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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

23. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2399 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Der Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge steht weiterhin im Mittelpunkt der Gespräche über politische Tagesfragen.1 In der Neptunwerft Rostock wurde negativ über die 21. ZK-Tagung diskutiert.2 So äußerte z. B. ein Arbeiter: »Durch die Maßnahmen, die man betreffs des 21. Plenums des ZK der SED durchführen will, wird man einen zweiten 17. Juni heraufbeschwören.«

Im Thomas-Müntzer-Schacht Sangerhausen,3 [Bezirk] Halle, herrscht unter den Kumpeln eine Missstimmung über den Berufsverkehr, da einige Autobusse ausgefallen sind bzw. zu spät zur Schicht eintrafen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Ersatzteile für die Busse nur durch die DHZ bezogen werden dürfen, welche keine zur Verfügung hat, während man diese Ersatzteile bei Privatfirmen erhalten kann.

Unter den leitenden Kollegen des VEB Gummiwerkes Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, ist eine Missstimmung vorhanden, weil der bestätigte Produktionsplan und Finanzplan für 1955 noch nicht vorliegt. Die Kollegen fragen, wie der Betrieb arbeiten soll, wenn am 1.1.1955 noch nicht bekannt ist, welche Lohnsumme, wie viel Arbeitskräfte und welche Produktion erfolgen soll. Es wurde geäußert, dass jedes Jahr dasselbe in Erscheinung tritt und man bis jetzt noch nicht daraus gelernt hat.

In einer Versammlung im VEB Buntmetall-Werk Hettstedt, [Bezirk] Halle, brachte der FDJ-Sekretär zur Sprache, dass die Kollegen der Abteilung Blech um 13.30 Uhr schon fertig gewaschen wären, trotzdem erst um 14.00 Uhr Feierabend sei. Dieses führte zu heftigen Diskussionen unter der Belegschaft. Man beschimpfte den FDJ-Sekretär in den Diskussionen als HJ-Führer, der den Arbeiter die freien Minuten rauben will, trotzdem sie ihr Tagessoll erfüllt hätten.

Im Kraftwerk Harbke, [Kreis] Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, wird von einem großen Teil der Kollegen negativ über die Zahlung der Gewerkschaftsbeiträge diskutiert. Ein Heizer äußerte: »Wozu soll ich die Beiträge bezahlen? Wer bekommt denn das Geld? Ich brauche die Gewerkschaft nicht.«

Im VEB Drehmaschinenwerk Zeulenroda, [Bezirk] Gera, sind viele Arbeiter über die beabsichtigte Umstellung der Produktion unzufrieden, weil sie befürchten, weniger Lohn zu erhalten. Ein Arbeiter äußerte hierzu Folgendes: »Es ist kein ehrliches Spiel, was hier getrieben wird. Um die Normen zu erhöhen, stellt man in den meisten Betrieben die Produktion um, damit die Arbeiter nicht mehr wissen, was in den jeweiligen Betrieben für Normen bestanden. Am 17.6.[1953] wurden die Normen wieder zurückgenommen, doch heute nimmt man eine indirekte Normenerhöhung vor, nachdem die neue Produktion nach festgesetzten Zeiten durchgeführt wird, mit denen nicht auszukommen ist.«

Unter den Arbeitern, besonders in der Abteilung Stahlwerk des Stahlwerkes Silbitz, [Bezirk] Gera, herrscht Unzufriedenheit. Auf Anordnung des Ministeriums für Eisen- und Hüttenindustrie wurde ein SM-Ofen stillgelegt.4 Dadurch wurden Arbeitskräfte frei, die jetzt anderweitig beschäftigt wurden, aber aufgrund dieser neuen Arbeit bis zu 100 DM weniger verdienen.

Im VEB Emaillierwerk Geithain, [Bezirk] Leipzig, ist die Belegschaft empört über den Beschluss des Gebiets- und Bezirksvorstandes. Die BGL-Vorsitzende des Betriebes hat DM 750 Gewerkschaftsgelder veruntreut. Die Belegschaft beschloss einstimmig, sie fristlos aus dem Betrieb zu entlassen, jedoch verlangt der Gebiets- und Bezirksvorstand Leipzig die Aufhebung dieses Beschlusses.

