Zur Beurteilung der Situation in der DDR
15. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2340 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Mittelpunkt der Diskussionen zu politischen Tagesfragen steht weiterhin die Volkskammerwahl,1 wobei sich der Umfang, besonders der positiven Gespräche, verstärkt hat. Dies ist eine Folge der Aufklärungsarbeit in den volkseigenen Betrieben. Der Inhalt der positiven Stimmen ist unverändert.
Negative Äußerungen treten meist vereinzelt und im geringen Umfang auf. Hierbei spricht man besonders gegen die einheitliche Kandidatenliste, die undemokratisch sei. Ursache für die negativen Äußerungen sind mehrfach persönliche Verärgerungen, daneben Beeinflussung durch West-Hetze und nur gering direkt feindliche Einstellung zur DDR. Die negativen Meinungen stammen besonders von Werktätigen aus der Privatindustrie, wo die Aufklärungsarbeit vernachlässigt wird, und der Reichsbahn sowie von ehemaligen Umsiedlern. Hierzu einige Beispiele:
Eine Jungarbeiterin aus dem VEB Zeiss Jena: »Man kann einer Regierung nicht das Vertrauen schenken, die meiner Mutter keinen Haushaltstag2 zukommen lässt.«
Ein parteiloser Kollege aus dem VEB Zeiss Jena: »Warum lassen wir hier bei uns nicht die Parteien zu, wie z. B. die SPD und alle anderen, die in Westdeutschland bestehen? Nur dann kann man von freien Wahlen sprechen. So wird das auch im Westen gemacht.«
Eine Wagenputzerin vom Bahnbetriebswerk Neustrelitz: »Ich werde nicht zur Wahl gehen. 1945 wurde ich aus Danzig ausgewiesen. Danzig wird bald wieder frei und dann kommen wir in unsere Heimat zurück.«
Der BGL-Vorsitzende des privaten Baubetriebes Schönebeck & Co in Potsdam erklärte in einer Versammlung, dass er absolute Freiheit in der DDR fordere, worunter er Zulassung von Westzeitungen sowie einer Oppositionspartei versteht. Dies fand bei den jüngeren Kollegen große Zustimmung.
In der Firma Seidig in Potsdam3 fordert man »freie Wahlen«, wie sie der RIAS propagiert und andere westliche Forderungen.
Die DSU Berlin hat eine Anweisung herausgegeben, wonach die Schiffer, die in Berlin wohnen und polizeilich gemeldet sind, ihre Wahlscheine nur in Berlin erhalten. Einige Binnenschiffer in Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, erklärten hierzu, dass sie nicht extra nach Berlin zurückfahren werden, um sich Wahlscheine zu besorgen.
In Vorbereitungsversammlungen im privaten Sektor in Magdeburg, Schönebeck und Osterburg werden sehr negative Diskussionen geführt. In fast allen Betrieben wird die Gleichstellung des Lohnes mit den Arbeitern der volkseigenen Betriebe verlangt, was Hauptgespräche in den Versammlungen sind. Zur Volkswahl besteht bei vielen die Meinung, dass jede Partei einzeln ihre Kandidaten aufstellt.
Im VEB Schott Jena4 und VEB Jenapharm werden besonders von Angestellten Forderungsprogramme als Wähleraufträge aufgestellt. In diesen Programmen wird unter anderem eine Erhöhung der Gehälter der Angestellten entsprechend der Lohnerhöhungen der Arbeiter und der Intelligenz gefordert.
Unter den Bauarbeitern des VEB Hochbau Friedrichshain – Stalinallee werden zur Volkswahl viele Gespräche über den ehemaligen Generalfeldmarschall Paulus5 geführt. Dabei wird argumentiert, dass Paulus das Ansehen der Regierung genießt, obwohl er genau wie Kesselring6 große Verbrechen auf dem Gewissen habe. (Man erinnert vor allem an Stalingrad.)
Verschiedentlich bringen Arbeiter und Angestellte ihre Unzufriedenheit über die Wahlagitation, die zu häufig sei, zum Ausdruck und, dass bisher die Wahlscheine noch nicht veröffentlicht wurden und man nicht wisse, wen man am 17. [Oktober 1954] wählen soll. So äußerten einige Kollegen aus der Großkokerei Lauchhammer: »Es geht schon wieder los mit der Agitation über den Betriebsfunk. Das hängt einem alles schon bald zum Halse raus. Das kann man bald auswendig.«
Ein Parteiloser aus dem VEB Baumwollweberei Hohenstein-Ernstthal: »Bei der Volksbefragung7 führte man uns den Stimmschein schon wochenlang vor der Wahlaktion vor Augen. Warum tut man das heute nicht? Da weiß man doch nachher gar nicht, wie man wählen soll.«8
Zum »Tag der Aktivisten«9 sind in fast allen volkseigenen Betrieben Feierstunden durchgeführt worden, die überwiegend einen positiven Verlauf nahmen. Negative Erscheinungen traten nur gering auf. Dabei wurden einesteils gleichmacherische Tendenzen vertreten oder man war nicht mit der Auszeichnung einzelner Kollegen einverstanden, da ihre Leistungen dem nicht entsprächen.
Ein Arbeiter aus dem VEB Allroma in Lichtenstein,10 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich bin mit Prämien grundsätzlich nicht einverstanden, weil dies immer nur einem gewissen Kreis zugutekommt. Man soll lieber den Stundenlohn um DM 0,10 erhöhen, dann hat jeder etwas davon.«
Im Stahlwerk Olbersdorf, [Bezirk] Dresden, wurden fast alle Brigaden ausgezeichnet und die Prämien waren dementsprechend niedrig. Im VEB Hartpappenwerk Dippoldiswalde äußerte ein BGL-Mitglied: »Wir möchten alle Kollegen prämieren, denn sie haben alle schwer gearbeitet, sonst gibt es im Betrieb nur Auseinandersetzungen.«
Im VEB Papierwarenfabrik Grimma,11 [Bezirk] Leipzig, erhielten alle Arbeiter, die im Zeitlohn stehen, Prämien in Höhe von 15,00 bis 25,00 DM.
