Zur Beurteilung der Situation in der DDR
16. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2341 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Im Vordergrund der Diskussionen über politische Tagesfragen steht die Volkswahl. Daneben wird noch im geringen Umfang zu den Auszeichnungen am »Tag der Aktivisten«1 und vereinzelt zum Besuch des Genossen Molotow2 Stellung genommen. Zum Letzteren liegen nur positive Stimmen vor.3
Obwohl ein großer Teil der Werktätigen zu den Volkswahlen4 Stellung nimmt, äußert sich jedoch ein größerer Teil nur, wenn er angesprochen wird. Dabei wird vielfach erklärt, dass die Wahlvorbereitungen zu groß seien und man die Arbeiter mit dem »Wahlrummel« zufrieden lassen sollte. Sie wüssten schon, was sie zu wählen haben. Solche Stimmungen werden z. B. aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt berichtet.
Überwiegend sind die Meinungen zu den Volkswahlen positiv und inhaltlich gegenüber den Vortagen unverändert. Verpflichtungen, die Wahl offen vorzunehmen, sind noch gering. Der Umfang der Diskussionen nimmt ständig zu.
Negative Meinungen sind meist nur vereinzelt vorhanden. Dabei richtet man sich meist gegen die einheitliche Kandidatenliste, teilweise aus Unklarheit. Ausgesprochen feindliche Äußerungen sind nur ganz gering vorhanden. Nachfolgend einige Beispiele für negative Meinungen.
Ein parteiloser Arbeiter aus einem Privatbetrieb im Kreis Annaberg äußerte in einer Wahlversammlung: »Es ist eine Schande, dass man einem Familienvater mit einem Hundelohn von 220 DM nach Hause schickt. Bei uns ist auch der Paulus5 wieder in eine Funktion eingesetzt worden, obwohl er 600 000 Menschen auf dem Gewissen hat. Solche Regierung soll man wählen?«
Ein Parteiloser vom Lok-Bahnhof Göschwitz, [Bezirk] Gera: »Ich bin Arbeiter, warum soll ich denn da meine Feinde wählen. Die CDU und LDP sind doch keine Arbeiterparteien und so kann ich sie auch nicht wählen. Wir sollten doch ehrlich sein und alle zugelassenen Parteien auf Listen erscheinen lassen.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Gaselan in Fürstenwalde,6 [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Der Wahlkampf in der Weimarer Republik war viel besser. Er brachte eine richtige Entscheidung.«
Im Bau G 44 der Buna-Werke hat der Wahlvorstand die Anweisung erteilt, den Wahlschein zur Berechtigung für die Wahl im Werk von ihrem zuständigen Wahlbezirk abzuholen. Dieser Aufforderung kam ein Teil der Kollegen nicht nach und äußerte, dass sie nach Schichtschluss auch noch Zeit hätten, ihre Stimme zu Hause abzugeben.
Für die Kollegen der C-Schicht des Leuna-Werkes, die am Wahltage Schicht haben, wurde von der Werk-Leitung angeordnet, dass die für die Wahlhandlung versäumte Zeit nur mit dem Stundenlohn ohne Leistungszuschlag bezahlt wird. Die Kollegen der C-Schicht im Bau 978 sind damit nicht einverstanden und wollen erst nach Schichtschluss in ihren Heimatort wählen.
Unter den Schweißern und Schreinern des VEB Kirow-Werkes Leipzig besteht eine schlechte Stimmung zur Volkswahl. Einige Schweißer äußerten sogar, dass sie die Kandidaten der Nationalen Front7 nicht wählen werden. Besonders zwei Schweißer tragen derartige Meinungen unter die anderen Kollegen. Seit ca. 14 Tagen wurde bei den Schweißern eine Verdienstkürzung vorgenommen.
Bei einer Versammlung mit Jugendlichen des 2. Lehrjahres in dem VEB Schiffswerft Fürstenberg/Oder über den Wahlaufruf des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend ließen die Jugendlichen den Redner nicht aussprechen, sondern überhäuften ihn mit Fragen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze und betriebliche Angelegenheiten. Weiterhin unterbrachen sie ihn durch provokatorische Zwischenrufe und verließen danach den Versammlungsraum.
Neben zahlreichen positiven Stimmen zum »Tag der Aktivisten«, in denen die diesjährigen Feiern gegenüber den vorjährigen als besser bezeichnet werden, wurden noch einzelne Beispiele bekannt, wo es wegen der Auszeichnungen zu Missstimmungen kam.
