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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

11. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2389 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Noch immer steht die Moskauer Konferenz im Mittelpunkt der Diskussion über politische Tagesfragen.1 Zum Verbotsprozess gegen die KPD wird nur wenig gesprochen,2 meist positiv. Dabei wird teilweise zum Ausdruck gebracht, dass Adenauer3 denselben Weg geht wie 1933 Hitler.

Ein großer Teil der Werktätigen diskutiert über die Weihnachtsgratifikation. Obwohl viele Kollegen dem Beschluss des Ministerrates begrüßen,4 ist ein nicht unbedeutender Teil nicht damit einverstanden, dass die Kollegen, die über 500 DM verdienen, kein Weihnachtsgeld bekommen. Teilweise verdienen die Kollegen nur deswegen über 500 DM, da sie Überstunden machen. Vereinzelt treten noch andere negative Meinungen auf.

In der Generatorenanlage des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, können die Kollegen nicht verstehen, dass man die Grenze für die Weihnachtsgratifikation von 600 DM im Jahre 1953 auf 500 DM festgesetzt hat.5

Ein Kollege von der DSU Magdeburg: »Wenn die Betriebe nicht rentabel arbeiten, dann soll man nicht an der falschen Stelle sparen (Weihnachtsgeld), sondern die Gehälter der Funktionäre kürzen.«

Ein Hafenarbeiter (parteilos) vom Seehafen Wismar ([Bezirk] Rostock): »Nach dieser Verordnung, die vorschreibt, dass die Kollegen, die über 500 DM verdienen, keine Weihnachtszuwendung erhalten, sind wir betrogen worden. Oder besser gesagt, bestraft. Wir haben jetzt zu Weihnachten nur deswegen über 500 DM verdient, weil wir dem Betrieb die Überlieferungsgelder ersparen wollten. Wenn es so ist, werden wir das nächste Mal keine Überstunden machen. Dann soll der Betrieb zusehen, wo er Leute zum Entladen der Schiffe herbekommt.«

Ein Elektriker vom VEB Zement-Werk Göschwitz, [Bezirk] Gera (parteilos): »Bei uns in der E-Werkstatt sind es allein sieben Mann, die nicht damit einverstanden sind, dass sie keine Weihnachtszuwendung erhalten. Sie haben nur durch Überstunden im Interesse des Betriebes [und] zum Teil in Nachtarbeit die 500-DM-Grenze überschritten und dafür werden sie jetzt bestraft. In Zukunft werden sie alle keine Überstunden mehr machen.«

Ein Arbeiter vom VEB Feinjute Brandenburg, [Bezirk] Potsdam: »Das Weihnachtsgeld ist nur ein Almosen, das der Staat den Arbeitern gibt, um die Massen auf seine Seite zu bekommen. Aber die meisten lassen sich dadurch verdummen.«

Unter den Hauern im Kaliwerk »Thomas Müntzer«, [Bezirk] Erfurt, ist eine schlechte Stimmung wegen des Weihnachtsgeldes. Der größte Teil der Arbeiter verdient über 500 DM. Ein Arbeiter äußerte: »Das ist für uns eine Strafe, indem wir das Geld nicht bekommen, obwohl es unser Geld genauso ist, als denen ihrs, die unter 500 DM verdienen. Es kann sich nach meiner Ansicht jeder zum Hauer qualifizieren, denn wenn wir Hauer nicht wären, käme kein Salz zutage, und deshalb sehe ich nicht ein, warum wir nicht in den Genuss des Weihnachtsgeldes kommen sollen.«

Auf dem Weg zum Stickstoffwerk Piesteritz, [Bezirk] Halle, wurde unter den Arbeitern folgendes Gerücht verbreitet: »Die Arbeiter im Karbid-Ofenhaus des Stickstoffwerkes Piesteritz wollten in den Weihnachtsfeiertagen nicht arbeiten, weil sie keine Weihnachtszuwendungen erhalten. Sie wollen die Öfen ausgehen lassen. Um die Arbeiter zu beruhigen, hat der Werkleiter aus dem Direktoren-Fond DM 8 000 entnommen und sie als Weihnachtszuwendung unter den Arbeitern verteilt.«6