Absatzschwierigkeiten

Im VEB Füllfederhalterwerk Singwitz, [Bezirk] Dresden, lagert zzt. ein großer Posten fertiger Füllfederhalter, welche für einen Exportauftrag bestimmt waren. Da die Füllfederhalter Fehler aufweisen, wurden sie nicht abgenommen und anderweitiger Absatz ist bis jetzt noch nicht vorhanden.

Im VEB Elektrochemie Hirschfelde, [Bezirk] Dresden, ist zu verzeichnen, dass an manchen Tagen bis zu 16 Stunden der Strom abgeschaltet wird. Es besteht eine schlechte Stimmung unter den Arbeitern, da sie dadurch monatlich 60,00 bis 80,00 DM weniger verdienen.

Im VEB Mähdrescherwerk Weimar, [Bezirk] Erfurt, der seine Verpflichtung, für 1,3 Millionen DM Massenbedarfsgüter über den Plan hinaus herzustellen, erfüllt hat, bestehen Schwierigkeiten in der Frage des Transportes. Es handelt sich hierbei um Streuwaren für Mähdrescher, Kartoffelsortierer und Strohschneider, von denen jeweils einige Hundert Geräte versandfertig im Werk stehen. Die Reichsbahn ist zzt. nicht in der Lage, die nötigen Waggons zu stellen.

Unter den Arbeitern in der Schmiede des VEB »Heinrich Rau« in Wildau,5 [Bezirk] Potsdam, ist zzt. eine schlechte Stimmung zu verzeichnen, aus folgenden Gründen. Die 2 500 und 1 500 Tonnen Schmiedepressen haben für das 1. und 2. Quartal 1955 keine Aufträge erhalten, weil diese vom Ministerium für Schwermaschinen nicht eingeplant sind. Dadurch ist ein gewisser Arbeitsmangel in der Schmiede für das Planjahr 1955 entstanden und es werden bis zum 31.12.1954 vorerst 19 Schmiedearbeiter und drei Helfer entlassen. Unter den Arbeitern wird jetzt wie folgt diskutiert: »Wir haben es geschafft, dass der Plan vorfristig erfüllt wurde und jetzt kommen sie mit Entlassungen.«

Die Besatzung des Kutters SAS 249 vom Fischkombinat Saßnitz, [Bezirk] Rostock, musste wegen Maschinenschaden einen polnischen Hafen anlaufen. Der Kutterführer, der Steuermann und der Politleiter, alles Mitglieder der SED, verbreiten jetzt im Fischkombinat, dass ein polnischer Oberleutnant ihnen erklärt hätte, dass es wohl eine Deutsch-Polnische Freundschaft gibt, aber keine polnisch-deutsche Freundschaft. Hierüber wird jetzt allgemein negativ im Fischkombinat diskutiert.

Produktionsstörungen

Am 20.12.1954 trat eine Betriebsstörung im VEB Mühlenwerke Langensalza, [Bezirk] Erfurt, ein. Ursache: Durch mangelnde Aufsichtspflicht konnte es passieren, dass von den großen 8-teiligen Schrottplansichter6 die linke Hälfte auseinanderflog. Gesamtschaden, einschließlich Produktionsausfall: ca. 5 000 DM.

Am 21.12.[1954] musste das Kraftwerk Calbe, [Bezirk] Magdeburg, zwei Stunden stillgelegt werden, da der Kesseldruck in den Kesseln zu hoch war. Die Sicherheitsventile öffneten sich, schlossen sich jedoch nicht wieder.

Handel und Versorgung

Teilweise besteht ein Mangel an Waren, besonders für den Weihnachtsbedarf. Dies tritt meist in ländlichen Gemeinden auf. So klagt z. B. die Landbevölkerung des Kreises Eisenberg, [Bezirk] Gera, über Mangel an Fischkonserven, Nüssen, Rosinen, Süßwaren usw.