Ergänzend zum gestrigen Bericht über den schlechten Besuch der Feier im RAW Jena, [Bezirk] Gera,8 wird heute bekannt, dass dort allgemein insbesondere gegen die Auszeichnung von Angestellten gesprochen wird. Zum Beispiel erhielt dort eine Sekretärin 225 DM Prämie. In der Stellmacherei des Betriebes wird diskutiert, dass die Arbeiter in der Produktion das Geld verdienen müssten und dafür die unproduktiven Kräfte mit hohen Geldprämien ausgezeichnet werden.
Im VEB Wellpappfabrik Lucka, [Bezirk] Leipzig, waren der überwiegende Teil der Ausgezeichneten Verwaltungsangestellte, was unter den Arbeitern Unzufriedenheit hervorrief.
Unter den Produktionsarbeitern des VEB Tiefbau Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, wird bemängelt, dass aus der Verwaltung 20 Kollegen prämiert wurden, während es aus der Produktion nur zehn Kollegen waren.
Unter den Zivilangestellten des MdI-Objektes Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder, kam es zu Unstimmigkeiten, da sich die BGL gegenseitig prämierte.9
Wie aus Frankfurt/Oder berichtet wird, fahren Arbeiter aus den Randkreisen Berlins, besonders aus den Betrieben der Kreise Fürstenwalde und Eberswalde sowie von der Baustelle Bau-Union Frankfurt in Strausberg, zur Industrieausstellung nach Westberlin10 und diskutieren danach negativ in den Betrieben. So äußerte z. B. ein Ofenmaurer aus dem EKM Finow,11 Kreis Eberswalde: »Ich bin begeistert von der Ausstellung. Man kann sich mit wenig Geld prima Sachen anziehen. Hier in der DDR ist ja nichts los und man muss ewig den Mund halten.«
Über die Normen wird im VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden, besonders unter den Meistern negativ diskutiert. So äußerte z. B. ein parteiloser Meister: »Mit der Normerei sollte doch endlich aufgehört werden. Sie waren schon am 17.6.1953 an der Unzufriedenheit schuld. Diese Menschenschinderei bei uns ist nicht gut.«
Im Zweigwerk des VEB Welton in Geisa,12 [Kreis] Meiningen, [Bezirk] Suhl, mussten die Bauarbeiten eingestellt werden, da die Investitionsmittel nicht ausreichten. Das zuständige Ministerium in Berlin hatte vor Kurzem 70 000 DM mündlich bewilligt, bis jetzt nicht bestätigt. Dazu besteht unter den Bauarbeitern die Meinung: »Wenn bis 17.[10.1954] das Geld nicht schriftlich bewilligt wird, will die gesamte Belegschaft die Teilnahme an der Wahl verweigern.«
Handel und Versorgung
Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohlen haben die Bezirke Gera und Dresden. Im Umspannwerk Remptendorf,13 [Kreis] Lobenstein, [Bezirk] Gera, wurden ca. 30 Tonnen benötigt und 5 t sind nur vorhanden. VEB Schott Jena14 benötigt täglich 235 Tonnen und hatten nur noch 500 t vorrätig. Von den jetzt zugesagten 190 Tonnen wurden nur 90 Tonnen geliefert, sodass die Produktion am 19.10.[1954] eingestellt werden muss, was dann VEB Jenapharm und Zeiss-Südwerk in Mitleidenschaft ziehen würde, falls bis dahin keine Abhilfe geschaffen wird.
Die HO-Verkaufsstellen der Kreise Bischofswerda und Kamenz, [Bezirk] Dresden, wurden sehr mangelhaft mit Winterkohlen versorgt. Die HO-Bezirksverwaltung teilte mit, dass mit einer Lieferung nicht mehr zu rechnen ist und empfahl, Filzstiefel und Trainingsanzüge an das Verkaufspersonal auszugeben.
Mängel in der Belieferung mit Speck und Käse bestehen in einigen Kreisen und Gemeinden der Bezirke Schwerin, Halle, mit Eiern in den Bezirken Schwerin, Halle und Suhl, mit Schmalz in den Bezirken Leipzig, Cottbus, Suhl, mit Hülsenfrüchten in Cottbus, Suhl, Frischfleisch und Kindernährmittel Schwerin, Margarine, Obst, Gemüse, Suhl, Fleisch, Halle, Leipzig. In Hettstedt, [Bezirk] Halle, macht sich eine Brotknappheit bemerkbar. Dort backen die Bäcker nicht ausreichend und das Brot ist in den Nachmittagsstunden bereits ausverkauft. In der Stadt Eisleben und in Klostermansfeld, [Bezirk] Halle, ist die Belieferung mit Kartoffeln mangelhaft und noch unter 50 Prozent.
