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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

24. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2400 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Im Mittelpunkt der Diskussionen über politische Tagesfragen stehen noch immer die Gespräche über den Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge.1

Im Bezirk Potsdam wird in den Betrieben in den letzten Tagen vorwiegend über die am 20.12.1954 in Kraft getretene Magistrats-Verordnung diskutiert, meist positiv.2 Hierzu einige Beispiele: Ein Arbeiter vom VEB »Heinrich Rau« Wildau: »Das hätten sie schon längst machen müssen, dann hätten auch die Westberliner gemerkt, dass unsere Mark einen Wert hat.« Ein anderer Kollege aus demselben Betrieb äußerte: »Die Wahl am 5.12.1954 in Westberlin hat gezeigt, dass die meisten Westberliner die Spaltung für angenehm empfinden, denn sonst wäre die Wahl anders ausgefallen.3 Aber es ist ja angenehm, für eine Westmark bei uns drei Bockwürste zu essen.«

Im Zusammenhang mit der 21. ZK-Tagung wurden uns aus der Warnow-Werft Warnemünde, [Stadt] Rostock, folgende Diskussionen bekannt:4 Ein Rohrleger erklärte, dass die Beschlüsse des 21. Plenums richtig seien, diese aber schon ein Jahr früher hätten kommen müssen. Ein anderer Rohrleger äußerte: »Die Werft wird nie rentabel arbeiten, wenn man nicht einige Bummelanten fortjagt, die uns in der Arbeit hindern.«

In einigen VEB in Berlin werden von den Kollegen Gespräche geführt, die zum Ausdruck bringen, dass es eine ungerechte Regelung sei, dass die Arbeiter in den Produktionsbetrieben die fehlende Arbeitszeit am 24. und 31.12.[1954] vor- bzw. nacharbeiten müssen, währenddem die Angestellten in den staatlichen Verwaltungen dies nicht brauchen.5 Hierzu äußerte ein Arbeiter aus dem VEB Globus Berlin,6 dass es gegen die Gesetze verstößt, wenn man den Angestellten in den staatlichen Betrieben die Zeit freigibt, während in den VEB die Zeit nachgearbeitet werden muss. Ein anderer Kollege aus demselben Betrieb ließ verlauten, dass es in den Betrieben Härten gebe, die nach dem 17.6.1953 abgeschafft worden wären, aber jetzt wieder eingeführt werden.7 Mit Gleichberechtigung hätte diese Bestimmung jedenfalls nichts zu tun. Die Härten könnten außerdem die Gefahr eines 17. Juni aufkommen lassen.

In der Abteilung Materialversorgung bei der Hauptverwaltung Wasserwerke wurde eine Strukturveränderung durchgeführt und in diesem Zusammenhang verschiedene Kündigungen per 31.12.1954 ausgesprochen. Diese Entlassungen werden von den Kollegen des Betriebes heftig diskutiert und dabei zum Ausdruck gebracht, dass es nicht richtig sei, diese Kündigungen vor Weihnachten auszusprechen. In der Versammlung der Belegschaft, wo diese Kündigungen bekannt gegeben wurden, rief ein Kollege (der nicht entlassen wird) empört aus: »Was sagt denn der Gemüse-Bund dazu,8 ich trete aus, bei mir braucht keiner mehr zu kassieren. Mir braucht auch keiner etwas zu erzählen. Der gesamte Osten steht kurz vor dem Zusammenbruch.«

Der VEB Kabelwerk Köpenick, Berlin hat für das Jahr 1955 noch keinen Produktionsplan erhalten. Durch das Ministerium für Schwermaschinenbau wurde lediglich mitgeteilt, dass in diesem Jahr mit der Übergabe des Planes nicht mehr zu rechnen ist. Dieser Zustand bedeutet gerade für das Zweigwerk Adlershof eine ernste Schwierigkeit, da für dieses Werk noch keinerlei Aufträge für nächstes Jahr vorhanden sind. Ähnlich ist es in verschiedenen anderen Betrieben.

Kohlenmangel: In den Baumwollspinnereien des Kreises Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sind keinerlei Vorräte an Brennmaterial vorhanden und es besteht die Gefahr, dass die Produktion eingestellt werden muss.