Die Abteilung Umschmelze des VEB Leichtmetall-Werkes Rackwitz, [Bezirk] Leipzig, hatte am 30.11.1954 ihren Produktionsplan erfüllt. Da die Abtl. keine Aufträge mehr hatte, waren die Arbeiter gezwungen, Gelegenheits- und Aufräumungsarbeiten zu verrichten. Die Arbeiter dieser Abteilung sind der Meinungen, dass sie keinen Wettbewerb zu entfalten brauchen, wenn sie im letzten Monat des Jahres keine Arbeit mehr haben.

Unter den Arbeitern der Wasserwerke Berlin-Friedrichshagen werden starke Diskussionen geführt, da ihre Löhne niedriger liegen, wie die der Kollegen bei der BEWAG und GASAG. Sie stellten immer wieder an ihre BGL die Frage, wieso die Zahlung höherer Löhne bei diesen Betrieben möglich ist und bei ihnen nicht.

Um eine gleichmäßige Stromentnahme zu erreichen, wurde in dem VEB Berliner Bremsenwerk vorübergehend die Arbeitszeit um eine Stunde verlegt. Diese Maßnahme hat besonders unter den Frauen eine Missstimmung hervorgerufen. Die Kolleginnen sind der Meinung, dass ihnen die Möglichkeit zum Einkaufen genommen wurde, da Dienstschluss erst um 18.00 Uhr ist. Verschiedentlich tritt bei den Diskussionen das Argument in Erscheinung, dass Licht lieber in die [sic!] Stalinallee eingespart werden soll.7

Im Kreis Jessen, [Bezirk] Cottbus, beklagen sich die Arbeiter in den Privatbetrieben, dass ihre Löhne im Gegensatz zu denen der volkseigenen Betriebe zu niedrig seien. Es ist zu verzeichnen, dass Austritte aus dem FDGB von Beschäftigten der Privatbetriebe keine Seltenheit sind.8

Waggongmangel: In den Wiko-Werken Wittenberge, [Bezirk] Schwerin,9 muss wegen Übererfüllung der vorhandenen Lagerräume die Produktion von Massenbedarfsgütern eingeschränkt werden, da keine Waggons zum Abtransport zur Verfügung stehen. Es handelt sich dabei um Waren im Werte von 33 000 DM.

Kohlenmangel

Die Oel- und Fettwerke Magdeburg mussten am 10.12.[1954] die Extraktion I und II wegen Mangel an Kohlen stilllegen. Das Werk hat einen Vertrag mit der DHZ Kohle über täglich 300 Tonnen Rohbraunkohle, der jedoch nicht eingehalten wurde.

Im VEB Vobau Treuen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht Kohlenmangel. Wenn keine Änderung eintritt, muss der Betrieb stillgelegt werden.

Im VEB Tuchfabrik Ostsachsenwerk II Kamenz, [Bezirk] Dresden, fehlt es ebenfalls an Kohle. Die Erfüllung des Planes ist dadurch gefährdet.

Im VEB Hermann Matern Roßwein,10 [Bezirk] Leipzig, beendeten die Schmiedearbeiter (50 Kollegen) am 9.12.[1954] ihre Arbeitszeit ca. ½ Stunde vor Arbeitsschluss. Da die Werkpolizei die Tore vor 21.00 Uhr nicht öffnete, fingen die Arbeiter an zu randalieren. Als dann der Werkleiter, der technische Leiter, der BPO-Sekretär sowie der SED-Ortssekretär hinzukamen, wurde gerufen: »Das sind ja Zuchthaus-Manieren, das machen wir nicht mit, gebt uns unsere Papiere« und dergleichen mehr. Nachdem der Werkleiter sowie der technische Direktor mit den Arbeitern diskutierten, war auf einmal der SED-Ortssekretär verschwunden und hielt es nicht für nötig, diesen Argumenten ebenfalls entgegenzutreten.