Im VEB Feinmess Suhl wurden nur ca. 10 Prozent der Arbeiter prämiert, während die gesamten hauptamtlichen Mitglieder der BGL eine Prämie erhielten. Darüber waren die Kollegen verärgert.
In der Grube Stahlberg in Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, waren die Kumpels über die ausgezeichneten Aktivisten unzufrieden, da sie nicht das Vertrauen der Belegschaft besitzen. Zum Beispiel hat der ausgezeichnete Magazinverwalter niemals Material für die Kumpels, obwohl dies im Lager vorhanden ist. Außerdem wurde er aus der SED ausgeschlossen und leistet keine gesellschaftliche Arbeit.
Unter den Kollegen des VEB Guss Torgelow, [Bezirk] Neubrandenburg, herrscht eine Unzufriedenheit darüber, dass keine Prämien gezahlt wurden. Als Aktivisten wurden sechs Angestellte und vier Arbeiter ausgezeichnet.
Auf dem Wismut-Schacht 78 in Annaberg12 waren die Kumpels nach der Auszeichnung darüber unzufrieden, dass von 180 vorgeschlagenen Kollegen nur 100 ausgezeichnet wurden. Vollkommen vergessen hatte man dabei die Schlosser, die Transportbrigade und die Signalisten. Außerdem wurden durch Verschulden der FDGB-Funktionäre einige Kumpels ausgezeichnet, während bessere Arbeiter von der Liste gestrichen wurden.
Im RAW Jena nahmen von ca. 700 Kollegen nur 70 an der Feierstunde teil. Dies waren nur die Kollegen, die eine Auszeichnung erwarteten.13
Im VEB Bleierzgrube »Albert Funk« in Freiberg, Schachtanlage »Reiche Zeche«, gaben die Reviere II und V einen Teil der Einladungskarten für die Feier zurück mit der Begründung, dass sie kein Interesse an der Feier hätten.
Im Fischkombinat Rostock besteht besonders unter dem seefahrenden Personal eine schlechte Stimmung wegen der Wohnraumfrage. Aus diesem Grunde wurden schon einzelne gute Seeleute republikflüchtig. Schon vor 2 bis 3 Jahren wurde verschiedenen Seeleuten eine Wohnung versprochen, was bis jetzt noch nicht eingelöst ist.
Unter den Arbeitern der Warnow-Werft Warnemünde, die täglich mit der Bahn zur Arbeitsstelle und zurückbefördert werden, besteht eine Unzufriedenheit über die mangelhafte Wagenstellung der Reichsbahn. Teilweise müssen sie auf den Trittbrettern fahren, um zur Arbeit zu gelangen. Nachdem die Reichsbahn hierauf hingewiesen wurde, stellte sie vier geschlossene Güterwagen zusätzlich zur Verfügung. Dies hat unter den Kollegen eine große Empörung ausgelöst.
Im Kraftwerk »Rudolf Breitscheid« Halle bestehen Schwierigkeiten in der Kohlenzufuhr. Seit dem 8.10.[1954] erhält das Werk nur die Hälfte der notwendigen Kohle. Ein Grund hierfür ist die mangelhafte Waggongestellung.
Zementmangel besteht in der Bauindustrie. Im Bezirk Cottbus mussten deshalb schon 28 Baustellen stillgelegt werden. Als Ursache hierfür wird vom zuständigen Staatssekretär angegeben: Starker Export und außerplanmäßiger Bedarf im Gebiet der Hochwasserkatastrophe.14 Nach Überprüfung durch den Zentralvorstand Bau-Holz wurde festgestellt, dass in den Zementwerken insgesamt 43 000 Tonnen Zement lagern, im Zementwerk Rüdersdorf allein 12 000 Tonnen, die angeblich wegen Mangel an Verladepersonal nicht ausgeliefert werden können.15
Materialmangel
Im Möbelwerk Johanngeorgenstadt, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, bestehen größere Schwierigkeiten bei der Anlieferung von Glas für Arbeitszimmerschränke.
Im VEB Eisengießerei Frankenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht nach wie vor ein Engpass in der Belieferung mit Formerstiften.
Handel und Versorgung
Die Versorgung der Bevölkerung mit Winterkohle ist im Bezirk Potsdam noch ungenügend. Die Bevölkerung äußert sich hierzu, wie z. B. die Einwohner von Rangsdorf, Kreis Zossen, die erst zu 65 Prozent mit Kohle versorgt wurden: »Wenn wir zur Wahl gehen sollen, dann beschafft uns erst einmal Kohlen, dann gehen wir auch zur Wahl.« In Oranienburg gibt es keine Zuteilung an Winterkohle und seit der Preissenkung16 keinen Speck. Die Bevölkerung ist darüber verärgert und sagt: »Na, wir wissen ja, was wir am 17. Oktober [1954] wählen.«
In Jena, [Bezirk] Gera, wo es seit der Preissenkung kein Speiseöl, Margarine Sorte I und andere Fette in [der] HO gibt, sagen die Hausfrauen: »Was wählen? Die geben uns doch nicht einmal was zu essen. Vor zwei Jahren gab es ja mehr als jetzt.«
Im Kreis Meiningen, [Bezirk] Suhl, bestehen ebenfalls Schwierigkeiten mit Speiseöl, Margarine und Speck. Außerdem fehlt es in diesem Kreis an Hülsenfrüchten und Süßwaren.
