal gibt es nur DM 35,00. Die Betriebe müssten wenigstens einen Monatslohn ausgeben, denn es kommt doch genug Geld durch den Abzug von Lohnsteuern ein. Früher beim Privatbesitzer war es bedeutend besser, denn der hat zu Weihnachten mehr gegeben.« Ähnlich diskutiert man vereinzelt in anderen Gemeinden des Bezirkes Potsdam.
Der verstärkte Viehauftrieb hält stellenweise weiter an, wodurch oft Stockungen infolge der unzureichenden Kapazität der Schlachthöfe und wegen Absatzschwierigkeiten verursacht, bzw. Fehlentscheidungen getroffen werden, wie z. B. im Bezirk Dresden. Hier wurden z. B. durch die VEAB 13 000 Schweine und 2 000 Rinder erfasst und aufgekauft, die infolge von Aufnahmeschwierigkeiten der Schlachthöfe noch in den bäuerlichen Wirtschaften stehen. Es ist deshalb unverständlich, dass die Regierung den Bezirk Suhl angewiesen hat, mehrere Hundert Tonnen Fleisch nach dem Bezirk Dresden zu liefern. Der Bezirk Dresden jedoch erhielt von der Regierung die Anweisung, 300 Tonnen Fleisch an den Bezirk Potsdam abzugeben. Nach erfolgter Rücksprache wurde durch den Bezirk Potsdam erklärt, dass dieser Bezirk mit Fleisch überfüllt ist und die Annahme dieser 300 Tonnen wurde verweigert.
Im Bezirk Potsdam ist ebenfalls ein verstärkter Viehauftrieb zu verzeichnen und es ergeben sich dort Schwierigkeiten in der unzureichenden Absatzmöglichkeit und für die Unterbringung des Viehs. Im Schlachthof Rathenow z. B. ist die Viehanlieferung derart gestiegen, dass der Schlachthof nicht in der Lage ist, das Vieh zu verarbeiten, trotzdem täglich Überstunden und Sonderschichten geleistet werden. Das Vieh wird in behelfsmäßigen Unterkünften meistenteils im Freien untergebracht, wo es mitunter über sechs Tage bis an die Knöchel im Schlamm steht. Dadurch entstehen große Gewichtsverluste und Verstöße gegen die Seuchenbestimmung. Der Schlachthausdirektor sagt, dass die Viehanlieferung nicht so planlos durchgeführt worden wäre, wenn man darauf achten würde, dass die Bauern nicht bis zur letzten Erfassungsaktion warten, um Prämien zu erhalten, zumal vor einiger Zeit der Schlachthof nicht genug Arbeit hatte.
Aus dem Bezirk Cottbus kommen Klagen der bäuerlichen Bevölkerung aus verschiedenen Kreisen über die unzureichende Versorgung mit Hausbrand. So fehlen z. B. in der Gemeinde Klöden, Kreis Jessen, 229 Tonnen Briketts und 403 Tonnen Rohkohle. Im Kreis Cottbus werden besonders die Gemeinden Kahren, Koppatz, Kiekebusch und Branitz sehr schlecht mit Kohlen versorgt. Der BHG-Leiter aus Kahren sagte, dass ihm Äußerungen der werktätigen Bauern bekannt wurden, dass diese bei einem weiteren Ausbleiben der Kohlenlieferungen eine Demonstration durchzuführen beabsichtigen, weil sie der Meinung sind, dass die mangelhafte Belieferung eine Sabotage der oberen Verwaltungsstellen ist.
Übrige Bevölkerung
Bei den unter der übrigen Bevölkerung in nur geringem Maße geführten Diskussionen über politische Probleme steht die Behandlung der Moskauer Deklaration im Mittelpunkt. Im Vordergrund der Diskussionen stehen aber vorwiegend wirtschaftliche Fragen.
In Naumburg, [Bezirk] Halle, wurde von den Käufern in einer Verkaufsstelle geäußert, dass die Preise in Textilien gestiegen sind, zum Teil sogar um die Hälfte bei gleichbleibender Qualität. Die Verkäuferinnen antworten nur mit einem Achselzucken.
Im Kreis Pößneck, [Bezirk] Gera, wird die schlechte Qualität der jetzt gelieferten Kühlhauseier kritisiert. Da Reklamationen nur innerhalb von 24 Stunden möglich sind, bekommen die Käufer schlechte Eier oftmals nicht ersetzt, da sie erst später feststellen, dass die Eier schlecht sind. Da die Eier oft den Stempel vom April 1954 trugen, kam es zu Diskussionen, dass es im April keine Eier zu kaufen gab und dass diese erst schlecht werden mussten, ehe sie jetzt verkauft werden.