Produktionsstörungen

Am 9.12.[1954], gegen 21.00 Uhr ist in dem Maschinenhaus des VEB Gummi-Elastik Gotha, [Bezirk] Erfurt, ein Generator vollständig ausgebrannt. Schaden: ca. 40 000 DM.

Am 7.12.[1954], um 12.00 Uhr musste die Turbine III in dem Kraftwerk Calbe, [Bezirk] Magdeburg, wegen Reparatur stillgelegt werden.

Handel und Versorgung

Besondere Mängel, die teilweise auftreten, sind die unzureichende Versorgung mit Kohle und mit Weihnachtsbedarf. In Dessau, [Bezirk] Halle, z. B. haben 50 Prozent der Bevölkerung noch keine Briketts auf ihre Kohlenkarten erhalten. In der Stadt Magdeburg ist der Plan für Hausbrand bis zum 30.11.[1954] mit Briketts erst zu 75 Prozent und mit Rohkohle zu 72 Prozent erfüllt worden.

Die mangelhafte Belieferung mit Weihnachtsbedarf macht sich besonders in folgenden Bezirken bzw. Kreisen bemerkbar. Im Bezirk Rostock fehlt es vor allem in den Landgemeinden an Süßwaren und Apfelsinen. In mehreren Kreisen des Bezirkes Neubrandenburg an Süßwaren, z. B. Schokolade, Konfekt usw. In der Stadt Magdeburg Süßwaren, Eier und Südfrüchte. Im Kreis Weimar Mandeln und Apfelsinen.

Landwirtschaft

Die Moskauer Deklaration steht weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen. Zum 21. Plenum des ZK wird nur vereinzelt,11 positiv, hauptsächlichst in dem MTS und LPG, Stellung genommen.

In der LPG Thomas Müntzer in Alsleben, Kreis Bernburg, [Bezirk] Halle, ist ein Teil der Genossenschaftsbauern am 10.12.1954 zwar früh zur Arbeit erschienen, hat aber die Arbeit nicht aufgenommen. Die Genossenschaftsbauern fordern eine 10-prozentige Vorauszahlung ihrer Abrechnung. Diese LPG hat ca. 129 Mitglieder.12

Unzufriedenheit herrscht unter den Bauern im Bezirk Frankfurt wegen dem Ausbleiben der zugesagten Kohlen für freie Spitzen.13 Die BHG liefern den Bauern die versprochenen Kohlen nicht aus und sagen ihnen, dass nur HO-Kohlen auf Lager sind.

Am Verladeplatz in Meißen an der Elbe lagern mehrere Tausend Tonnen Zuckerrüben zum Abtransport, der durch Elbkähne durchgeführt werden soll. Angeblich ist aber der Verladekai in Brottewitz bei Torgau defekt, sodass die Kähne nicht anlegen können. Die Rüben sollen jetzt von der Reichsbahn transportiert werden, was den Transport wesentlich verteuert. Außerdem wird den LPG und Einzelbauern von den Zuckerfabriken vorgeschlagen, die noch nicht verladenen Rüben einzumieten, da der Anfall zu groß ist. Für die Einmietung wird von den Zuckerfabriken für 1 Tonne 3 DM bezahlt. Da die Einmietung wesentlich teurer kommt, bedeutet das für die LPG nicht eingeplante, zusätzliche Ausgaben.

Übrige Bevölkerung

Zu politischen Tagesfragen wird wenig Stellung genommen. Besondere Beachtung findet lediglich die Moskauer Konferenz, wobei allerdings fast ausschließlich zur Aufstellung Nationaler Streitkräfte gesprochen wird.