Hülsenfrüchte, Nährmittel, Eier, Frischfisch, Käse, Zigaretten (»Turf«), Textilien und Industriewaren fehlen in Quedlinburg, [Bezirk] Halle. Durch schlechte Warenstreuung des Kreiskonsums Merseburg, [Bezirk] Halle, ist die Versorgung im Bergarbeitergebiet Geiseltal, [Kreis] Merseburg, mit Fleisch, Wurst und Textilien sehr mangelhaft. Im Konsum und im HO des Kreises Wittenberg fehlt es an Winterbekleidung. Im Kreiskonsum Merseburg dagegen liegen die Textilien aufgestapelt. Wegen Mangel an Fahrzeugen ist die Versorgung mit Gemüse in den Gemeinden des Saalkreises sehr schlecht.
Klagen über den Mangel an Därmen für Wurst kommen von den Fleischern aus dem Bezirk Cottbus. Das angelieferte Vieh wird dort in Schlachthäusern geschlachtet und bei der Rücklieferung die Därme nicht mitgeliefert.
Im Bezirk Potsdam macht sich die schlechte Verteilung mit Fleisch besonders in den Landgemeinden bemerkbar. In Heinersdorf,17 Kreis Jüterbog, z. B. ist das Fleisch auf Marken knapp, während es in der HO zur Verfügung steht. Eine Fleischerfrau sagte hierzu: »Wir haben sehr wenig Auswahl an Fleisch- und Wurstwaren. Es ist ein Jammer. Warum bekommen wir nicht mehr zum Schlachten, aber es wird ja auch viel Vieh abtransportiert und wo es hinkommt, können wir uns denken.«18
Im Schlachthof Görlitz, [Bezirk] Dresden, ist zu verzeichnen, dass 1 000 Rinder und Schweine auf die Abschlachtung warten. Durch die lange Standzeit gehen unserer Volksernährung viele Zentner Fleisch verloren.19
Im Kreis Schleiz herrscht zurzeit eine schlechte Stimmung unter den Mitgliedern des Konsums, weil in diesem Jahr nur 1,8 Prozent Rabattgeld ausgezahlt werden, während in anderen Kreisen zum Teil volle 3 Prozent ausgezahlt wurden.20
Landwirtschaft
Die Stellungnahmen zur Volkskammerwahl sind überwiegend positiv, stammen hauptsächlich aus dem sozialistischen Sektor und bringen auch durch zahlreiche weitere Selbstverpflichtungen das Vertrauen zu unserer Regierung zum Ausdruck. Die negativen Stimmen sind nur vereinzelt und stammen hauptsächlich von Groß- und Mittelbauern, die mit der Einheitsliste nicht einverstanden sind und die Forderung des RIAS nach der freien Wirtschaft stellen.
In einer Bauernversammlung in der Gemeinde Strohdehne, Kreis Rathenow, [Bezirk] Potsdam, sagte ein werktätiger Bauer, dass er die Entwicklung in der Landwirtschaft nicht anerkenne, denn das Ablieferungssoll und der Viehhalteplan sind zu hoch. Er fordert, dass man den Bauern frei wirtschaften lassen soll.
Ein Bauer aus Jamikow, Kreis Angermünde: »Wenn jeder stimmen könnte wie er wollte und wenn eine richtige Opposition vorhanden wäre, dann würden sie aber staunen. Aber man darf ja davon nicht reden.«
Ein Bauer aus Raßmannsdorf, Kreis Beeskow: »Diesmal bin ich bei der Wahl etwas schlauer und gehe nicht hin. Ich werde es so machen, wie es die zwei anderen hier bei der Volksbefragung gemacht haben, indem ich mir einen Wahlschein besorge.«
Am 3.10.1954 wurde bekannt, dass die zehn Großbauern der Gemeinde Stapel, Kreis Osterburg, [Bezirk] Magdeburg, am Tag der Wahl beabsichtigen, einen Omnibusausflug zu unternehmen und beim Rat des Kreises einen Omnibus beantragten. Die Abteilung Verkehr vermittelte ihnen einen Omnibus.
In den überwiegenden Fällen gelingt es den Großbauern, die von ihnen abhängigen und ständig mit ihnen in Verbindung stehenden Personen zu beeinflussen. Ein Beweis dafür ist die Diskussion einer Frau aus dem Kreis Tangerhüve,21 [Bezirk] Magdeburg, die bei einem Großbauern arbeitet: »Ich gehe nicht zum Wählen und im Übrigen wird die Wahl noch schlechter ausfallen als die Volksbefragung. Die Bauern sind alle unzufrieden mit unserer Regierung.«
In den Gemeinden, wo sich eine Konzentration ehemaliger Umsiedler zeigt, wird oftmals über die Oder-Neiße-Grenze diskutiert. In der Gemeinde Düsedau, Kreis Osterburg, [Bezirk] Magdeburg, z. B. sagen ehemalige Umsiedler: »Wir würden viel freudiger zur Wahl gehen, wenn wir in unsere Heimatorte zurückkönnten.«
Teilweise wird die Forderung nach Bekanntgabe der Stimmscheine gestellt, wie z. B. im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Ein Mittelbauer (parteilos) aus Bernsdorf, Kreis Hohenstein-Ernstthal: »Man soll uns doch endlich einmal die Wahlscheine zeigen, damit wir uns auf die Wahl richtig einstellen können. Man will uns bestimmt erst in letzter Minute überfahren und es besteht keine Möglichkeit, zwei verschiedene Dinge zu wählen.«
Stellenweise ist die negative Einstellung auf Verärgerung zurückzuführen. Die Bauern der Gemeinde Limbach,22 Kreis Reichenbach, verlangen, dass auch die Betriebe über 20 ha in die Saatgutvermehrung und Vatertierhaltung eingeschaltet werden,23 da sie sich anderenfalls am 17. Oktober [1954] nicht an der Wahl beteiligen würden.