Ein Angestellter vom Rat des Bezirkes Halle – Abteilung Planung – sagte, dass es ihm unerklärlich ist, dass die Zeitungen ständig über die Verbesserung der Lebenslage schreiben, aber wenn man genauer hinsähe, dann sei nichts da. Dies würde nur eine Verärgerung der Bevölkerung nach sich ziehen.
Vonseiten der Handwerker wird über ungenügende Zuteilung von Gewerbekohle geklagt. Zum Beispiel äußerte die Inhaberin eines Friseurgeschäftes in Prenzlauer Berg, Groß-Berlin, dass die Presse ständig schreibe, wie den Handwerkern geholfen werde, doch sie merke davon nichts. Sie bekäme z. B. keine Gewerbekohle mehr, müsse deshalb die für den Haushalt erhaltene Kohle im Geschäft verbrauchen und eine kalte Parterrewohnung bewohnen. Desgleichen äußerten ein Schuhmachermeister, ein Uhrmachermeister und ein Papierwarenhändler aus Treptow, dass sie jetzt keine Gewerbekohle mehr erhalten. Sie finden diese Maßnahme für ungerecht, da die VEB auch geheizt würden.
Aus dem Kreis Guben, [Bezirk] Cottbus, wird berichtet, dass die Handwerker darüber Klage führen, nicht genügend mit Brennstoffen beliefert zu werden. Sie hätten z. B. noch keine Brikettzuteilung erhalten. Weiterhin wird in diesen Kreisen die Meinung vertreten, dass es nicht richtig sei, dass sie jetzt aus dem FDGB ausgeschlossen werden. Das hätte man bereits 1945 wissen können.
In der Abteilung Schulmusik der Hochschule für Musik in Weimar wurde gegen den Unterricht in Gesellschaftswissenschaft13 und zur Erlernung der russischen Sprache Stellung genommen. In einer Vollversammlung am 3.12.[1954] wurde der Sekretär für Kultur der SED-Kreisleitung Weimar, der zu dieser Frage Stellung nahm, laufend unterbrochen. In der gleichen Versammlung wurde auch gegen Professoren und Dozenten Stellung genommen.
Am 3.12.1954 fand in der Hans-Löscher-Schule in Magdeburg eine Elternversammlung statt, auf der die Rechenschaftslegung durch den Vorsitzenden des Elternbeirates erfolgte. Als in dem Referat auch zu der gegenwärtigen politischen Lage Stellung genommen wurde, entstand Unruhe im Saal und es wurden Stimmen laut, wie z. B.: »Wir gehen nie wieder zu einer Versammlung, da man ja hier das Gleiche hört, wie den ganzen Tag im Radio« und »Das stimmt ja gar nicht! Geht doch erst mal rüber nach dem Westen, und überzeugt euch, was die Kinder dort in der Schule bekommen, zum Beispiel Milch u. a.« Bei dem Vorschlag, eine Resolution gegen das Verbot der KPD anzunehmen, verließ ein Teil der Anwesenden die Versammlung und bei der Abstimmung enthielten sich viele der Stimme.
In einer Fleischerei in Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, tauchte das Gerücht auf, dass ab 1. Januar 1955 sämtliche Lebensmittelkarten wegfallen.
In der Stadt Cottbus kursiert das Gerücht, dass ein Teil Eisenbahner vor allem deshalb republikflüchtig wird, um nach einer gewissen Zeit bei der Rückkehr in bessere Wohnverhältnisse zu gelangen.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverbreitung
SPD-Ostbüro:14 Halle 1 500, Potsdam 300, Karl-Marx-Stadt 27, Gera, Wismutgebiet,15 Neubrandenburg und Dresden einzelne.
KgU:16 Schwerin, Kreis Bützow, 1 000 (Hetze gegen die DDR), Karl-Marx-Stadt 60, Berlin 60, Wismutgebiet und Dresden einzelne.
FDP: Potsdam 300 (Verherrlichung der Londoner Verträge17).
NTS:18 Potsdam, Kreis Kyritz, 5 000, Dresden und Wismutgebiet einige.
In tschechischer Spr[ache]: Dresden 110.