Im Vordergrund der Diskussionen stehen wirtschaftliche Fragen. Neben der Kritik am mangelnden Warenangebot werden jetzt in verschiedenen Bezirken mehrere unzufriedene Stimmen über die Weihnachtszuwendungen bekannt. Mitarbeiter der Massenorganisationen und Rentner führen darüber Klage, dass sie keine Zuwendungen erhalten. Zum Beispiel diskutiert ein nicht geringer Teil der Bevölkerung in der Gemeinde Alt-Warp, [Kreis] Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg: »In der HO ist das Fleisch gesperrt. Man sieht doch gleich, dass es bald Krieg gibt.«

Eine Hausfrau aus Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, sagte: »Es ist dieses Jahr sehr schlecht mit dem Einkaufen. Man bot uns Konfekt an, das oben schon schimmelig war. An Süßigkeiten für den Weihnachtstisch hat man sehr wenig Auswahl.«

Unter den Angestellten des FDGB Köthen, [Bezirk] Halle, und der einzelnen Industriegewerkschaften herrscht darüber Missstimmung, dass sie von der Weihnachtsgratifikation ausgeschlossen sind.

Die Reinemachefrauen im DFD und der DSF im Kreis Meiningen, [Bezirk] Suhl, stellten die Frage, ob die Reinemachefrauen beim Rat des Kreises andere Menschen seien als sie, da diese die Weihnachtsgratifikation erhalten, während die Mitarbeiter der Massenorganisationen ausgeschlossen seien.

Ein Rentner aus Ilmenau, [Bezirk] Suhl, sagte: »Ich bin der Meinung, hätte die Regierung bei den Weihnachtszuwendungen auch einmal an uns Rentner gedacht, so wären diese der Regierung sehr zum Dank verpflichtet gewesen. Aber stattdessen haben die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, welche schon gut verdienen, diese Zuwendungen bekommen. Wir armen Menschen müssen wieder so ein trauriges Weihnachtsfest erleben, denn von 65,00 DM kann man sich nichts Zusätzliches leisten.«

Ein Rentner aus Greifswald: »Es ist doch jedes Mal so. Der Kleine, der nur 75,00 DM im Monat bekommt, wird immer vergessen. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass hier wieder ohne Überlegung gearbeitet wurde.«

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverbreitung

SPD-Ostbüro:14 Schwerin 407, Kreis Gadebusch, 4 000 (gebündelt), Potsdam, Kreis Pritzwalk, 700 (Aufforderung an die Arbeiter, die Normen nicht anzuerkennen), Halle 13, Dresden einige, Karl-Marx-Stadt 1 450.

NTS:15 Halle 600, Karl-Marx-Stadt 34, Dresden einzelne.

KgU:16 Karl-Marx-Stadt 47, Halle einige.

UFJ:17 Karl-Marx-Stadt 20.

In tschechischer Spr[ache]: Dresden 60.

»Tarantel«:18 Potsdam, Kreis Oranienburg, 1 000.

Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde mit Ballons eingeschleust und sichergestellt.

Diversion

Am 8.12.[1954] wurde dem VPKA Havelberg gemeldet, dass der untere Teil des Deiches an der Gliner-Schleuse19 zwischen Havelberg und Sandau, [Bezirk] Magdeburg, gesprengt sei. Täter: unbekannt. Ermittlungen werden noch geführt. Schaden entstand nicht.

Über die Verbindungsstraße zwischen Pulsnitz und Großröhrsdorf ([Bezirk] Dresden) wurde eine 11 m lange Fichte gelegt. Der Verkehr war dadurch gehindert. Täter: unbekannt.

Am 8.12.[1954] wurden in der Formabhebemaschine der Abteilung Grauguss im VEB BBG Leipzig20 10 bis 12 cm lange Schrauben gefunden, die zu einem Bruch der Maschine führten.