In Langenbach, Kreis Zwickau, stellten die Bauern die Forderung, dass ihnen der Milchpfennig24 auf 1½ Jahre zurückzuvergüten sei, da seit dieser Zeit keine Leistungsprüfungen stattgefunden haben. Sollte die Forderung nicht erfüllt werden, wird kein Bauer zur Wahl gehen.
Von der VEAB Magdeburg wurden statt 300, 625 Rinder angeliefert. Die Tiere mussten im Freien auf der Rampe untergebracht werden und werden nur mit Wasser und Stroh gefüttert. Der Anblick der Tiere ist trostlos. Die Stimmung unter den Betriebsangehörigen des Schlachthofes Halle ist sehr schlecht und man bringt zum Ausdruck, dass, wenn ein Arbeiter ein Viertelpfund Fleisch mit nach Hause nimmt, bestraft wird und hier viele Tonnen Rindfleisch durch Gewichtsabnahme verloren gehen. Außerdem kann man in der Stadt kein Rindfleisch erhalten. Nach der Kapazität des Schlachthofes können die Rinder erst bis Dienstag, den 19.10.[1954], abgeschlachtet werden.25
In der LPG Frömmstedt, [Kreis] Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, hauptsächlich in der Brigade »Helmut Just« herrscht zurzeit eine schlechte Stimmung. Es kursiert dort das Gerücht, dass die Genossenschaftsbauern die letzte Kuh noch an die LPG abgeben müssten und nichts für sich behalten dürften. Aus diesem Grunde wollen verschiedene Bauern aus der LPG austreten. Der LPG-Vorsitzende hat die Absicht, seine Funktion niederzulegen.
In der MTS Klieken und Neeken, [Bezirk] Halle, wurde festgestellt, dass die Kartoffelrodemaschinen »Schatzgräber« nicht eingesetzt werden können, weil das Material den Anforderungen nicht gewachsen ist.
Im Schafstall der Gemeinde Stiege, Kreis Wernigerode, wurden am 12.10.1954 30 verendete Schafe aufgefunden. Nach den bisherigen Ermittlungen wurde festgestellt, dass die Schafe auf einem ausgewachsenen Roggenstoppelfeld geweidet wurden und hierin die Todesursache zu suchen ist.
Aus dem Kreis Jessen, [Bezirk] Cottbus, wird bekannt, dass der LPG »Elsterland« in Mönchenhöfe, [Bezirk] Cottbus, fast der gesamte Schweinebestand erkrankt ist (Bestand: 95 Mastschweine). Die bisherigen Ermittlungen ergaben in Verbindung mit dem zuständigen Tierarzt, dass hier eine Futtervergiftung vorliegt. Futterproben wurden zur Begutachtung zum KTI Berlin und zum Tierhygienischen Institut Halle eingesandt.
Übrige Bevölkerung
Im Mittelpunkt der politischen Gespräche stehen die Vorbereitungen zur Volkswahl. Die Stimmung ist überwiegend positiv. Das zeigen nicht nur die vielen positiven Stellungnahmen von Hausfrauen, Rentnern, Verwaltungsangestellten und zum Teil auch von Handwerkern, sondern auch die zahlreichen Verpflichtungen, die vor allem in den Hausversammlungen abgegeben werden. Sie beinhalten, dass die Hausbewohner geschlossen und schon in den Morgenstunden des 17.10.[1954] zur Wahl gehen werden und ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front26 geben wollen.
In den jetzt schon eröffneten Sonder-Wahllokalen tritt in Erscheinung, dass viele Personen über den Wahlakt unklar sind. Als Mangel erweist sich, dass aus dem Stimmzettel nicht hervorgeht, wie abgestimmt werden muss, sodass die Wahlhelfer immer eine längere Erläuterung geben müssen. Dabei treten auch immer wieder die Fragen auf, ob Namen gestrichen oder hinzugesetzt werden können oder wo das Kreuz vermerkt werden muss. Diese Fragen werden auch am Wahltag in Erscheinung treten und es wird befürchtet, dass dadurch die Wahl nur langsam vonstattengeht.
Die negativen Diskussionen nehmen einen geringen Umfang ein und werden vorwiegend in bürgerlichen Kreisen sowie von dem Klassenfeind beeinflussten Personen geführt.27 Zum Beispiel sagte ein Geschäftsinhaber aus Karl-Marx-Stadt: »Am besten ist es, wir machen bei der Wahl einen Strich quer durch. Was anderes gibt es ja nicht. Und sie werden sich wundern, wie viele so handeln werden. Selbst Parteigenossen sagen, dass etwas anderes kommen wird.«
Besonders im demokratischen Sektor von Berlin zeigt sich bei Agitationseinsätzen sowie bei der Verteilung der Wählerkarten die Beeinflussung des Klassengegners. Das kommt zum Ausdruck, einmal in negativen Äußerungen und zum anderen in einer ablehnenden Haltung. Zum Beispiel verweigerten zwei Frauen im Hause Klement-Gottwald-Allee 255 (Weißensee) die Annahme der Wählerkarten und knallten dem Aufklärer die Tür vor der Nase zu.
Eine Mieterin in der Schönstraße 6 (Weißensee) sagte gegenüber einem Aufklärer: »Ihr habt wohl mächtig Angst, dass ihr zu wenig Stimmen bekommt. Ich werde schon wissen, was ich zur Wahl zu tun habe.«
Ein anderer Mieter im Haus, Behaimstraße 8 (Weißensee) verhielt sich sehr ablehnend und ließ sich in keine Diskussion ein. Bezeichnend war, dass laut in der Wohnung der RIAS spielte.
Bei der Überbringung der Wählerkarten im Haus Florastraße 13 (Pankow) wurde von einem Jugendlichen erklärt, dass ein neuer 17. Juni [1953] notwendig sei. Weiter wurde von ihm geäußert, dass es in der DDR kein Streikrecht gäbe28 und außerdem äußerte er sich in abfälliger Form über die Volkspolizei.