In einigen Kreisen des Bezirkes Potsdam, besonders in den Kreisen Kyritz, Wittstock und Pritzwalk, sind Apfelsinen, Bananen, Nüsse, Zitronen u. a. sehr gefragt. In den Kreisen Königs Wusterhausen und Luckenwalde besteht ein großer Mangel an HO-Schmalz.

In Köthen, [Bezirk] Halle, fehlt es an Fischwaren, Käse, Quark, Eiern und Honig und bei Textilien an Haushaltswäsche, Oberhemden und Möbelbezugsstoffen. In den Bezirken Cottbus und Schwerin ist das Angebot an den aufgeführten Textilien ebenfalls nicht ausreichend.

Über mangelhafte Warenstreuung wird aus dem Bezirk Schwerin berichtet. So stehen den Städten Perleberg und Wittenberge genügend Eier zur Verfügung, während es in der Stadt Schwerin keine gibt. In den Kreisen Perleberg, Güstrow, Parchim, Lübz und Bützow ist in den ländlichen Gebieten die Nachfrage nach Zündhölzern sehr groß. Die Konsumverteilungsstelle Lübz erhielt Sommerkleider, wogegen Winterbekleidung fehlt.

Im Kreis Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, ist seit einigen Wochen die Kohlenversorgung für die HO-Geschäfte und -Gaststätten sehr mangelhaft.

Die HO Lebensmittel im Kreis Quedlinburg, [Bezirk] Halle, muss im I. Quartal 1955 140 Angestellte entlassen, da die Lohnsumme gesenkt werden soll.

Landwirtschaft

Im Vordergrund der Diskussionen über politische Tagesfragen steht der Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Abkommen. Zur III. LPG-Konferenz wird nur wenig diskutiert. Vereinzelt treten Unklarheiten über die Aufnahme von Großbauern in die LPG auf,7 wovon selbst SED-Mitglieder betroffen werden. So erklärte z. B. der Parteisekretär im Bezirksvorstand der VdgB (BHG) Magdeburg: »Ich bin auf keinen Fall damit einverstanden, dass man Großbauern in die LPG aufnimmt. Genosse Stalin würde sich die Haare raufen, wenn er noch lebte und sähe, dass die SED von der Linie abweicht. Da kommt man in Widerspruch mit der KPdSU, noch dazu, wenn man Zirkelleiter der Geschichte der KPdSU ist. Die Kulaken auf den Kolchosen haben nur Schaden angerichtet.8 Dasselbe wird sich auch bei uns zeigen.«

Die Bauern aus dem Gebiet von Mulkwitz, [Kreis] Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, sind darüber empört, dass der dortige Übungsplatz der KVP vergrößert wird,9 wozu privater Bauernwald beschlagnahmt worden sei, ohne die Bauern zu fragen oder ihnen Ersatz zur Verfügung zu stellen.

Über mangelhafte Arbeit der BHG sind mehrere Bauern der Gemeinde Kiekebusch, Kreis Königs Wusterhausen, [Bezirk] Potsdam, unzufrieden. Sie haben vor etwa einem viertel Jahr Industriekartoffeln abgeliefert, die von der BHG sehr schlecht abgedeckt wurden. Jetzt erhielten sie von der VEAB den Bescheid, dass ihnen von den Kartoffeln 50 Prozent Schwund abgezogen wird.

Am 16.2.1954 sollte in der Gemeinde Rosenhagen, Kreis Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg, eine Bauernversammlung mit dem Thema: »Gründung der LPG« stattfinden. Der zuständige Referent, Leiter der Abteilung LPG beim Rat des Kreises, erschien nicht. Dies löste unter den Bauern der Gemeinde ein großes Missfallen aus.