Im VEB Brauerei Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, kann ab 23.12.1954 wegen Kohlenmangel nicht mehr produziert werden. Der Betrieb hat einen Vertrag mit der DHZ Babelsberg abgeschlossen, wonach derselbe für den Monat Dezember noch 50 Tonnen Kohle zu bekommen hat.

Materialschwierigkeiten: Im VEB Schuhfabrik Weida, [Bezirk] Gera, fehlt es an hochwertigem Material wie Boxcalf,9 Porokrepp10 usw. Dadurch besteht die Gefahr, dass im 1. Quartal der Plan wegen Materialmangel nicht erfüllt werden kann. Diese Tatsachen rufen unter den Arbeitern Verärgerung und Unruhe hervor.

Im VEB Keksfabrik Bad Liebenstein, [Bezirk] Suhl, fehlt es an Verpackungsmaterial. Es handelt sich hierbei besonders um Ersatz-Pergament-Papier. Die Zellstoff- und Papierfabrik in Erfurt,11 welche ihre Lieferverträge nicht eingehalten hat, müsste noch 700 kg Verpackungsmaterial liefern. Der Betriebsleiter von der Keksfabrik äußerte, dass der Betrieb die Produktion einstellen muss, wenn das Pergament nicht schnellstens geliefert wird. Export-Aufträge und Verträge mit der HO können aufgrund dessen nicht eingehalten werden.

Produktionsstörungen

Am 22.12.[1954] entstand im Transformatorenhaus in Burgstädt, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ein Brand. Die Trafo-Station brannte völlig aus und es entstand ein Sachschaden von ca. 10 000 DM. Ursache: Vermutlich Kurzschluss in einem Ölschalter.

Im Braunkohlenwerk Deuben, [Bezirk] Halle, fiel der Bagger I im Abraum Pigau,12 [Bezirk] Halle, durch Bruch des Kondenrollenlagers am Schaufelradantrieb und Bruch der Rohrleitung zur Ölpumpe aus. Schaden ca. 6 000 DM.

Handel und Versorgung

Weiterhin besteht ein Mangel an Waren, besonders für den Weihnachtsbedarf, was sich vor allem in ländlichen Gemeinden bemerkbar macht. So fehlen z. B. in den Landkreisen des Kreises Wittenberg, [Bezirk] Halle, Süßwaren und Gebäck, während in der Stadt Wittenberg genügend vorhanden sind. Im Bezirk Rostock ist die Nachfrage nach Südfrüchten groß. Im Kreis Großenhain, [Bezirk] Dresden, ist der Vorrat an Schokolade, Pralinen und Baumbehang fast verkauft, die Nachfrage ist jedoch noch groß.

Das Großhandelskontor Haushaltswaren in Gera hat man 9.12.1954 einen Waggon mit Glaswaren aus der ČSR erhalten, die von der Bevölkerung dringend benötigt werden. Bis heute liegt vom DIA noch keine Rechnung vor, sodass die Waren zu Weihnachten nicht mehr verkauft werden können.

Landwirtschaft

Im Vordergrund der Gespräche über politische Tagesfragen steht weiterhin der Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge.

Die Bauvorhaben bei der MTS Groß Molzahn, Kreis Gadebusch, [Bezirk] Schwerin, wurden wegen Kürzung der Haushaltsmittel nicht fertiggestellt. Es müssen noch Öfen, Kabel und Anderes eingebaut werden. Die Traktoristen der MTS griffen deshalb zur Selbsthilfe. Sie bauten Ofenanlagen ein, die allen Feuerschutzbestimmungen widersprechen. Ähnlich ist es bei dem Anbringen der Kraftstromleitungen. Durch das Einstellen der Bauarbeiten besteht unter den MTS-Angehörigen eine schlechte Stimmung und es kommt immer wieder zu negativen Diskussionen gegen die staatliche Verwaltung.

Unter den Bauern der Gemeinde Suckow, [Bezirk] Schwerin, besteht Verärgerung, weil sie bei der Viehablieferung an die VEAB sechs bis acht Stunden warten müssen, ehe es ihnen abgenommen wird.