Unbek[annter] Herk[unft]: Berlin-Köpenick 4 000 (gebündelt).
Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde mit Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Am 1.12.1954 wurden in einem Abort im VEB IKA Suhl19 Zettel gefunden, auf denen folgender Text stand: »Arbeiter, aufpassen, Weihnachtsgeschenk, Streik.«20
Am 8.12.1954 wurde von einem Arbeiter der Abteilung Pressluft in einem Abort des VEB Thälmann-Werkes Suhl ein Blatt mit der Aufschrift: »Bis Neujahr 1955 liegt das Werk in Trümmern« gefunden.
Terror: Am 7.12.1954 wurde in dem Wohnhaus des sowjetischen Kommandanten in Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, auf dem Kohlenhaufen in der Heizung des Hauses in einem Brikett eine Flasche (0,2 Liter) gefunden, die mit schwarzen Perlen gefüllt war. Es handelt sich vermutlich um Schwarzpulver, da sich bei der Brennprobe eine starke Stichflamme zeigte.
Diversion: Am 6.12.1954 wurden in dem VEB Leipziger Gummiwarenfabrik im vorbereiteten Rohmaterial Fremdkörper wie Nägel, Schrauben, Unterlegschrauben usw. gefunden. Das Rohmaterial ging vorher durch eine Siebanlage.
Im VEB Porzellanwerk Neuhaus-Schierschnitz, [Bezirk] Suhl, wurden in letzter Zeit in der Porzellanmasse für Elektrogroßkörper mehrmals Eisenspäne gefunden. Dadurch ist die Porzellanmasse nicht mehr verwendungsfähig. Bisheriger Schaden ca. 136 000 Mark.
Die MTS Kamenz, [Bezirk] Dresden, erhielt von der Minol Bautzen21 ein Fass Motorenöl, in welchem Eisenspäne enthalten waren.
Antidemokratische Tätigkeit
An verschiedene Gebäude in Dahme, Kreis Luckau, [Bezirk] Cottbus, wurden von unbekannten Tätern handgeschriebene Zettel mit dem Text »Bringt Euch in Sicherheit« angeklebt.
Am 6.12.1954 wurde auf der MTS Rerik, [Bezirk] Rostock, ein Hakenkreuz an der Toilette angeschmiert.
Im Raum des Rangier-Personals von dem Bahnhof Riesa wurde die Deklaration der Moskauer Konferenz von unbekannten Tätern heruntergerissen.
Gefälschter Anruf: Die Verkaufsstelle der HO Wismut, Dresden, Karlsruher Straße erhielt folgende telefonische Mitteilung: »Hasen werden erst Ende Jan. 1955 geliefert. Bei Gänsen werden nur 10 Prozent der Bestellungen geliefert. Kaninchen sind genügend vorhanden. Wegen des warmen Wetters können keine Gänse importiert werden. Die Kundschaft ist durch einen Aushang im Geschäft davon in Kenntnis zu setzen.« Die Überprüfung ergab, dass Gänse in ausreichender Menge vorhanden sind.
Anlage 1 vom 9. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2387
Stellungnahmen der Landbevölkerung zur Moskauer Konferenz
Unter der Landbevölkerung wird verhältnismäßig wenig zu diesem Problem Stellung genommen. Vorwiegend werden die Diskussionen darüber im sozialistischen Sektor geführt. Im Allgemeinen – auch in den Kurzversammlungen der MT-Stationen – wird größtenteils zur Frage der Sicherheitsmaßnahmen, die sich im Falle der Ratifizierung der Pariser Verträge für die DDR notwendig machen würden, Stellung genommen. Von einem geringen Teil wird zum Ausdruck gebracht, dass jetzt alles getan werden muss – wie das auch in der Deklaration zum Ausdruck kommt –, um die Pariser Verträge zunichtezumachen. So sagte z. B. ein Bauer aus Dobbin, [Bezirk] Schwerin: »Für mich ist die Deklaration eine Friedensbotschaft. Wir wissen, dass die Kriegstreiber ein neues Völkermorden entfachen wollen und wir werden deshalb keine Mühe scheuen, dies zu verhindern.«
Ein LPG-Mitglied aus Demmin, [Bezirk] Schwerin: »Ich begrüße die Deklaration und verspreche mir viel davon. Unsere Aufgabe muss es jetzt sein, recht viele Menschen für den Kampf gegen die Pariser Pläne zu gewinnen, damit uns der Frieden erhalten bleibt und die Einheit Deutschlands Wirklichkeit wird.«
Ein Landarbeiter aus Hartmannsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Moskauer Verhandlungen haben wiederum gezeigt, wer an der Erhaltung des Friedens interessiert ist. Die Vorschläge der SU zur kollektiven Sicherheit in Europa sind nur zu begrüßen. Es muss alles getan werden, was zur Erhaltung des Friedens möglich ist.«