Im VEG Welsleben, das bis zum 31.12.[1954] der Verwaltung des Gutes Groß Ottersleben, Kreis Magdeburg, untersteht, bestehen verschiedene Missstände. So befanden sich z. B. 40 Rinder den ganzen Sommer über ohne Pflege auf der Weide, wodurch sie völlig verschmutzten. Ehemalige Großbauerngehöfte, die vom Gut bearbeitet werden, sind ebenfalls verwahrlost. So liegt z. B. in einem Kuhstall der Mist 1 m hoch. Unter der Bevölkerung wird dazu diskutiert, dass man sich nicht wundern braucht, wenn Tierseuchen ausbrechen. Die Parteileitung des Gutes arbeitet nicht. Es kam z. B. vor, dass die Leitungsmitglieder acht Tage lang auf Jagd gingen, ohne sich um das Gut zu kümmern. Kartoffelmieten sind zum Teil schlecht verdeckt. Einige Mieten wurden bereits durch den Wind abgedeckt, sodass ein Teil der Kartoffeln erfror. Nach Angaben des Wirtschaftsleiters mangelt es an Arbeitskräften.

Waggonmangel besteht in der Gemeinde Althagen, [Kreis] Ribnitz, [Bezirk] Rostock, wodurch die Bauern bereits 14 Tage auf den Abtransport ihrer Kartoffeln warten.

Am 10.12.1954 wurde auf dem volkseigenen Gut Bornhof, [Kreis] Waren, [Bezirk] Neubrandenburg, die Schweinepest festgestellt. Bisher sind 29 Tiere verendet. Der Bestand beträgt 2 013 Schweine. (Am 20.11.[1954] wurden aus Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg, 396 Schweine aufgekauft.)

Die Schweinemästerei Kochstedt, Kreis Dessau, [Bezirk] Halle, erhielt vom Handelskontor Wittenberg Schweine, wobei entgegen den Gesetzen bis zu 80 Schweine in einem Waggon untergebracht waren (60 sind nur gestattet). Einige Schweine waren verendet, einige müssen noch notgeschlachtet werden.

Übrige Bevölkerung

Auch unter der übrigen Bevölkerung wird zu den politischen Tagesfragen gering, aber überwiegend positiv, diskutiert. Hauptgegenstand der Gespräche sind die Stellung Ollenhauers10 bei der Bundestagsdebatte11 und die Maßnahmen der DDR bei eventueller Ratifizierung der Pariser Verträge.

Mit dem Näherrücken des Weihnachtsfestes haben die Diskussionen über ein schlechtes Warenangebot für Weihnachten nachgelassen.

Anlässlich einer Diskussion über die Weihnachtszuwendungen kam es unter den Angestellten der Kreiskonsumgenossenschaft Beeskow, [Bezirk] Frankfurt, zu sehr negativen Diskussionen.12 Zum Beispiel diskutierten ein Kollege und eine Kollegin wie folgt: »Im vorigen Jahr hat es 40,00 DM gegeben, jetzt gibt es nur noch 35,00 DM.13 Jedes Jahr wird es weniger. Das sind richtige kapitalistische Machenschaften. Bei uns wird sehr stark über diese Frage diskutiert. Wenn doch bloß alle die Arbeit niederlegen würden, dann säßen sie da. Wie war es denn am 17. Juni 1953 – große Spannungen, dann ein bisschen Ruhe und anschließend wurde was gegeben, um das Volk zu beruhigen. Damals konnten sie nicht mehr und jetzt stehen sie genauso da. Es gibt ja keine Ware, sondern nur Dreck. Aufgrund der internationalen Spannungen ist es jetzt wieder ruhig, und dann kracht es bald wieder – aber dann kracht es richtig.«

In den Hoch-, Fach- und Oberschulen Magdeburgs wird dem politischen Geschehen durch die Lehrer und Schüler teilweise wenig Beachtung geschenkt. Zum anderen kommt es vereinzelt zu sehr negativen Diskussionen. Zum Beispiel werden in der Ingenieurschule für Bauwesen politische Probleme nur am Rande behandelt und die Schulleitung greift auch nicht ein, wenn vonseiten einzelner Dozenten negative Diskussionen geführt werden. In der »Käthe-Kollwitz-Oberschule« griff die Schulleitung bei negativen Diskussionen nicht ein. Zum Beispiel sagte ein Oberschüler: »Hitler war ganz in Ordnung. Dass er wahnsinnig wurde, dafür kann keiner. Unsere Volkswahlen waren doch nur Betrug am Volke.14 Der 17.6.1953 war berechtigt und die KVP wollte ebenfalls meutern. Auch hier in der DDR besteht eine Ausbeutung.« Auch an der Hochschule für Schwermaschinenbau sprachen sich mehrere Studenten gegen die Volkswahlen aus. In einer Seminargruppe wurden antisowjetische Schmierereien an der Wandtafel angebracht. Da zzt. noch große Schwierigkeiten in der Unterbringung der Studenten bestehen und diese oftmals bei bürgerlichen Familien wohnen, wird hierin eine Ursache schlechter Diskussionen gesehen.