Verschiedentlich besteht Waggonmangel für den Abtransport von Zuckerrüben. So fehlen z. B. in den Gemeinden Mittenwalde, Blankensee und Kienwerder, Kreis Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, seit ca. drei Wochen Waggons. In den drei Gemeinden lagern noch ca. 1 000 t Zuckerrüben. Der Rat des Kreises wurde verständigt, es wurde jedoch keine Abhilfe geschaffen.

In der LPG Atzendorf, Kreis Staßfurt, [Bezirk] Magdeburg, ist die Waggongestellung ebenfalls unzureichend.

Im ÖLB Jeseritz, Kreis Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg, beeinflusst ein vor vier Wochen aus Westdeutschland eingereister Kollege die Arbeiter negativ. So erklärte er unter anderem: »Hier in der DDR gibt es doch nichts zu kaufen. Im Westen war es viel besser. Ich bin gewohnt, jeden Tag Bohnenkaffee zu trinken. Leider bin ich auf die Propaganda der DDR reingefallen und hergekommen.«

Missstände in LPG und VEG

In der LPG »Freundschaft« in Wüstmark, [Kreis] Schwerin, besteht durch mangelhafte Arbeit des Vorsitzenden ein Defizit von 50 000 DM. Weiterhin ist die Futterversorgung nicht gesichert. Das Futter reicht bis ungefähr Ende Januar 1955. Die Mittel, die zum Ausbau von Schweineställen bereitgestellt wurden, wurden zum Bau von Hühnerställen benutzt, obgleich zzt. die Kleintierhaltung für die LPG ungeeignet ist. Vorbereitungen zur Frühjahrsaussaat wurden noch nicht getroffen.

Der Vorsitzende der LPG Ketzür, Kreis Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, hat sich auf Kosten der LPG seine privaten Wohngebäude ausbessern lassen und 8 Zentner Getreide für sich verbraucht, die LPG-Eigentum waren.

Im VEG Groß Langerwisch, Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, wurde der Betriebsleiter vor längerer Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass eingemietete Kartoffeln zu faulen beginnen, jedoch wurde dagegen nichts unternommen. Jetzt sind ca. 700 Ztr. Kartoffeln (hochwertiges Saatgut) verfault.

In der LPG in Kietz, Kreis Seelow, [Bezirk] Frankfurt, wurde die Schweinepest festgestellt. Sechs Tiere sind verendet, der Restbestand von 78 Schweinen wurde notgeschlachtet.

In den Kreisen Gardelegen, Wernigerode, Kalbe und Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, wurde eine unbekannte Magen- und Darmerkrankung bei Rindern festgestellt. Bisher sind im Kreis Gardelegen 16 Rinder befallen, im Kreis Wernigerode 28 (davon sind fünf verendet, 20 notgeschlachtet), im Kreis Kalbe sechs und im Kreis Salzwedel 33 Rinder (sind alle verendet).

Übrige Bevölkerung

Der Umfang und Inhalt der politischen Gespräche ist gegenüber den Vortagen unverändert. Hauptsächlich werden Fragen diskutiert, die im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge stehen. Negative Diskussionen sind dabei sehr gering.

Die Versorgung der Bevölkerung gibt immer wieder Anlass zu heftigen Kritiken, da man entweder mit dem Warenangebot und der Warenstreuung nicht einverstanden oder über Preissteigerungen verärgert ist. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau aus Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es ist eine Schande, dass man hier keine Südfrüchte bekommt. Ich bin kürzlich in Berlin gewesen und musste feststellen, dass man dort auf dem Weihnachtsmarkt alles in rauen Mengen kaufen konnte. Naja, die dummen Sachsen dürfen eben nur arbeiten und Essen tun die anderen.«

Eine Hausfrau aus Breitenworbis, [Bezirk] Erfurt: »Voriges Jahr bekam man wenigstens noch einen vernünftigen Weihnachtsbaum zu kaufen. Aber was man uns dieses Jahr anbietet, ist unter aller Kanone. Mit so einem Mist können sie den Arbeitern keine Freude bereiten.«

Ein Konsumverkaufsstellenleiter aus Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, äußerte gegenüber einer Hausfrau: »Es ist gut, dass sie die Dorschleber heute noch für 2,90 DM kaufen, denn morgen kostet sie 3,75 DM.« Darüber entstanden heftige Diskussionen.