Zum anderen kommt es zu Äußerungen, wie z. B., dass man die Notwendigkeit der Aufstellung Nationaler Streitkräfte einsieht, wenn es zur Ratifizierung der Pariser Pläne kommen sollte. Diese Stimmen sind aber vereinzelt. Zum Beispiel sagte ein Angestellter vom Forschungsinstitut für Tierseuchen auf der Insel Riems,22 [Bezirk] Rostock: »Ich habe keine Lust, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, aber wenn der Ami es wagen sollte, uns anzugreifen, dann würde auch ich meine Pflicht tun. Unser Arbeiter- und Bauernstaat brauchte dann jeden.«
Ein Mitglied der LPG Dahlen, [Bezirk] Leipzig: »Die Konferenz in Moskau hat wieder bewiesen, wer den Frieden will. Meine Meinung ist, dass wir den Kriegsvorbereitungen der Adenauer-Clique23 nicht tatenlos zusehen können. Wir müssen auch Maßnahmen treffen, um unsere Errungenschaften zu schützen.«
Ein Arbeiter der MTS in Gröbern,24 [Bezirk] Leipzig: »Wenn die Pariser Verträge ratifiziert werden, müssen wir unbedingt Nationale Streitkräfte aufstellen. Dies kommt auch in der Deklaration klar zum Ausdruck und kann nur begrüßt werden.«
Ein größerer Teil nimmt zu diesen Fragen eine ablehnende Haltung ein. Darunter vielfach Traktoristen. Es wird immer wieder betont, dass sie nichts von Wehrdienst wissen wollen und keine Waffe in die Hand nehmen würden. Diese Äußerungen lassen die vielfach bestehenden Unklarheiten in der Frage Nationaler Streitkräfte erkennen. So erklärte zum Beispiel ein Oberbuchhalter von der MTS Ebersdorf, [Bezirk] Gera: »Wir sind für den Frieden und fassen deshalb keine Waffe wieder an.«
Ein Traktorist aus Trebnitz, [Bezirk] Frankfurt: »Nie wieder Krieg, mich kriegt keiner in den Waffenrock. Lieber einen Monat verhandeln, als einen Tag Krieg. Lieber ein Jahr Treckerfahren, als einen Tag Panzerfahren. Von mir aus könnten alle Panzer verschrottet werden.«
Eine Landarbeiterin von einem VEG im Kreis Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg: »Die ganzen Jahre hat man jetzt gepredigt, dass kein Militär wieder aufgestellt werden soll und jetzt sprechen sie von der Aufstellung Nationaler Streitkräfte.«
Einige Traktoristen der MTS Daskow, [Bezirk] Rostock: »Wenn bei uns die Wehrpflicht eingeführt werden sollte, so wird es das Beste sein, nach dem Westen zu gehen.«
Zum anderen kommt es auch zu Äußerungen, aus denen hervorgeht, dass angenommen wird, ein neuer Krieg stünde unmittelbar bevor. So diskutierten z. B. einige Bauern der Gemeinde Schönhöhe, [Bezirk] Cottbus: »Wenn in der DDR Nationale Streitkräfte aufgestellt werden, rückt der Krieg näher. Die internationale Lage würde sich dadurch nicht entspannen, sondern verschärfen.«
In einer DBD-Versammlung in Kyritz, [Bezirk] Potsdam, wurde von mehreren Anwesenden zum Ausdruck gebracht, dass alles Sparen keinen Zweck mehr habe, da früher oder später doch mit einem Krieg zu rechnen sei. Ein Buchhalter einer MTS im Kreis Lobenstein, [Bezirk] Gera: »Vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und auch jetzt wieder wurde und wird nur immer vom Frieden gesprochen. Dabei ist es so, dass es bald wieder krachen wird.«
Offen feindliche Stimmen sind nur vereinzelt und enthalten die verschiedenartigsten Argumente. Zum Beispiel sagte ein Traktorist vom VEG Plauerhof, [Kreis] Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Wie kann ein Staat, wie die SU, vom Frieden sprechen, wenn er andere Länder besetzt hält. Auf der Moskauer Konferenz wurde vom Frieden gesprochen und andererseits soll aufgerüstet werden. Unser Vaterland zu spalten, war für die Siegerstaaten eine Kleinigkeit. Aber es wieder zu vereinigen, das bringt keiner fertig.«
Eine Landarbeiterin von dem ÖLB Grunow, [Bezirk] Frankfurt: »Die Beratungen in Moskau waren nutzlos. Wir können nichts daran ändern, wenn die Großen bestimmen, müssen auch diesmal unsere Männer in den Krieg ziehen.«
In einer Kurzversammlung in der MTS Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, kam es zu mehreren negativen Äußerungen. Unter anderem wurde von einem Kollegen die Frage gestellt, ob es jetzt schon in der DDR Soldaten und Truppenübungsplätze gäbe. Der Parteisekretär wich dieser Frage aus und sagte, dass er darüber nicht unterrichtet sei. Eine Genossin antwortete darauf, dass wir eine KVP haben und dass diese auch Übungsplätze brauche.25 Der Fragesteller erwiderte darauf, dass es bei uns genauso wie im Westen sei.