Aus den Kreisen der Kirche

Die negativen Stellungnahmen der Kirche richten sich weiterhin besonders gegen die Jugendweihen.15 Zum anderen wird aber auch durch andere Maßnahmen versucht, die Jugend für die Kirche zu gewinnen. Zum Beispiel äußerte ein Pfarrer aus Zoppoten, [Kreis] Lobenstein, [Bezirk] Gera, zum Organisten: »Wenn Sie sich auf dem Gebiet der Jugendweihe irgendwie betätigen, dann sind Sie die längste Zeit Organist gewesen. Im brandenburgischen Kirchenblatt steht auch schon geschrieben, dass alle Schüler und Schülerinnen, die an den Zusammenkünften für die Jugendweihe teilnehmen, am Palmsonntag nicht konfirmiert werden.16 Bei uns hier werden auch noch Maßnahmen ergriffen werden, damit die Teilnehmer der Jugendweihe vom Konfirmieren ausgeschlossen werden.«

Ein Pfarrer aus Rostock richtete Schreiben an die Eltern von Konfirmanden, in denen er erklärte, dass Schulentlassungsfeiern eine antichristliche Handlung seien und er keinen konfirmieren könne, der an diesen Feiern teilnimmt.

In der Gemeinde Hohennauen, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, erhält der Pfarrer laufend Pakete aus Westdeutschland, deren Inhalt er an Mitglieder der »Jungen Gemeinde« oder an andere Jugendliche, die er für die »Junge Gemeinde« gewinnen will, verteilt. Die FDJ-Arbeit wird in dieser Gemeinde immer schlechter und die Jugendlichen sagen: »Was sollen wir in der FDJ, wenn wir in der ›Jungen Gemeinde‹ obendrein noch Pakete bekommen?«

Von Jugendlichen des Kreises Forst, [Bezirk] Cottbus, wurde geäußert, dass vom 28.12.[1954] bis 5.1.1955 in Essen (Westdeutschland) ein Treffen der »Jungen-Gemeinde« stattfinden soll, wozu die Fahrtkosten u. a. Ausgaben von dort getragen würden.

Bei einer Aussprache mit der Abteilung Gesamtdeutsche Arbeit beim Rat des Kreises Altenburg, [Bezirk] Leipzig, wurde bekannt, dass die aus Westdeutschland kommenden Personen oftmals nur die Kleidungsstücke besitzen, die sie auf dem Leibe tragen und nun um Ausstattung bitten. Die Abteilung hat jedoch keinerlei Möglichkeit, hier zu helfen. Da auch die Volkssolidarität keine Unterstützung geben kann, gehen diese Personen seit längerer Zeit zum evangelischen Hilfswerk und lassen sich dort vollständig einkleiden. Die Angestellten des Hilfswerks sagen dazu Folgendes: »Kommen Sie ruhig zu uns. Wir sind gern bereit, Ihnen zu helfen, wenn sie der Rat des Kreises nicht unterstützen kann, weil dazu kein Geld vorhanden ist. Sie bekommen bei uns Ihre Kleidung kostenlos.«