Zur Magistratsverordnung vom 20.12.[1954] wurden weiterhin ausschließlich positive Stimmen bekannt. Es wird begrüßt, dass man nun endlich Gelegenheit habe, in unseren besten HO-Gaststätten einen Platz zu bekommen und dass durch verschärfte Kontrollen dem Schieberunwesen ein Riegel vorgeschoben wird. Auch im Bezirk Potsdam spricht man positiv über diese Verordnung. Westberliner Kollegen, die im Demokratischen Sektor arbeiten, begrüßen wohl auch die Verordnung, sprechen aber gleichzeitig die Befürchtung aus, dass ihnen eventuell ihre Einkaufsbescheinigung weggenommen wird. In dieser Hinsicht diskutierten z. B. die Kollegen der Abteilung Gütekontrolle des VEB Tiefbau.

Ein Omnibusfahrer des Straßenbahnhofes Niederschönhausen stellte die Frage, ob es bei der bisherigen Regelung für Westberliner, die im Demokratischen Sektor arbeiten, bleibt. Den Einwurf einer Kollegin, dass sie doch 90 Prozent ihres Geldes umgetauscht erhalten und deshalb auch wie alle anderen Westberliner in der HO bezahlen können, ließ er nicht gelten.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverbreitung

SPD-Ostbüro:13 Magdeburg, Kreis Haldensleben, 19 000 (gegen KVP14 und Regierung), Erfurt, Kreis Mühlhausen, 5 000 (gegen die Volkswahl),15 Halle, in Bernburg 1 000, Dresden 69, Potsdam 54, Karl-Marx-Stadt 47, Rostock einige.

NTS:16 Suhl, Kreis Hildburghausen, 8 000 (zwei Ballons), Cottbus 810, Dresden 44, Karl-Marx-Stadt 34, Potsdam einige.

In tschechischer Spr[ache]: Dresden 30.

KgU:17 Gera, Kreis Rudolstadt, mehrere Tausend, Wismutgebiet18 einige.

Die Mehrzahl der Hetzschriften wurde sichergestellt.

Diversion

In zwei Traktoren der MTS Seese, Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, wurde in den Kraftstoff Wasser gegossen. Täter unbekannt.

Im VEB Yachtwerft Berlin-Köpenick wurde in das Zahnrad-Getriebe einer 20-Tonnen-Elektroschlagschere eine Schweißelektrode geworfen. Täter: unbekannt. Schaden entstand nicht.

In Schwiesau, [Bezirk] Magdeburg, wird von großbäuerlichen Elementen das Gerücht verbreitet, dass alle nach Westdeutschland Reisenden dort 20,00 DM erhalten. Es ist zu verzeichnen, dass aus dieser Gemeinde zurzeit viele Einwohner nach Westdeutschland reisen.

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 20.12.[1954] kam es im VEB Mühlenwerke Potsdam zu einer Explosion an der Dampfmaschine. Die Ursache ist auf einen Konstruktionsfehler zurückzuführen, der von zwei Monteuren des VEB Kessel- und Apparatebau Berlin-Niederschönhausen angeblich bemerkt, jedoch nicht beseitigt wurde. Untersuchungen werden noch geführt.

Anlage 1 vom 24. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2400

Auswertung von Westsendungen

Ausgehend von der 21. Tagung des ZK der SED berichtet der RIAS über eine schlechte Stimmung in den Betrieben. Zum Beispiel seien alte Meister verärgert, weil sie sich qualifizieren sollen, Angestellte beunruhigt wegen einer eventuellen Entlassung und Brigadiers erzürnt, weil sie Leute aus ihrer Brigade abgeben müssten. Die allgemeinen Richtlinien für das Planjahr 1955 werden vorläufig ohne Kommentar wiedergegeben. Lediglich wird über die Investitionen für die Konsumgüterproduktion gehetzt, dass diese noch unklar seien und wahrscheinlich gegenüber anderen Ausgaben ins Hintertreffen kämen.