Organisierte Feindtätigkeit

Ein Schaukasten der FDJ vor der Oberschule in Brandenburg – Kirchmöser wurde von unbekannten Tätern zertrümmert.

In einem Aufklärungslokal in Görlitz wurde eine handgeschriebene Hetzlosung angeklebt.

Ein gefälschtes Schreiben erhielt am 10.12.[1954] der VEB Stern-Radio [Sonneberg, Bezirk] Suhl, vom DIA Berlin. Es wurde darin mitgeteilt, dass ein Belgischer Vertragspartner seine Aufträge zurückgezogen habe. Die für den Export vorgesehene Produktion soll deshalb unserem staatlichen Handel zugeführt werden. Infolgedessen sind weitgehend Ersatzstoffe für die Fertigung zu verwenden.

Ein Gerücht wird in Saalfeld verbreitet, wonach die Abteilung MdI bei dem Rat des Kreises aufgelöst wird und eine Schließung der Zonengrenzen bevorstehe.

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 6.12. und am 9.12.[1954] brannte in dem VEB Bekleidungswerk Eibau, Kreis Löbau, ein Dieselmotor. Ursache ist noch unbekannt.

Auswertung von Hetzschriften

Von der KgU werden Briefe mit Mordhetze an Bürger der DDR, vorwiegend Mitglieder der SED, gesandt. In dem Schreiben wird gewarnt, dass die Handlungen der Empfänger laufend beobachtet werden und eines Tages die Strafe dafür erfolgt. Die Drohungen werden mit auf die Familie ausgedehnt. Unter anderem wird auf das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit«21 hingewiesen und es heißt zum Schluss: »Wer heute verfolgt, wird morgen Häftling sein.«

Anlage vom 11. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2389

Stellungnahmen zur Moskauer Konferenz

Weiterhin steht im Mittelpunkt der politischen Gespräche die Moskauer Deklaration. In diesem Zusammenhang – jedoch nur in geringem Maße – wird über die Ausführungen der Genossen Walter Ulbricht22 und Otto Grotewohl23 vor der Volkskammer gesprochen.24 Nach wie vor ist zu verzeichnen, dass nur wenig darüber gesprochen wird, dass jetzt alles zur Verhinderung der Pariser Verträge getan werden muss,25 wie es in der Deklaration zum Ausdruck kommt.

Etwas zugenommen haben diese Stimmen, die zum Ausdruck bringen, dass es für richtig gehalten wird, wenn unsere Regierung im Fall der Ratifizierung der Pariser Verträge Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze unserer DDR trifft. Einige erklären, dass sie dann bereit wären, mit der Waffe in der Hand unsere Errungenschaften zu verteidigen.

Weiterhin nimmt aber ein beachtlicher Teil zu dieser Frage eine ablehnende Haltung ein. Immer wieder – besonders in den Betrieben – werden die Diskussionen so geführt, als ob die Einführung der Wehrpflicht in der DDR unmittelbar bevorstünde. Die ablehnende Haltung resultiert größtenteils daraus, dass man für den Frieden ist, von einem neuen Krieg absolut nichts wissen will und deshalb immer wieder erklärt, keine Waffe in die Hand zu nehmen. Es zeigt sich dabei, dass man keinen Unterschied zwischen Nationalen Streitkräften und den Armeen der kapitalistischen Länder macht. Man beruft sich immer wieder darauf, dass es in unserer Nationalhymne heißt, »dass nie wieder eine Mutter ihren Sohn beweint«;26 oder dass man in der DDR stets gegen die Aufstellung einer Wehrmacht war und deshalb auch die Menschen in Westdeutschland aufforderte, gegen die Remilitarisierung zu kämpfen. Dieses Argument wird besonders von Jugendlichen benutzt. Es kommt immer wieder zu Erklärungen, dass sie auch den Gestellungsbefehl zerreißen wollen.27

Des Weiteren ist vielfach die Meinung vorherrschend, dass eine kriegerische Auseinandersetzung nicht ausbliebe, wenn in der DDR Nationale Streitkräfte aufgestellt würden.