Im Bezirk Dresden kommt es immer wieder zu heftigen Diskussionen über die Störung des Rundfunkempfanges. Dabei wird oftmals auch gegen unsere Regierung Stellung genommen und auch die Rundfunkfachmänner nutzen dies zur Hetze aus. Unter anderem sagen sie oftmals bei jeder Störung im Empfang, dass daran »Störsender« die Schuld tragen,17 wenn auch andere Fehler im Apparat sind. Zum Beispiel sagte ein Einwohner von Wilsdruff (Friseurmeister), als er zu einer öffentlichen Hörerversammlung eingeladen wurde: »Solange die absichtlichen Störungen nicht beseitigt werden, habe ich auch auf solchen Versammlungen nichts verloren.« Ein Einwohner aus Dresden: »Ich betrachte es als eine gewaltsame Beschränkung der demokratischen Freiheiten, wenn man daran gehindert wird, alle Sender zu hören.«

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverbreitung

SPD-Ostbüro:18 Magdeburg, Kreis Oschersleben, 3 000, Cottbus 2 300, davon Kreis Calau 2 000, Karl-Marx-Stadt, Kreis Zwickau, 1 700, Kreis Glauchau 1 300, Potsdam 96, Halle 47. Inhalt: gegen Nationale Streitkräfte und Aufforderung zum »langsam-Arbeiten«.

NTS:19 Frankfurt/Oder, Kreis Angermünde, 5 000, Potsdam 200, Neubrandenburg 60, Dresden 40, Karl-Marx-Stadt 25.

In tschechischer Sprache: Dresden, Kreis Kamenz, 1 000.

»Tarantel«:20 Potsdam, Kreis Jüterbog, 1 000.

Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde sichergestellt.

Im Pasewalk wurden 48 gefälschte Kraftstoffmarken á 5 Liter gefunden.

Beim Stapellauf des Fahrgastschiffes »Ernst Thälmann« in Wismar, [Bezirk] Rostock, schrieb ein Arbeiter mit Kreide »Mist« an das Schiff.

Am 21.12.[1954] wurde in dem VEB Spinnerei und Weberei Ebersbach, Kreis Löbau,21 [Bezirk] Dresden, ein Plakat gegen die Pariser Verträge durch Überkleben mit beschriebenen Papierstreifen so verändert, dass es hieß: »Unsere Forderung – unverzüglich Verhandlungen der Großmächte nach dem Vorschlag der Westmächte – Weg mit den Moskauer Verträgen«.22

Ein Schichtfahrer der MTS Schmatzin, Kreis Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg, versuchte zwei Jugendliche, die mit dem Vorsitzenden der dortigen LPG eine Auseinandersetzung hatten, zu veranlassen, aus der LPG auszutreten und nach Westberlin republikflüchtig zu werden.

Eine im Oktober 1954 republikflüchtig gewordene Einwohnerin aus Iven, Kreis Anklam, fordert jetzt in Briefen zur Republikflucht auf. So erhielten z. B. vier Jugendliche, beschäftigt in der LPG Iven, derartige Briefe, wonach sie aus der LPG austreten und nach Westberlin gehen sollen.

Anlage vom 23. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2399

Stimmen zum Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge

Die politischen Gespräche werden weiterhin durch die gegenwärtige politische Lage bestimmt, die sich durch das Pariser Abkommen ergeben hat. Aufgrund des starken Friedenswillens und der Erkenntnis von der Gefahr, die sich aus den Pariser Verträgen ergibt, wird von der Bevölkerung in der Mehrzahl positiv zu diesen Problemen Stellung genommen. Immer wieder wird erklärt, dass alles zur Verhinderung der Pariser Verträge und somit zur Verhinderung der Remilitarisierung Westdeutschlands getan werden muss, und wenn dies nicht gelingen sollte, dass dann in der DDR Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden müssten. In zahlreichen Schreiben an die Abgeordneten des Bonner Bundestages appelliert man, alles zur Verhinderung der Pariser Verträge zu tun.