Der Sohn eines Großbauern aus Hohenwalde, [Bezirk] Frankfurt: »Bei uns soll also eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden. Dann wird es genau wieder so wie bei Hitler.«
Ein Großbauer aus Stremmen, [Bezirk] Frankfurt: »Es kommt bald wieder die Zeit, wo die jetzigen Herren ausgespielt haben. Das dauert bestimmt nicht mehr lange, dann sind wir wieder die Herren.«
Anlage 2 vom 9. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2387
Stellungnahmen zur Moskauer Konferenz
Weiterhin steht im Mittelpunkt der politischen Gespräche die Moskauer Konferenz in Verbindung mit der Deklaration. Zur Popularisierung der Deklaration fanden weiterhin in den Betrieben, Verwaltungen sowie Haus- und Hofgemeinschaften Versammlungen statt. In zahlreichen Städten wurden Kundgebungen durchgeführt, die allgemein eine gute Beteiligung aufwiesen. Zum Beispiel nahmen in Lauchhammer 10 000 Personen, in Senftenberg 2 000, in Burg 5 000 und in Stralsund 10 000 Personen teil.
In den Diskussionen über die Deklaration wird verhältnismäßig wenig dazu Stellung genommen, dass jetzt die Hauptaufgabe darin besteht, alles zur Verhinderung der Pariser Verträge zu tun. Es wird weit mehr über die Aufstellung Nationaler Streitkräfte gesprochen und zwar so, als ob dies unmittelbar bevorstünde. Fortschrittliche Kräfte erklären, dass es richtig sei, zur gegebenen Zeit Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, da es dem Feind nicht gelingen darf, unsere Errungenschaften zu vernichten. Von einem weit größeren Teil – meist Arbeitern – wird zum Ausdruck gebracht, dass sie zwar für den Frieden sind und vom Krieg nichts mehr wissen wollen, aber nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen würden. Sie sind gegen die Aufstellung Nationaler Streitkräfte. Ihre Argumente sind, dass in der DDR immer gesagt wurde: Nie wieder eine Wehrmacht aufzubauen, keiner sollte wieder ein Gewehr in die Hand nehmen und immer wird die Remilitarisierung in Westdeutschland verurteilt.
Die Diskussionen lassen erkennen, dass die Ablehnung der Nationalen Streitkräfte zum größten Teil auf die Unklarheiten, die in diesen Fragen bestehen, zurückzuführen sind. Zum Beispiel sagte ein Autoschlosser aus Langenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin nicht gegen die DDR. Ich möchte aber nicht zu einer neuen Wehrmacht einberufen werden. Ich will in Ruhe und Frieden leben. Wenn ich einen Gestellungsbefehl erhalte, so stecke ich ihn sofort in den Ofen.«
Ein Schlosser aus dem VEB Kunstlederfabrik Tannenbergsthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Hier in der Schlosserei sind wir uns alle einig. Von uns greift keiner mehr ein Gewehr an, auch nicht bei Ausbruch eines Krieges.«
Ein Kraftfahrer von der HO Wismut in Johanngeorgenstadt: »Für mich kommt eine Einberufung überhaupt nicht infrage, und würde man auch gleich Zwang anwenden. Ich ließ mich lieber zu Haus über den Haufen knallen. Schließlich ist es ja egal, ob ich in der Wohnung krepiere oder mich irgendein paar Wochen später von einer Granate zerfetzen lasse.«
Ein Sanitäter vom Objekt Aue (Wismut): »Die Kumpels grüßen nicht mehr mit ›Glück auf‹, sondern legen die Hand an die Mütze und sagen ›ohne mich‹.«
In der Hydrierung der Leuna-Werke »Walter Ulbricht« wurde eine Versammlung durchgeführt, in der nicht einer der 170 anwesenden Arbeiter zur Diskussion sprach. Der Parteisekretär erklärt sich das so, dass die Jugendlichen für nichts Interesse haben und die älteren Kollegen, die schon einmal im Kriege waren, keine Waffe mehr in die Hand nehmen wollen.