Verschiedentlich kommt die ablehnende Haltung nicht nur bei Diskussionen zum Ausdruck, sondern zeigt sich auch in Versammlungen oder bei Kundgebungen. Zum Beispiel fand am 10.12.[1954] in Magdeburg eine Großkundgebung statt, an der sich ca. 80 000 Personen beteiligten. Während der Kundgebung verließen ca. 50 Prozent der Teilnehmer den Kundgebungsplatz.

In Rostock fand ebenfalls eine Großkundgebung mit ca. 60 000 Beteiligten statt. Auch hier verließen während der Kundgebung ein Teil der Arbeiter den Platz. Einige Frauen äußerten dazu, dass die Arbeiter ja nur zur Kundgebung gegangen wären, weil sie die Zeit bezahlt bekämen und dadurch auch eher Feierabend hätten. Circa 20 Jugendliche mussten wegen ihrer Störversuche vom Platz verwiesen werden.

Im Mähdrescherwerk Weimar erschienen die Kollegen der Halle »Roter Oktober« zu einer einberufenen Kurzversammlung nur widerwillig. Während des Referates wurden die Schweißmaschinen angelassen und es wurde weiter gearbeitet. Die Verlesung einer Entschließung wurde durch den Arbeitslärm gestört. Das Abstimmungsergebnis war aber 100-prozentig, was unter der Belegschaft ein allgemeines Gelächter hervorrief.

In einer Versammlung der Fernsprechrechnungsstelle im Fernmeldeamt Potsdam sollte eine Resolution zur Abstimmung gelangen, welche auch die Forderung nach Aufstellung Nationaler Streitkräfte bei Ratifizierung der Pariser Verträge enthielt. Diese Resolution wurde mit der Begründung abgelehnt, dass man überhaupt nicht mehr aufrüsten sollte – auch bei uns nicht, da dies immer zum Krieg führen würde. Von den Kollegen wurde vorgeschlagen, in einem Schreiben an Adenauer gegen die Remilitarisierung zu protestieren. Dieser Vorschlag wurde von allen Anwesenden angenommen.

Im Konstruktions- und Entwicklungsbüro Halle zeigte sich eine besonders ablehnende Haltung in einer Versammlung. Es wurden Äußerungen laut, wie z. B.: »Wir zerreißen die Gestellungsbefehle und schmeißen denen die Knarre vor die Füße.« Uns als Frontgeneration werden sie uns [sic!] nicht einziehen, denn dann würden sie einen schlechten Geist in die Truppe bekommen. Einige sagten: »Wenn es soweit ist, hauen wir nach dem Westen ab.«

Von feindlichen Elementen wird weiterhin gegen die DDR und die SU gehetzt. Zum Beispiel sagte ein Bauer aus Friedrichsruh, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die waren doch nur in Moskau zusammengekommen, um zu beschließen, dass wir im kommenden Jahr zu einem russischen Staat werden, genau wie Estland, Lettland und Litauen.28 Wir laufen dann ebenso in Lumpen rum, wie die dort und sind den Kommunisten völlig ausgeliefert.«

Ein Mittelbauer aus Gallun, [Kreis] Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam: »Unsere haben ja nur Angst, weil sie drüben ein 500 000-Mann-Heer aufstellen. Das brauchen sie nicht, denn hier besteht die Wehrmacht ja schon lange.«29

Ein Großbauer aus Kutzleben, [Bezirk] Erfurt: »Es ist jetzt vorbei, dass nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint. Die Pariser Verträge werden schon alles auf die Beine bringen, die Russen werden dann schon sehen, was los ist. Wenn die DDR Streitkräfte aufstellt, dann wird es wieder überall in der Wirtschaft fehlen. Der neue Kurs war ja nur eine Angstgeburt des 17. Juni [1953].«30

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