Zur Normenfrage wird in der gleichen Sendung gehetzt, in Zukunft sei damit zu rechnen, dass Normenerfüllungen über 120 Prozent gestrichen würden. Es wird aufgefordert, dass nicht mehr als 120 Prozent angeschrieben, d. h. erfüllt werden, damit die Norm nicht heraufgesetzt wird.

In einer Sendung über den Mitgliederbestand und die Zusammensetzung der SED hetzt der RIAS, dass das ständige Absinken der Zahlen der Arbeiter und das Ansteigen der Zahlen der Angestellten unserer Partei Veranlassung geben müsse, ihre Arbeit zu überprüfen, da dies der Ausdruck der »ständigen Entfernung der Parteiführung von den Massen« sei. Es heißt u. a.: »… Jede Partei, die eine Arbeiterpartei sein will und solches festgestellt würde, müsste ihre Politik überprüfen, die Ursachen erforschen. Nicht so die SED. Für diese Partei ist dies nicht eine Frage der Politik, sondern eine Frage der Organisation.«

Über die Ursachen des Ansteigens der Angestelltenzahlen und die Stellung der Arbeiter zur SED hetzt der RIAS: »… Der Angestellte, der einen Posten zu verlieren oder zu gewinnen hat, der Streber im Staatsapparat, in der Verwaltung, in der VE Industrie, der muss in die Partei und er fragt täglich zehnmal an, ob sein Gesuch schon bearbeitet wird. Aber der Arbeiter, was soll er in der SED? Sofern er es nicht auf einen Posten oder auf Privilegien abgesehen hat? So sieht das doch aus! Die SED ist nun einmal keine Partei in des Wortes echter Bedeutung, sie ist kein Bund politisch Gleichgesinnter, die sich zur Erreichung politischer oder sozialer Ziele zusammenschließen. Sie ist ein Kollektiv von Interessenten an der Macht und der Prozess ihrer Entartung hat sich unter den Augen der Arbeiterschaft abgespielt. Die Benachteiligten, die Arbeiter in der Produktion können im Interessenverband der Funktionäre eine Rolle spielen: das Feigenblatt abgeben, die fadenscheinige Begründung für die dreiste Behauptung ›Arbeiterpartei‹ …«

Der Londoner Rundfunk19 beschäftigte sich mit der Frage »Soll man der SED beitreten oder soll man sich von der Partei, selbst um den Preis beträchtlicher Opfer, fernhalten?« Einleitend werden dazu angebliche Hörerbriefe zitiert, in denen diese Frage gestellt wird. Unter anderem heißt es dort: »… ›Hier muss es eindeutig heißen, abseits stehen und nicht mitmachen, auch um den Preis persönlicher Opfer.‹ Andere wieder sind überzeugt, dass Antikommunisten viel eher imstande sind, das Regime wirksam zu bekämpfen, wenn sie Parteimitglieder werden, als wenn sie der Partei fernstehen. In einem anderem Brief heißt es: ›Ein Parteifunktionär sagte einmal, der innere Feind ist viel stärker als der äußere. Den äußeren Feind kennen wir‹.«

Die Zusammenfassung der Antwort auf diese Frage, die in Form einer Unterhaltung von drei Korrespondenten gegeben wurde, kommt in folgenden Zitaten aus der Sendung zum Ausdruck: »… Man kann der SED als einfaches Mitglied beitreten, um sein eigenes Leben in der Zone erträglich zu gestalten. Aber niemand sollte irgendwelche Ämter oder Funktionen in der Partei annehmen, als natürlich zum Zweck der Bekämpfung des Regimes. Und auch dann sollte es nie aus eigenem Entschluss geschehen, sondern nur auf besondere Anweisung und zur Erreichung ganz klarer Ziele.« Über die Zersetzung der Partei von innen heißt es an anderer Stelle: »… Ist es praktisch ratsam, dass die große Masse der Antikommunisten im gegenwärtigen Zeitpunkt der Partei fernbleibt? Es gibt vielleicht Argumente dafür, aber ich bin nicht dieser Ansicht. Einfach weil die Kommunisten gegenwärtig zu stark sind. Antikommunisten können sich vielleicht besser durchsetzen, wenn sie jetzt der Partei beitreten, aber im richtigen Zeitpunkt durch passive Resistenz oder auf andere Art ihre Ablehnung bekunden …«