Ein Eisenbahner aus Frankfurt: »Wenn jetzt in der DDR nach der Moskauer Deklaration Nationale Streitkräfte aufgestellt werden, dann gehe ich nicht. Lieber lasse ich mich an die Wand stellen.«
Besonders unter den Jugendlichen wird über die Aufstellung Nationaler Streitkräfte diskutiert. Dabei zeigt sich, dass vielfach falsche Auffassungen darüber bestehen und dass es dadurch zu negativen Äußerungen kommt. Ein Jugendlicher von der MTS Großraschütz, [Kreis] Großenhain, [Bezirk] Dresden: »Wenn ich einen Gestellungsbefehl erhalte, der wird gleich vernichtet. Ich will meine Ruhe haben. Wer es nötig hat, Krieg zu führen, der mag sich auch in die Schützengräben legen.«
Ein Jugendlicher aus Langenchursdorf,26 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich werde meine Haut nicht zu Markte tragen. Ich werde mich rechtzeitig absetzen, wenn eine Einberufung kommen sollte.«
Vereinzelt diskutieren auch Genossen der SED in dieser Frage ablehnend und es kommt vor, dass sich Funktionäre in den Betrieben die Diskussionen über die Nationalen Streitkräfte aufdrängen lassen. Das ist z. B. in den Objekten der Wismut in Aue zu verzeichnen. Der Betriebsleiter vom Bau C 19 des Chemischen Werkes Buna (Mitglied der SED): »Es ist nicht notwendig, dass wir Streitkräfte aufstellen. Wir sollten das Geld für andere Dinge verwenden, denn es geht doch kaum vorwärts.«
Ein Angestellter (SED), beschäftigt bei der Reichsbahn in Anklam: »Es wäre besser, wenn wir uns nicht starkmachen würden. Denn ein anständiger Gegner würde ja, wenn er uns angreift, nicht alles vernichten und es würden dann auch nicht so viele Menschen erschossen. Es ist überhaupt eine Schande, dass Deutsche auf Deutsche schießen sollen. Drüben sagt man, wir greifen den Osten nicht an, und hier sagt man, wir greifen den Westen nicht an.«
Ein Genosse aus den Esda-Werken in Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin einer der Ersten, der eingesperrt wird, ich greife kein Gewehr an.«
Ein Genosse aus dem Kirow-Werk Leipzig: »Man darf keine Waffe in die Hand nehmen. So kann der Frieden am besten erhalten werden.«
Von feindlichen Elementen wird diese Situation zur Gerüchteverbreitung benutzt. Diese beinhalten, welche Jahrgänge zuerst eingezogen würden und wann der Zeitpunkt der Einführung der Wehrpflicht zu erwarten sei. Zum Beispiel wird in der Stadt Guben, [Bezirk] Cottbus, das Gerücht verbreitet, dass jetzt die Jahrgänge 1913 einberufen würden.
In der Wagenwerkstatt des RAW Saalfeld, [Bezirk] Gera, wird das Gerücht verbreitet, dass die Pläne für die neue Armee bereits fertig seien und dass ab 1. Januar 1955 alle Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren eingezogen würden.