In der Schulzendorferstraße 72 äußerte eine Frau: »Wenn wir etwas sagen, werden wir gleich verhaftet. Sprechen kann man nur in der freien Welt.«
Bei einer Hausversammlung in der Plesserstraße 9–10 (Treptow) wurden folgende Fragen gestellt: »Warum ist Vincenz29 Müller Kandidat? Er war doch auch Nazigeneral. Die Generäle haben nicht alle ihre Kriegsschuld gebüßt. Sie hätten mit ihrer Hände Arbeit büßen müssen.« »Ist unsere KVP auch nicht eine Bedrohung des Westens?30 Warum ist die Grenze an der Oder, wenn die Truppen abgezogen werden, stehen die Truppen gleich hinter der Oder.«31
In den Reihen der bürgerlichen Parteien werden immer wieder negative Diskussionen über die Wahl sowie über unsere Partei und Regierung geführt. Zum Beispiel sagte ein CDU-Mitglied aus Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Listenverbindung zur Volkswahl ist nicht richtig. Ich gehe schon gar nicht mehr in eine Parteiversammlung, denn Nuschke32 durfte das nicht zugeben. Das ist doch alles schon eine Partei und alle wird es sowieso bald.«
Ein LDPD-Mitglied aus dem Kreis Jena, [Bezirk] Gera: »Meiner Meinung nach kann sich das System in der DDR nicht mehr lange halten. Wir werden uns wundern, denn nach der Wahl werden die Zügel in politischer Hinsicht wieder straff angezogen. Jetzt vor der Wahl ist alles ziemlich locker. Aber umso härter geht es nach der Wahl zu.«
In den Kreisen der Kirche ist bemerkenswert, dass viele Geistliche unter dem Einfluss ihrer Vorgesetzten stehen, was sich in ihrer Haltung zur Wahl ausdrückt. Zum Beispiel erklären einige, dass es ihnen untersagt sei, sich um politische Fragen zu kümmern, sodass sie keine Stellungnahme zur Wahl abgeben könnten. Andere sagen offen, dass die Wahl nicht demokratisch sei und sie deshalb nicht zur Wahl gehen werden.33 Zum Beispiel erklärte ein Pfarrer aus Merseburg, [Bezirk] Halle, gegenüber einigen Aufklärern der Nationalen Front: »Ich komme von einer Tagung der Pastoren in Leuna, wo sich alle Pfarrer des Kreises einigten, dass sie nicht an der Wahl teilnehmen werden. Außerdem wurde festgelegt, dass am Sonntag in der Predigt kein Wort von den Wahlen erwähnt wird.« Er verlas weiterhin das Schreiben des Kirchenrates, indem die Pfarrer aufgefordert werden, nicht an der Wahl teilzunehmen, da die Volkskammerwahl gar keine Wahlen wären.
Ein Pfarrer aus Petersdorf,34 Kreis Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, sagte zum Vorsitzenden des Rates des Kreises Templin: »Ich werde nicht zur Wahl gehen, um nicht dazu beizutragen, dass noch mehr solche sozialistischen Gesetze gefasst werden wie das Ehegesetz.35 Ich werde meine Gemeinde darauf hinweisen, das Gleiche zu tun.«
Ein Pfarrer aus Krien, Kreis Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde vom Bürgermeister angesprochen, in der Dorfzeitung eine Stellungnahme zur Volkswahl abzugeben. Er lehnte dies mit der Bemerkung ab, dass für ihn nur die Anordnung seiner vorgesetzten Dienststelle maßgebend ist. Auf die Frage, wie denn seine eigene Meinung als Christ wäre, ging er nicht weiter darauf ein.
In der letzten Zeit kommt es unter der Bevölkerung zu Diskussionen, dass nach der Wahl bei uns die Wehrpflicht eingeführt würde. Das wird aus den Bezirken Halle, Rostock und Karl-Marx-Stadt berichtet.
In den Städten Eisfeld und Themar, [Kreis] Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, werden unter einigen Neubürgern36 Diskussionen geführt, dass es im Wahlaufruf der Nationalen Front heißt: »Wer seine Heimat liebt, wählt die Kandidaten der Nationalen Front.«37 Da sie als Neubürger ihre Heimat lieben und nicht mehr zurückkönnen, wollen sie nicht zur Wahl gehen. Während der Volksbefragung traten in diesen Orten ähnliche Tendenzen auf.
Die Feiern zum »Tag der Aktivisten« nahmen im Allgemeinen einen guten Verlauf. Es kam dabei zu vielen Verpflichtungen zur bevorstehenden Volkswahl.
Verschiedentlich war zu verzeichnen, dass Belegschaftsmitglieder mit den Bekanntgaben der Prämien und Auszeichnungen nicht einverstanden waren. Zum Beispiel herrschte unter der Belegschaft der HO-Gaststätte in Großenhain, [Bezirk] Dresden, zum größten Teil eine schlechte Stimmung, da die Auszeichnung als »ungerecht« angesehen wird. Eine parteilose Kollegin äußerte: »Vielleicht wäre es besser, wenn man allen eine kleine Auszeichnung zukommen lassen würde.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:38
- –
Suhl: Meiningen 2 700, Salzungen 5 000, Schmalkalden 6 000.
- –
Potsdam: 61.
- –
Karl-Marx-Stadt: Auerbach 27.
- –
Halle: Nebra 225, Soest,39 [Kreis] Roßlau, 20 000, Söllichau, [Kreis] Gräfenhainichen, 800, Kreis Merseburg, Hettstedt, Dessau, Köthen, Bernburg, Halle und Naumburg insg[esamt] 1 000.
- –
Dresden: 175.
- –
Frankfurt: 15 000.
- –
Gera: Kreis Pößneck, Schleiz, Rudolstadt und Eisenberg mehrere Hundert.