Der Schlachthof Bützow, [Bezirk] Schwerin, ist nicht in der Lage, alle geschlachteten Schweine im Kühlraum unterzubringen, da zu viel angeliefert wird. Auf dem Bahnhof in Bützow befinden sich seit 13.10.[1954] 47 t lebende Schweine sowie 27 t Rinder, die nach Sachsen verladen werden sollen. Die angeforderten Waggons wurden jedoch nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt. Am Abend stellte die Reichsbahn dann fünf Waggons zur Verfügung, sodass die Schweine zwei Tage auf dem Bahnhof lagen.
In Warnow, [Kreis] Bützow, befinden sich schon wieder 27 t Schweine, die wegen mangelhafter Waggongestellung bis zum Abend des 14.10.[1954] nur teilweise abtransportiert werden konnten.
In den Kreisen Worbis und Nordhausen, [Bezirk] Erfurt, wird in Verkaufsstellen der HO und des Konsums seit 14.10.[1954] Bohnenkaffee gelagert. Die Bevölkerung ist darüber unzufrieden, da der Bohnenkaffee erst am 18.10.[1954] verkauft werden soll, aufgrund einer Anordnung des Rates des Bezirkes Erfurt, Abteilung Handel und Versorgung. Unter der Bevölkerung wird folgendermaßen dazu diskutiert: »Die wollen uns den Bohnenkaffee erst dann geben, wenn wir gut gewählt haben.« Oder: »Es ist richtig, dass der Kaffee jetzt noch nicht verkauft wird, sonst würde es wieder heißen, weil die Wahl ist, gibt es Bohnenkaffee.«
Landwirtschaft
Weitere zahlreiche Selbstverpflichtungen zur Volkskammerwahl bringen zum Ausdruck, dass der überwiegende Teil positiv zu den Beschlüssen unserer Regierung steht und die Hilfe für die Großbauern begrüßt. Die Selbstverpflichtungen werden in dem Bewusstsein übernommen, zu einem guten Ausgang der Volkskammerwahl beizutragen. Forderungen nach Listenwahlen, »freier Wirtschaft« und Sollstreichungen werden nur vereinzelt, vorwiegend von Groß- und Mittelbauern und von Personen gestellt, die von Groß- und Mittelbauern beeinflusst werden.
In einer öffentlichen Einwohnerversammlung in der Gemeinde Audorf, [Kreis] Klötze,15 [Bezirk] Magdeburg, traten die Bauern gegen das angeblich zu hohe Ablieferungssoll auf. Ein Großbauer verlangte die »freie Wirtschaft« und die Abschaffung der »Zwangswirtschaft«. Er wollte in Zukunft nicht mehr 15 ha, sondern nur 8 ha bebauen, um seine Futtergrundlage zu sichern. Die »freie Wirtschaft« im Westen ist rentabler, das beweist, dass bis jetzt von 54 Republikflüchtigen keiner wieder zurückgekommen ist.
In der Gemeinde Ladeburg, Kreis Lohburg, [Bezirk] Magdeburg, erklärte eine Großbäuerin: »Ein Teil der negativen Stimmen zur Volksbefragung kommt aus den Reihen der Großbauern und wir haben ja auch unseren Anhang und auch unsere Freunde.« Gemeint sind die in der Gemeinde ansässigen Gemeindevertreter und der Bürgermeister. Ein Rentner und Genosse aus dieser Gemeinde sagte hierzu: »Die negativen Stimmen kommen nicht nur von Großbauern, sondern auch von uns Umsiedlern. Wir wollen keinen Krieg, aber wir wollen heim.«
Der Bürgermeister sagte: »Der ewige Druck auf die säumigen Großbauern wegen Erfüllung des Solls wird die Wahl negativ beeinflussen.«
In einigen Gemeinden des Bezirkes Magdeburg zeigt sich, dass auch die Jugend unter dem Einfluss der Gegner steht. In einer Jugendversammlung in Weferlingen, Kreis Haldensleben,16 z. B. brachten die Jugendlichen zum Ausdruck, dass nach einzelnen Parteien gewählt werden müsste und nicht nach einer gemeinsamen Kandidatenliste.