Zu feindlichen Äußerungen kommt es nur in geringem Maße. Diese Äußerungen enthalten meist Hetze gegen die SU und die DDR. Ein Arbeiter aus dem Schlepperwerk Nordhausen, [Bezirk] Erfurt: »Erst heiß es, wer ein Gewehr in die Hand nimmt, ist ein Kriegsverbrecher. Jetzt machen sie es selbst so. Denen ihre Politik ist doch Mist, sie widersprechen sich dauernd, sie sollen ihren Dreck selbermachen, wir kämpfen nicht gegen unsere Brüder.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Gummiwerk Elastik Gotha: »Es geht doch bloß um die Weltherrschaft. Nur um das zu erreichen, brauchen uns die Russen. Sie sollen lieber daran denken, dass wir Deutsche sind.«
Ein Arbeiter – ebenfalls aus dem Schlepperwerk Nordhausen: »Da sieht man, dass der Russe wieder anfangen will. Jetzt wird das verwirklicht, nämlich die Aufstellung einer Ostarmee, worauf er schon lange abzielt. Die werden sich wundern. Es wird eine Massenflucht aus der DDR einsetzen. Es ist anzunehmen, dass ein neuer 17. Juni [1953] kommen wird.«
Ein Student von der Hochschule für Architektur in Weimar: »Lieber will ich unter dem Kapitalismus unter elenden Verhältnissen leben als unsere Republik zu verteidigen.«
Anlage 3 vom 9. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2387
Stimmung zum Ergebnis der Westberliner Wahlen27
Zum Wahlergebnis wird meist von Arbeitern und Angestellten aus Berlin diskutiert, nur ganz vereinzelt von Kollegen aus der DDR. Es wird immer wieder Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, da man ein besseres Ergebnis für die SED erwartet hatte. Als Ursache hierfür wird von vielen die Möglichkeit des billigen Einkaufs aufgrund des Wechselkurses für Westberliner angesehen und in diesem Zusammenhang Gegenmaßnahmen gefordert. So wird z. B. von verschiedenen Kollegen des VEB Bergmann-Borsig erklärt, dass die meisten Westberliner an einer Änderung der Verhältnisse nicht interessiert sind. Mehrfach wird der Vorschlag gemacht, die Sektorengrenzen zu schließen, um den Westberlinern klarzumachen, wie niedrig der Lebensstandard ist.
Viele Kollegen aus dem VEB Schering schlagen vor, den Westberlinern beim Einkauf bzw. in Gaststätten höhere Summen abzuverlangen oder ihnen gar nichts zu geben.
Ein Teil der Genossen einiger Abteilungen des Präsidiums der Deutschen Volkspolizei sind der Ansicht, »endlich Schluss zu machen mit der Ernährung der Westberliner durch unseren Sektor«. Um zu verhüten, dass eines Tages der Schwindelkurs wegfällt und damit auch das gute Leben der Westberliner, hätten viele die SED nicht gewählt. Einzelne fordern, dass sofort die Sektorengrenzen geschlossen werden.
Einige Kollegen des VEB Werk für Signal- und Sicherungstechnik fordern die Kündigung aller Westberliner Arbeiter und Angestellten in den volkseigenen Betrieben. Man argumentiert dabei: Wenn alle Westberliner Kollegen unsere Kandidaten gewählt hätten, müsste das Ergebnis besser sein. Aber durch den Umtausch verdienen sie fünfmal mehr als wir und deshalb kann die Spaltung noch 1 000 Jahre bestehen.
Einzelne bezweifeln die Richtigkeit der Stimmenauszählung, wie z. B. eine parteilose Angestellte von dem Rat des Kreises Potsdam, die sagte: »Bei dieser Wahl kann es niemals mit rechten Dingen zugegangen sein. Es haben bestimmt mehr Menschen für die SED ihre Stimme gegeben. Aber man hat es ja verstanden, Vertreter der SED von der Auszählung fernzuhalten.«
In geringem Umfange wurden Stimmen geäußert, worin eine gegnerische Einstellung zur DDR bzw. zur SED zum Ausdruck kommt. Arbeiter aus der Halle V und VI des VEB Heinrich Rau in Wildau ([Bezirk] Potsdam) diskutierten über das Wahlergebnis, wobei Folgendes geäußert wurde: »Die SPD konnte nur siegen, weil sie sich nicht an den Osten gebunden hat. Wenn wir uns nicht an Moskau gebunden hätten, wäre die Vereinigung der Arbeiterparteien bald gelöst.« »Die Arbeiter haben deswegen ihre Stimme der SPD gegeben, weil bei uns alles Betrug und Ausbeutung ist. Zum Beispiel wohnen in der Stalinallee nur welche von der Partei oder Intelligenzler, aber keine Arbeiter.«28 »Die SED hat deswegen so schlecht abgeschlossen, weil die Westberliner Arbeiter mit unseren Arbeitsmethoden nicht einverstanden sind und sich nicht ausbeuten lassen. Hier wird erklärt, wir wollen keinen Krieg, aber Grotewohl29 hat gesagt, wir sind dem Westen doch voraus, denn wir haben schon lange eine illegale Armee.«
Im Kunstseidenwerk Premnitz erklärten einige Arbeiter, dass die Westberliner die SPD deshalb gewählt haben, weil sie wissen, dass »hinter der SED der Russe steht«.