Anlage 2 vom 24. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2400

Stellungnahmen von Personen aus der DDR, die sich besuchsweise in der Bundesrepublik aufhielten

In den Schilderungen von Personen – der verschiedensten sozialen Herkunft – wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich hinter dem äußeren Glanz, ob es sich um Düsseldorf, Frankfurt, Köln oder Göttingen handelt, überall das gleiche Bild zeigte, nämlich ein Elend, wie es uns in der DDR völlig fremd ist. Das Wirtschaftsgefüge der Bundesrepublik wird immer wieder als ungesund bezeichnet, da das Warenangebot im krassen Widerspruch zur Kaufkraft der Bevölkerung steht. Nachstehende Schilderung über das Stadtbild von Düsseldorf ist dafür charakteristisch. Zum Beispiel sagte ein Besucher (bürgerlicher Herkunft): »Auffallend war die Uneinheitlichkeit des Stadtbildes. Betonpaläste wechselten mit Bruchbuden und Trümmerfeldern, elegant angezogene Passanten mit Kriegsversehrten, die amputiert oder gelähmt, bettelnd am Bürgersteig sitzen; schreiende Plakate mit Film- und Theaterankündigungen, daneben Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe. Die Kinos sind nur mäßig besucht, die Geschäfte voller Waren, aber kaum ein Käufer. Nur in den großen Kaufhäusern drängen sich die Menschen. Die Preise steigen ständig. Auch herrscht ein Konkurrenzkampf übelster Art. Toll ist es mit den gebrauchten Kraftfahrzeugen. Bereits für 200 Mark gibt es einen gebrauchten Wagen, aber die Versicherungs- und Garagenkosten sind dermaßen hoch, dass sich nur einer mit mindestens 900 Mark Monatseinkommen ein Auto leisten kann. Überall macht sich das amerikanische Kapital breit. Zum Beispiel wurde bei meinem Dortsein ein Geschäft für importierte gebrauchte Pelzmäntel eröffnet. Durch die Preise für echte Pelze von 35,00 bis 85 000 Mark wird jegliche eventuell mögliche einheimische Konkurrenz, die 200 bis 4 500 Mark verlangen muss, von vornherein ausgeschaltet. Das Bild Düsseldorfs ist direkt ein Spiegel für die Gesamtsituation in der Bundesrepublik. Die ganze Wirtschaftslage ist ungesund, es zeigen sich große Gegensätze. Man hat den Eindruck, als sage sich jeder Mensch: Hauptsache, dass ich heute leben kann; wovon ich morgen die Schulden von heute bezahle, wird sich herausstellen.«

In negativen Äußerungen wird die Feststellung getroffen, dass die Verhältnisse in Westdeutschland besser als in der DDR seien und dass man sich jetzt erst ein richtiges Bild von der Bundesrepublik machen könne. So sagte z. B. ein Oberschüler aus Schleusingen, [Kreis] Suhl: »Ich kann nicht sagen, dass drüben die Verhältnisse schlecht sind. Es herrscht in den Städten ein riesiger Verkehr, fast jeder hat ein Auto oder Motorrad. Die Arbeiter verdienen genauso viel wie bei uns in der DDR

Ein Arbeiter aus [dem] Schachtkombinat Schneckenstein (Wismut) Auerbach: »Ich hatte Gelegenheit, mich mit Kumpels zu unterhalten und musste feststellen, dass sie den gleichen Verdienst haben wie wir. Ich habe es schon bereut, nicht gleich drüben geblieben zu sein.«

Eine Hausfrau aus Geithain, [Bezirk] Leipzig: »Drüben ist alles viel besser, z. B. liegen alle Geschäfte voller Waren. Man kann wirklich kaufen, was man will und die Preise sind nicht so hoch wie bei uns.«