In einer anderen Gemeinde Klüden, [Bezirk] Magdeburg, sagten die Jugendlichen: »Die beste Wahlagitation ist, wenn regelmäßig Fleisch und andere Lebensmittel geliefert würden.«
Aus dem Bezirk Potsdam wird weiterhin über Arbeitskräftemangel, besonders bei Einzelbauern, geklagt. Die Bauern beklagen sich dort, dass sie den LPG gegenüber vernachlässigt werden. Vonseiten der Erntehelfer wird des Öfteren beanstandet, dass sie bei den Einsätzen nicht richtig ausgelastet werden, was aufgrund ungenügender Vorbereitungen zurückzuführen ist. Sie stehen oft mehrere Stunden herum.
In verschiedenen Betrieben der Groß- und Mittelbauern, vor allem im Kreis Liebenwerda, [Bezirk] Cottbus, herrscht die Meinung, der 50-prozentigen Sollerfüllung. Eine werktätige Bäuerin verlangte einen Schein zur Ablieferung für ein Schwein auf freie Spitzen.17 Da ihr Soll noch nicht erfüllt ist, wurde ihr dieser verweigert. Darauf erklärte sie: »Wenn wir jetzt unser Soll abdecken, dann bekommen wir das ganze Dorf auf den Hals.«
Die Bauern, die im Bezirk Rostock ihre Zuckerrüben an die Zuckerfabrik geliefert haben, beklagen sich auch darüber, dass die 25 bis 28 Prozent Schmutzgehalt abzieht. Die Bauern sind der Meinung, dass dies zu hoch ist.
Im Kreis Wittstock, [Bezirk] Potsdam, ist der Erfassungsstand im Schlachtvieh schlecht. Groß- und Mittelbauern, die ihr Soll nicht erfüllt haben, weigern sich, wegen Verlusten durch die Schweinepest abzuliefern.
Übrige Bevölkerung
In der Stimmung der übrigen Bevölkerung hat sich keine wesentliche Änderung ergeben. Nach wie vor ist die Stimmung überwiegend positiv zur Volkswahl. Immer wieder wird in den Äußerungen unsere demokratische Ordnung bejaht und das Vertrauen zu unserer Regierung ausgesprochen, indem man betont, für die Kandidaten der Nationalen Front zu stimmen. Diese Stellungnahmen kommen größtenteils aus den Kreisen der Hausfrauen, Rentner, Verwaltungsangestellten und zum Teil auch von Handwerkern. Neben den positiven Äußerungen von Rentnern zeigt sich aber auch immer wieder eine gewisse Unzufriedenheit, was sich verschiedentlich negativ in der Stimmung zur Wahl auswirkt. Zum Beispiel herrscht unter den Rentnern im Kreis Greifswald, [Bezirk] Rostock, eine schlechte Stimmung. Sie brachten zum Ausdruck, dass sie von der Volkswahl nichts wissen wollen. Erst solle die Regierung dafür sorgen, dass sie mehr Rente erhalten, denn mit 65,00 DM könnte kein Mensch auskommen.
Neben den positiven Äußerungen von Handwerkern und Geschäftsleuten kommt es immer wieder zu negativen Stellungnahmen, die aufgrund persönlicher Verärgerung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten oder offener Gegnerschaft abgegeben werden. Zum Beispiel äußerte ein Fleischermeister aus der Dimitroffstraße 27 in Prenzlauer Berg, Groß-Berlin, gegenüber Aufklärern der Nationalen Front unter Anwesenheit zahlreicher Kunden: »Was wollt ihr überhaupt hier. Ihr könnt doch nichts machen. Warum gibt es Wurst 75: 100?18 In der DDR gibt es zum Teil überhaupt kein Fleisch. Wir sind hier nur Knechte. Was soll das ganze Wahltheater? Meine Kunden können das ruhig hören.«
Im Allgemeinen kommen die negativen Stimmen vorwiegend aus den Reihen der bürgerlichen Kreise sowie von Personen, die von dem Klassenfeind beeinflusst sind. Zum Beispiel äußerte ein ehemaliger Obersteuerinspektor aus Gandow, [Kreis] Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin: »Die NDPD würde bei freien Wahlen 60 Prozent der Stimmen erhalten und die SED würde damit unter den Tisch fallen.«
Besonders stark zeigt sich die Beeinflussung durch den Klassengegner im demokratischen Sektor von Groß-Berlin. Oftmals kommt es bei Agitationseinsätzen vor, dass die Mieter entweder negativ diskutieren oder ihre Tür wieder schließen, ohne sich in eine Diskussion einzulassen. Zum Beispiel äußerte eine Mieterin in der Berliner Straße 113a: »So viel Rummel ist nicht notwendig. Macht, dass ihr rauskommt.«
Eine andere Mieterin aus der Großen-Leege-Straße 44 geht nicht zur Wahl, »weil die Kandidaten nur welche von der SED sind«. Sie sagte den Aufklärern, sie sollten sich nicht einbilden, dass die Wahl vom Westen anerkannt wird.