- –
Cottbus: Kreise Luckau, Finsterwalde, Senftenberg, Guben, Herzberg und Weißwasser insges[amt] 338 000.
- –
Erfurt: Sömmerda 326, Arnstadt 35, Freienbessing, [Kreis] Sondershausen, 1 000, Tambach-Dietharz 120. Ein Pkw verstreute auf der Straße Georgenthal-Gotha eine Anzahl Flugblätter, im Wald bei Friedrichroda wurde ein Sack mit Flugblättern gefunden.
KgU:40
- –
Potsdam: 604.
- –
Groß-Berlin: in allen Bezirken starke Flugblatttätigkeit. Aufsteigen von Ballons im Westsektor wird ständig festgestellt.
- –
Halle: Dölbau, [Kreis] Saalkreis, 450, Kalbsrieth, [Kreis] Artern, 20 000.
- –
Dresden: 2 576.
- –
Karl-Marx-Stadt: Auerbach 50 000, Oelsnitz 11 740.
UFJ:41 Potsdam 20.
FDP[-Ostbüro]: Frankfurt 2 200.
NTS:42
- –
Potsdam: 3 112.
- –
Dresden: 49.
- –
Cottbus: 5 000.
- –
Karl-Marx-Stadt: 81.
»Der Tag«:43 Halle Gröbers 300, Schwoitsch 200, Queis 800, Wittenberg 800, Kreis Naumburg 25, Kreis Söllichau44 und Gräfenhainichen 250.
Unbek[annter] Herkunft: Frankfurt 50. Es handelt sich hierbei um ein Flugblatt in der Form einer Taschenuhr und dem Text »Jeder Wähler denke dran – mit Uri-Uri fing es an«45 und dem Unterdruck »Nein«.
Die Flugschriften sind vorwiegend gegen die Volkswahlen gerichtet und haben den bekannten Inhalt.
Die Hetzschriften werden in den meisten Fällen durch Ballons eingeschleust und wurden sichergestellt. Zum Beispiel wurden im Kreis Lobenstein, [Bezirk] Gera, 23 große Ballons beobachtet, welche in Richtung der DDR flogen.
Abreißen bzw. Beschädigen von Plakaten, Transparenten und Fahnen
Potsdam: Krangen, [Kreis] Neuruppin, 2 Plakate, Bestensee, [Kreis] Königs Wusterhausen, 6 Plakate, Potsdam-Drewitz 1 Plakat, Kreis Nauen 5 Plakate, Sarnow, [Kreis] Pritzwalk, 3 Plakate.
Dresden: Kreis Bischofswerda ca. 50 Plakate abgerissen bzw. beschädigt, Großenhain 2 Plakate, Mittelherwigsdorf, [Kreis] Zittau, 1 Schaukasten der SED umgerissen.
Gera: in einigen Gemeinden des Kreises Schleiz Plakate abgerissen.
Karl-Marx-Stadt: Plauen 12 Plakate und 2 Fahnen, Werdau 2 Fahnen abgerissen.
Erfurt: Wingerode und Neuendorf, [Kreis] Worbis, Plakate, Badra, [Kreis] Sondershausen, 3 Plakate, Berufsschule Gotha 1 Transparent, Weimar 1 Transparent, Bendeleben, [Kreis] Sondershausen, 5 Plakate.
Schmieren von Hetzlosungen u. Ä.
Potsdam: In der Nacht vom 12. zum 13.10.1954 wurden in der Gemeinde Brügge, Kreis Pritzwalk, folgende Hetzlosungen angeschmiert: 1. »Niemals wird aus Brügge eine Kolchose«46 (am Tor der LPG), 2. »Fort mit der SED und freie Wahlen. Zerreißt die Wahlscheine« (Mauer vor der Bürgermeisterei), 3. »Freiheit, fort mit der SED, freie Wahlen, zerreißt die Wahlscheine« (Giebelseite der Bürgermeisterei), 4. »Fort mit der SED« (Haus der LPG). An zwei weiteren Stellen im Dorf wurde je ein Hakenkreuz gemalt.
In der Halle 12 des Industriewerkes Ludwigsfelde, [Kreis] Zossen, wurde eine Hetzlosung gegen die SU an die Toilettentür geschrieben.
Dresden: Großharthau, [Kreis] Bischofswerda, Hakenkreuz auf Wahlplakat, Görlitz in einer Telefonzelle mit Stempel »SED – oweh, oweh«. Görlitz zwei Hakenkreuze mit Säure auf die Straße geschmiert.
Frankfurt: Auf einem Transportband im EKS47 wurde zu einer Losung der Nationalen Front mit Kreide hinzugeschrieben: »Nicht nötig – mehr Lohn – wir streiken – mehr Lohn«.
Erfurt: In Schernberg, [Kreis] Sondershausen, wurden zwei Plakate beschmiert.
Diversionen: Im Industriewerk Ludwigsfelde, [Kreis] Zossen, wurde in der Halle 8 ein Elektrokabel durchgeschnitten. In Maschinen wurde anstelle Öl Farbe gegossen. Das Getriebe einer Maschine, welche für einen Verbesserungsvorschlag vorbereitet worden war, wurde nachts vollständig auseinandergenommen, sodass am nächsten Morgen der Versuch nicht vorgenommen werden konnte.48
In Piskowitz, Ortsteil Ickowitz,49 Kreis Meißen, [Bezirk] Dresden, wurden von einer Düngerstreumaschine ein Rad abmontiert, sämtliche Fettbuchsen abgeschraubt und auf das Feld geworfen.
Gerüchte: Ein Uhrmacher erklärte, dass die DHZ Textil liquidiert würde und einige Händler schon schriftlich Bescheid erhalten hätten, an welche Privathändler sie sich in Zukunft zu wenden haben. Die Liquidation solle sich auf weitere Handelszweige der DHZ ausdehnen.