Eine Kindergärtnerin aus Gera: »In Westdeutschland leben die Menschen besser als bei uns. Ich kann das behaupten, weil ich jetzt fünf Wochen drüben war. Eine Wehrmacht wird in der Bundesrepublik nur aufgestellt, weil man sich schützen muss.«

Anlage 3 vom 24. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2400

Stimmen zum Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge

Weiterhin bildet die gegenwärtige politische Lage, die sich aus dem Pariser Abkommen ergeben hat, den Mittelpunkt der politischen Gespräche. In der Mehrzahl wird zum Ausdruck gebracht, dass man die Pariser Verträge ablehnt und sich darüber im Klaren ist, dass alles zu ihrer Verhinderung getan werden muss. Gleichzeitig wird aber betont, dass bei Nichtverhinderung dieser Kriegspläne sowie der Aufstellung einer Wehrmacht in Westdeutschland die DDR gezwungen sei, Nationale Streitkräfte zu schaffen. Immer wieder wird erklärt, dass unsere Errungenschaften auf keinen Fall dem Feind ausgeliefert werden dürfen. Solche Diskussionen werden in den verschiedensten Kreisen der Bevölkerung, besonders aber in den Betrieben geführt.

Neben diesen Stimmen, die die gegenwärtige Lage richtig einzuschätzen wissen, zeigen sich teilweise noch immer große Unklarheiten in der Form, dass man die Gefahr der Pariser Verträge unterschätzt oder nicht erkennt, die Nationalen Streitkräfte mit den Armeen kapitalistischer Länder gleichsetzt oder die Gefährlichkeit des Imperialismus nicht sieht. In der Frage der eventuellen Aufstellung Nationaler Streitkräfte zeigen sich immer wieder die gleichen Argumente wie z. B.: Nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen, die Gestellungsbefehle zerreißen u. a. mehr. Auch wird vielfach die Gefahr der Remilitarisierung Westdeutschlands nicht erkannt und erklärt, dass es besser sei, keine Nationalen Streitkräfte aufzustellen, weil uns dann der Westen nicht angreifen würde.

Zum anderen wird die gegenwärtige politische Lage pessimistisch eingeschätzt und der Dritte Weltkrieg als unvermeidlich angesehen.

Negative bzw. feindliche Äußerungen beinhalten weiterhin Hetze gegen die DDR und die SU. In einer FDJ-Versammlung in der MTS Charlottenthal, Kreis Güstrow, [Bezirk] Schwerin, erklärte ein Jugendlicher: »In der Presse wird nur gehetzt, z. B. wurde 1945 erklärt, dass kein Deutscher mehr eine Waffe in die Hand nehmen soll, und jetzt will man bereits wieder die Jugend auf dem Schlachtfeld verbluten lassen. Die VP-Werbung sehe ich ebenfalls schon als einen freiwilligen Zwang an.«20

Ein anderer Jugendlicher äußerte: »Zwischen den Mächten im Osten und im Westen gibt es keinen Unterschied. Beide wollen die Weltherrschaft. Das ist Sinn und Zweck der ganzen Sache.« Nach diesen Worten verließ er die Versammlung.

Ein Tischlergehilfe aus Frankfurt: »Die Pariser und Londoner Verträge sind Schutzmaßnahmen seitens der Westmächte, da eine Bedrohung aus dem Westen besteht.«

Ein Großbauer aus Putlitz, [Bezirk] Potsdam: »Ich pfeife auf die Demokratie bei uns hier. Wenn es soweit ist, werden die paar Kommunisten bei uns im Ort aufgehängt.«

Ein Großbauer als Kleinmutz, [Bezirk] Potsdam: »Eines Tages werden die staatlichen Handelsorganisationen und auch die VEAB verschwinden. Adenauer hat das richtige Ziel vor Augen, indem er den freien Handel vertritt und auch verwirklicht.«21

Ein Schlosser aus der A[bteilung] Kohle des Kunstseidenwerkes Premnitz, [Bezirk] Potsdam: »Es wird bei uns viel gegen die Remilitarisierung in Westdeutschland gepredigt. Aber wie sieht es bei uns aus. Da fährt die KVP wohlausgerüstet herum. Dagegen in Westdeutschland sieht man nichts davon.«

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