In diesem Zusammenhang nimmt man auch zur ersten Lesung der Verträge im Bonner Bundestag und zur gegenwärtigen Debatte in der französischen Nationalversammlung Stellung. Die Äußerungen sind ausschließlich positiv und stammen meist von Arbeitern und Angestellten aus den Betrieben. Zum Beispiel sagte ein Angestellter aus dem Walzwerk Hettstedt, [Bezirk] Halle: »Wir haben wieder erlebt, dass Ollenhauer mächtig auf die Pauke gehauen hat. Wenn er aber zu seinen Worten stehen müsste, würde es anders aussehen.«

Ein Arbeiter aus dem Stickstoffwerk Piesteritz, [Bezirk] Halle: »Ollenhauer hat doch eine Macht da drüben. Er müsste zu Protestdemonstrationen aufrufen. So wie er gesprochen hat, müsste er auch handeln, dann käme es nicht zur Ratifizierung.«

Ein Rentner aus Fürstenwalde: »Noch gibt es Menschen in Westdeutschland und auch in der DDR, die von der Ehrlichkeit der Worte Ollenhauers und dessen Politik überzeugt sind. Ich kann dies nicht verstehen, denn die SPD-Führung hat bisher immer die Arbeiterklasse verraten und warum sollten sie es gerade jetzt ehrlich meinen.«

Ein Angestellter aus Halle: »Hoffentlich gelingt es der französischen Nationalversammlung, die Pariser Verträge genauso abzulehnen wie den EVG-Vertrag.23 Dies wäre nur zu begrüßen.«

Ein Einwohner aus Friedrichsbrunn, [Bezirk] Halle: »Die Widersprüche verstärken sich von Tag zu Tag und man muss ernsthaft besorgt sein, was der morgige Tag bringt. Noch ist es nicht zu spät, nachdem in der französischen Nationalversammlung die Mehrheit der Abgeordneten sich gegen die Pariser Verträge ausspricht.«

Wie bereits berichtet, nehmen die Diskussionen über die Aufstellung Nationaler Streitkräfte nur noch einen kleinen Raum ein, sie sind aber in der Mehrzahl ablehnend. Die Äußerungen lassen immer wieder die großen Unklarheiten über den Charakter Nationaler Streitkräfte erkennen und deshalb überwiegen in dieser Frage die pazifistischen Tendenzen. Man betont, für den Frieden zu sein, von einem neuen Krieg nichts wissen zu wollen und aus dem Grund lehne man es ab, jemals wieder eine Uniform anzuziehen oder wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen.

Im VEB Zeiss – in dem DDR-Disponentenbüro – wurde von der Mehrzahl der Kollegen zum Ausdruck gebracht: »Wir brauchen keinen Krieg und werden deshalb nicht auf unsere Brüder in Westdeutschland schießen. Keiner von uns ehemaligen Soldaten wird jemals wieder eine Waffe in die Hand nehmen, ganz gleich, was für ein Krieg sich abspielt. Kriege sind zur Vernichtung von Menschen und daher sollte sich niemand dafür hergeben.«

Ein Jugendlicher aus dem VEB Pianoforte Seifhennersdorf, [Kreis] Zittau: »Wir Jugendlichen in unserem Betrieb sind uns alle einig, uns nicht einziehen zu lassen, wenn es soweit sein wird.«

Mehrere Hausfrauen in Frankfurt erklärten, dass sie im Falle der Einberufung ihrer Männer diese nicht gehen lassen wollen. Sie begründen es damit, dass sie noch vom letzten Krieg genug haben, wo sie ständig um ihre Männer gebangt haben.

Verschiedentlich zeigt sich, dass die Kriegsgefahr, die durch die Remilitarisierung in Westdeutschland heraufbeschworen wurde sowie der aggressive Charakter des Imperialismus nicht erkannt werden. Zum Beispiel herrscht unter den Arbeitern der Gießerei des VEB IKA Grimma, [Bezirk] Leipzig, folgende Meinung vor: »Mit den Pariser Verträgen ist es gar nicht so schlimm, denn nach der Ratifizierung sollen ja Verhandlungen zwischen den Großmächten stattfinden. Außerdem erfordert die Aufstellung einer Armee von 500 000 Mann mindestens eine Zeit von zwei Jahren. In dieser Zeit kann sich manches ändern, z. B. könnten freie Wahlen für ganz Deutschland durchgeführt werden.«