Der VEB Schlachthof Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erhielt eine Lieferung Gefrierfleisch (Rindfleisch) aus Frankreich. Am 13.10.1954 fand ein privater Fleischermeister bei der Bearbeitung des Fleisches im Muskelfleisch des Bugstückes eine mit Quecksilber gefüllte Ampulle, welche vermutlich, als das Fleisch noch nicht gefroren war, unter die Fettschicht gesteckt wurde. Das Fleisch wurde in einem verplombten Kühlwagen nach Reichenbach geliefert.50
Einschätzung der Situation
Die Stimmung zur Volkswahl ist unverändert überwiegend positiv. Negative und feindliche Meinungen haben verhältnismäßig kleineren Umfang, wobei sich ein Teil der feindlichen Elemente bewusst zurückhält.
Verschiedentlich wird jetzt über das Aussehen der Stimmzettel zur Volkswahl Aufklärung verlangt. Dies ist zum Teil auch auf die Feindpropaganda zurückzuführen.
Die Verbreitung feindlicher Flugblätter und Hetzschriften hat sich weiterhin verstärkt.
Die teilweise bestehende Unzufriedenheit über die verschiedenartigsten Mängel in Handel und Versorgung hält an.
Nachtrag: Zurzeit treffen täglich 100 bis 150 Waggons Weintrauben aus den Volksdemokratien ein. Sämtliche Bezirke und Berlin weigern sich, die Weintrauben abzunehmen, da sie damit eingedeckt sind und von der Bevölkerung wegen des hohen Preises nur wenig gekauft wird. Falls der von der KIL vorgeschlagene Preis nicht bestätigt wird, verderben sämtliche zzt. anlaufenden Weintrauben.
Anlage 1 vom 14. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2340
Stimmen aus Westberlin zu den Senatswahlen am 5. Dezember 195451
In den verschiedensten Bevölkerungskreisen wird über die Beteiligung der SED an den Dezemberwahlen diskutiert. Bezeichnend dabei ist, dass diejenigen, die am meisten unter der schlechten wirtschaftlichen Lage zu leiden haben, wie z. B. die Arbeitslosen, Notstandsarbeiter, kleine Gewerbetreibende und andere mehr, ihre ganze Hoffnung auf die SED setzen. Einige bringen zum Ausdruck, dass sie annehmen, wenn die SED einige Sitze im Senat erhält, eine Besserung der wirtschaftlichen Lage eintritt. Zum Beispiel äußerte ein Erwerbsloser: »Hoffentlich kommt die SED bei den Dezemberwahlen so weit durch, dass sie ein paar Vertreter in den Senat bekommt. Dann kann man wenigstens den alten Bonzen etwas auf die Finger sehen. Wenn die SED durchkommt gibt es wenigstens Arbeit für uns und das ist das Allerwichtigste.«
Ein erwerbsloser Schuhvertreter brachte zum Ausdruck, dass er mit seinen Verwandten und Bekannten verabredet habe, die SED zu wählen, weil bei der Mitarbeit der SED im Senat ein Aufschwung der Wirtschaft zu erwarten sei.
Ein Schlosser (ehemaliges Mitglied der NSDAP, jetzt parteilos) erklärte: »Dass sich die SED an den Wahlen beteiligt, ist sehr gut. Die Politik des Senats kann kein Mensch mehr gutheißen. Die Deutschen müssen sich auf ihre eigene Kraft verlassen, aber nicht wie bei Hitler, sondern in Freundschaft mit anderen friedliebenden Völkern, dann wird auch kein Krieg mehr sein«.
In einer Unterhaltung auf dem Arbeitsamt in der Charlottenstraße brachten Erwerbslose ihre Zustimmung zur Beteiligung der SED an den Wahlen zum Ausdruck. Die Zulassung wäre nicht mehr wie richtig, da die SED eine in Westberlin zugelassene Partei ist. Es würde gar nichts schaden, wenn der Westsenat sieht, wie viele Menschen sich für die SED aussprechen. Es müsste der SED gelingen, genug Stimmen zu erhalten, damit sie im Parlament einige Sitze bekommt. Dann wäre eine Partei da, die den Arbeiter vertritt.
In einer anderen Unterhaltung verschiedener Erwerbsloser wurde zum Ausdruck gebracht, dass die SED unter den Erwerbslosen mehr Wähler finden wird, als man jetzt in Westberlin wahrhaben will. Wenn es die SED auf den Wahlversammlungen versteht, die Menschen auf eine richtige Art anzusprechen, die ihrer Mentalität entspricht und die von ihnen verstanden wird, dann wird sie noch viele Anhänger finden.
Eine Geschäftsfrau: »Ich werde dieses Mal die SED wählen. Vielleicht komme ich dann einmal zu etwas. Durch den jetzigen Senat wurde ich völlig ruiniert. Sie wirtschaften nur in ihre eigene Tasche.«
Eine Opernsängerin: »Kunst und Künstler sind in Westberlin zum Untergang verurteilt. Das ist im Osten ganz anders. Da wird für die Kulturschaffenden sehr viel getan. Ich glaube, dass bei dieser Wahl mancher Kollege für die SED stimmen wird. Das kann man verstehen, bei diesem ständigen Niedergang.«
In einem Lokal, welches von Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten besucht wird, wurden die Propagandamethoden der SED kritisiert. Es wurde u. a. zum Ausdruck gebracht, dass die SED als eine solche starke Partei es nicht nötig hätte, eine solche Propaganda zu betreiben und sie solle das Geld lieber für andere Zwecke verwenden. Allgemein wurde begrüßt, dass die SED zu den Westberliner Senatswahlen zugelassen ist.