Bei einer Diskussion im Kollegium der 9. Schule in Berlin-Treptow zweifelte eine Lehrerin die Mitteilung an, dass Suhr30 und Brandt31 sich für eine Koalition mit der CDU ausgesprochen haben. Auf den Hinweis, dass der RIAS ebenfalls diese Meldung durchgegeben hat, sagte sie: »Ich denke, der RIAS lügt.«
Anlage 4 vom 9. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2387
Stimmung der Belegschaft des VEB Büromaschinenwerk Karl-Marx-Stadt zu ökon[omischen] Fragen32
Man befasst sich gegenwärtig vor allem mit der Kritik des Genossen Walter Ulbricht33 über die Unrentabilität des Betriebes, welche er auf der 21. ZK-Tagung übte.34 Ein Teil der Diskussionen enthält eine gewisse Schadenfreude gegenüber der Werkleitung, insbesondere aber gegenüber dem technischen Leiter.35
Ein großer Teil der Arbeiter fühlt sich aber durch die Ausführungen auf dem 21. Plenum des ZK angesprochen und ist ernsthaft bemüht, diese Mängel zu beseitigen. Es wird jedoch gefordert, dass die Voraussetzungen für einen reibungslosen Produktionsablauf geschaffen werden. Dabei wird das Verhältnis zwischen produktiven und unproduktiven Arbeitskräften kritisiert. Es wird von den Arbeitern nicht verstanden, dass 1 500 Arbeiter in der Produktion 1 000 unproduktive Kräfte mitschleppen müssen. Ein Kollege sagte dazu: »Was nützt es, wenn wir rentabel arbeiten und auf der anderen Seite wieder Posten für unproduktive Kräfte hinzukommen.« Derartige Diskussionen treten in einem größeren Umfange auf.
Weiterhin nimmt die Materialfrage einen breiten Raum der Diskussionen ein. Die Kollegen befürchten, dass bereits im 1. Quartal 1955 wieder Schwierigkeiten in der Materialbeschaffung auftreten werden, da schon jetzt verschiedentlich Engpässe vorhanden sind. Vielen Kollegen ist es unverständlich, dass man die Halbfertigteile, die für das 1. Quartal 1955 bestimmt sind, bereits jetzt in die Produktion nimmt, als Ersatz für den gemachten Ausschuss. Dies muss logischerweise zur Folge haben, dass es zu Produktionsschwierigkeiten im neuen Jahr kommt.
Unter den Angestellten wird ebenfalls über die geübte Kritik des Genossen Walter Ulbricht diskutiert. Zum Teil werden Befürchtungen laut, dass durch die Veröffentlichung in der Presse das Ansehen des Betriebes geschädigt wird. So sagte z. B. ein Genosse von der Abteilung Planung: »Das wird uns allerhand Schlappen bringen, denn das kapitalistische Ausland wird dies ausnützen.«
In den Kreisen der technischen Intelligenz werden ebenfalls Diskussionen hinsichtlich der Rentabilität des Betriebes geführt. Auch hier tritt verschiedentlich die Meinung auf, dass die Kritik dem Absatz der Maschinen schaden könne. Ein Konstrukteur erklärte z. B.: »Ich kann nicht recht verstehen, dass man die an unserem Betrieb geübte Kritik überall veröffentlicht. Es liegt doch nahe, dass diese Veröffentlichung bei der in- und ausländischen Konkurrenz einen verächtlichen Widerhall findet, was eventuell ein Zurückziehen unserer Exportaufträge zur Folge haben kann.«
Andererseits werden von der technischen Intelligenz große Bemühungen gemacht, die bestehenden Mängel zu beheben. Ein Jungingenieur, und ihm stimmten einige seiner Kollegen vom Konstruktionsbüro zu, sagte z. B.: »Durch diese Veröffentlichung fühle auch ich mich angesprochen und ich verpflichte mich deshalb, meine ganze Kraft dafür einzusetzen, dass die bestehenden Mängel schnellstens behoben werden.«