Ein werktätiger Einzelbauer aus [der] Gemeinde Särka, [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden: »Man sollte mehr Wert auf die Entwicklung der Landwirtschaft legen und nicht soviel von der Gefahr eines Krieges sprechen. Ich bin für den Frieden und bin deshalb der Meinung, dass wir keine Nationalen Streitkräfte brauchen. Denn wenn wir keine Streitkräfte aufstellen, kann der Westen gegen uns auch keinen Krieg führen.«

Vereinzelt kommen aus den Kreisen der Neubürger24 Diskussionen gegen die Oder-Neiße-Friedensgrenze sowie die Forderung der Rückgabe ihrer Heimat. Zum Beispiel sagte ein Arbeiter aus dem VEB Framo-Werke in Hainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Der Frieden wäre morgen für ganz Europa da, wenn Pommern und Niederschlesien an Deutschland und die Ukraine an Polen zurückgegeben würden.«

Eine Hausfrau aus Bortewitz, [Bezirk] Leipzig: »Ich habe genug vom Krieg und bin der Meinung, dass die Ostgebiete wieder zurückgegeben werden müssten. In meiner Heimat in Pommern hätte ich mein Auskommen und bräuchte keine Fürsorge zu beziehen.« Eine Hausfrau aus der gleichen Gemeinde: »Wir wollen alle in Frieden leben und unserer Arbeit nachgehen. Wir möchten ein einiges Deutschland, aber mit Ostpreußen und Schlesien, unserer Brotkammer.«

Die Gerüchteverbreitung und die Hetze feindliche Elemente hält weiterhin an, nimmt aber einen verhältnismäßig geringen Raum ein. Im VEB Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt wurde das Gerücht verbreitet, dass ab 1. Januar 1955 die Einberufung von Jugendlichen erfolgen würde und damit die Verschlechterung des Lebensstandards einsetzte.

In der Kyffhäuserhütte Artern, [Bezirk] Halle, erklärten einige Jugendliche zur VP-Werbung, dass diese Werbung gegen die Beschlüsse der Regierung sei, da bereits die Gestellungsbefehle bei den Räten der Kreise bereitlägen.25

Aus dem VEB Ofen und Herde Stolpen, [Kreis] Sebnitz, [Bezirk] Dresden, erklärte ein Jugendlicher ebenfalls zur KVP-Werbung: »Sie sollen nur kommen, wenn sie was wollen. Ich werde denen einen Eimer Farbe über den Schädel gießen.«

Im VEB Framowerk in Hainichen äußerte ein Arbeiter gegenüber mehreren Jugendlichen: »Wenn ihr zur KVP gehen sollt, reißt aus, versteckt euch vor denen, denn die haben sowieso nichts Gutes für euch übrig.«

Im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Pariser Verträge sagte ein LPG-Mitglied aus Apolda, [Bezirk] Erfurt: »Adenauer ist der richtige Staatsführer,26 welcher in der Lage ist, eine Veränderung der politischen Lage zugunsten der Westmächte herbeizuführen. Dies ist gar nicht mehr so weit entfernt und der größte Teil der Bevölkerung in der DDR ist dafür.«

In einer Hausversammlung erklärte ein Dachdeckermeister aus Bützow, [Bezirk] Schwerin, dass man ihn mit der ganzen Politik in Ruhe lassen solle, denn alles das, was bei uns geschieht, wäre Lug und Trug und damit wolle er nichts mehr zu tun haben.

Ein Tapeziermeister in Perleberg, [Bezirk] Schwerin, wurde von der Nationalen Front zu einer Stellungnahme zur Moskauer Konferenz aufgefordert.27 Diese Erklärung wurde in Form von Handzetteln unter der dortigen Bevölkerung verteilt. Daraufhin erschienen bei ihm Kunden, die erklärten, dass er wohl im betrunkenen Zustand diese Stellungnahme abgegeben haben müsse. Unter anderem erklärte eine Kundin, dass sie 30 Jahre bei ihm hätte arbeiten lassen, dass sie es aber jetzt ablehne, seine Arbeit wieder in Anspruch zu nehmen. Des Weiteren erhielt er eine Reihe anonymer Drohbriefe.

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