In negativen Diskussionen sagt man der SED eine Wahlniederlage voraus und zum anderen sind einige Personen empört, das vom Senat die Zulassung erfolgte. Zum Beispiel sagte ein Angestellter: »Es ist eigentlich unverständlich, dass der SED die Beteiligung an der Wahl so erschwert wird. Man sollte ihr doch ruhig die Chance einer Wahlniederlage geben.«
Ein SPD-Abgeordneter sagte in einer öffentlichen Wahlversammlung: »Die SED führt jetzt einen großen Wahlrummel in Westberlin durch, um die Bevölkerung für die Wahl zu interessieren. Einige Tage vor der Wahl wird sie aber bestimmt ihre Kandidatur zurückziehen, da sie sowieso keine Chancen haben werden.«
Ein Angestellter: »Es wird doch niemand so dumm sein, und sich mit der Wahl der SED das russische Regime auf den Hals laden.«
Ein Arbeiter: »Es ist unerhört und empörend, die SED zuzulassen. Wenn für sie auch wenig Aussicht auf Erfolg besteht, so habe sie aber schließlich die Möglichkeit zu neuen Unruhen gefunden. Es wird nicht mehr lange dauern und wir haben die ersten Zusammenstöße. Bei uns hier in der Siedlung (Wittenau) gibt es noch viele SED-isten, die langsam kleinlaut geworden sind. Jetzt fangen sie aber schon wieder an, uns mit ihrem Schwindel [von] Frieden und Freiheit in den Ohren zu liegen. Das alles haben wir aber nur der SPD zu verdanken. Wenn die nicht dafür gestimmt hätte, wären die auch nicht mehr bei uns zu Wort gekommen.«
Ein Geschäftsmann: »Es wäre ein Fehler gewesen, die SED nicht zuzulassen. Dadurch wäre der Eindruck entstanden, dass man in Westberlin befürchte, die SED würde bei den Wahlen einen großen Erfolg erringen. Ich bin der Meinung, dass sie eine katastrophale Niederlage erleiden wird und ich hoffe auf einen Wahlsieg der SPD.«
Ein Westberliner Bürger äußerte, dass Jugendliche, vor allem aus den Flüchtlingslagern, die Anweisung erhielten, die Wahlversammlungen der SED durch Provokationen zu stören. Unter anderem sollen sie dem Referenten folgende Fragen stellen: Sind sie für freie Wahlen in ganz Deutschland unter Kontrolle der UN? Sind sie bereit, für das Streikrecht in der DDR einzutreten, wie es im Westen schon besteht? Wenn dadurch die Versammlungen nicht gestört werden, sollen diese Rowdys zu Tätlichkeiten greifen. Es würde ihnen volle Straffreiheit gewährt, auch wenn sie irrtümlicherweise verhaftet würden.
Zu der am 15.10.1954 in der Swinemünder Straße (Wedding) stattfindenden SED-Wahlversammlung sollen ca. 80 Jungstahlhelmer52 in Zivilkleidung hingeschickt werden (unbestätigte Meldung).
Anlage 2 vom 15. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2340
Auswertung der Westsendungen zur Volkswahl
In den letzten Tagen beschäftigten sich die Westsender in zahlreichen Sendungen mit den Volkswahlen in der DDR. Die darin geübte Hetze geht immer in die Richtung der Verleumdung der Regierung der DDR, der SED, unserer führenden Funktionäre und unserer demokratischen Errungenschaften. Dabei werden sämtliche Fragen des öffentlichen Lebens berührt, sei es die Arbeit der Parteien, Massenorganisationen, der demokratischen Schule, der Kirche oder Anderes. In mehreren Sendungen steht z. B. eine »schlechte FDJ-Arbeit« im Mittelpunkt.
Die in den Sendungen gegebenen Hinweise über das Verhalten der Bevölkerung bei der Wahl beschränken sich in verschiedenfacher Darstellung darauf, dass nach Möglichkeit die Wahlkabinen zu benutzen sind, mit »nein« gestimmt werden soll und dass keine unbedachten Handlungen vorgenommen werden sollen. So heißt es z. B. in einer Sendung des RIAS: »Wenn uns ein Besucher aus der Zone fragt, was er denn am 17.10.[1954] tun soll, dann können wir ihm nur eine Antwort geben. Gehen sie so spät wie möglich in die Wahllokale und schreiben sie, wenn es irgend geht, ein deutliches Nein auf den Zettel. Sie werden sich dann nichts vorzuwerfen haben, solange sie den Gesichtspunkt der persönlichen Sicherheit sorgfältig beachten.«
Auch in anderen Sendungen wird gefordert, erst nach 12.00 Uhr zur Wahl zu gehen, um damit eine ablehnende Haltung gegenüber der DDR zu demonstrieren. Weiterhin fordert der RIAS die Regierung der DDR auf, dass sie Anweisung geben soll, dass die Wahlkabinen zu benutzen sind und er hetzt, dass dies Ausdruck dessen wäre, dass es unserer Regierung »mit dem Bekenntnis zu freien Wahlen ernst ist« (Bezug nehmend auf die Ausführungen des Genossen Molotow53).54
Zur Beeinflussung der Bevölkerung gibt der RIAS die Parole heraus, bei den Diskussionen mit den Aufklärern mehr die Fragen im Zusammenhang mit dem neuen Kurs zu stellen, da dieser jetzt »offensichtlich wieder in den alten Kurs komme«.55
Der Sender »Freies Berlin« brachte einen Kommentar aus den Kreisen der evangelischen Kirche, wo zum Schluss die indirekte Aufforderung erscheint, sich an der Wahl nicht zu beteiligen.
Das »Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen« in Bonn hat in einem Aufruf an die Bevölkerung in der DDR dieselbe aufgefordert, sich an der Wahl zu beteiligen, »um sich nicht unnötig zu gefährden«. In dem Aufruf wird gehetzt, dass man sich beteiligen soll, auch wenn man davon überzeugt ist, dass die Wahl überhaupt keinen Wert habe und in der Welt auch gar nicht anerkannt wird.