In den Reihen der bürgerlichen Parteien kommt es weiterhin immer wieder zu negativen Äußerungen über die Volkswahl. Zum Beispiel sagte ein Mitglied der LDP aus Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Zur Volksbefragung19 gehörte ich einem Wahlvorstand an. Trotz meines Einspruches wurden Nein-Stimmen als Ja-Stimmen gezählt, das kann ich keinesfalls für richtig halten und ich möchte jetzt zur Volkswahl nicht wieder einem Wahlvorstand angehören.«
Das Gleiche trifft auch für die kirchlichen Kreise zu. Bezeichnend dabei ist, dass die Geistlichen von ihrer übergeordneten Instanz beeinflusst werden. Sie begründen ihre Ablehnung zur Wahl damit, dass sie nicht demokratisch sei. Zum Beispiel äußerte ein Pfarrer aus dem Kreis Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt: »Ich unterstütze die Volkswahl nicht, weil es keine Wahlen auf freier Grundlage sind. Selbst in der Kirche kann man nicht frei predigen, weil immer jemand zum Aufpassen da ist. Das ist keine Demokratie.«
Nachstehende Beispiele über organisatorische Schwierigkeiten und Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung der Volkswahl:
Die zzt. im Wahlbüro Meißen vorhandenen Wahlscheine reichen nicht aus, um den Bedarf zu decken. So konnten am 15.10.1954 an Personen, die während der Wahl abwesend sind, keine Wahlscheine ausgegeben werden.
Bei den zzt. stattfindenden Schulungen der Wahlausschüsse im Bezirk Schwerin wurden vereinzelt von den Teilnehmern die Fragen gestellt, ob Bleistifte in die Kabinen gelegt werden oder nicht. Warum das Aussehen der Wahlzettel verheimlicht würde. Dies trat besonders im Kreisgebiet Sternberg und in der Gemeinde Dreetz,20 [Kreis] Bützow, auf. In den Schulungen in der Stadt Boizenburg und in Schwerin wurde besonders die Frage der Ungültigmachung diskutiert.
Aus dem Kreis Cottbus wird bekannt, dass sich 20 Personen Wahlscheine holten, da sie am 17. Oktober [1954] dringend nach Forst fahren müssten. Weitere acht Personen kamen mit denselben Gründen (Familienfeierlichkeiten), um nach Peitz zu fahren. Es wird angenommen, dass es sich um organisierte Kirchentreffen handelt.
In der Gemeinde Gartz,21 [Kreis] Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, stellte sich auf einer DFD-Versammlung die Bezirkstagskandidatin Schützmann22 vor. Diese Kandidatin wurde von allen anwesenden Personen abgelehnt und es wurde zum Ausdruck gebracht, dass man sie am Wahltag auf dem Stimmschein streichen will. Als Begründung wurde angeführt, dass diese Kandidatin kein politisches Bewusstsein habe, weil sie des Öfteren nach Westberlin fährt und ihren Verpflichtungen als Kandidatin nicht nachkommt.
Erkrankungen: Am 14.10.1954 betrug die Zahl der Typhus-Erkrankungen im Bezirk Potsdam 360 Personen. Diese gliedern sich auf in 192 bestätigte Erkrankungen und 168 unbestätigte Erkrankungen.23
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:24
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Erfurt: Langensalza ½ Ztr., Sondershausen 300.
- –
Neubrandenburg: Kreis Altentreptow 34.
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Potsdam: 250.
- –
Frankfurt: 29 000.
- –
Suhl: Schmalkalden 20 000, Salzungen 10.
- –
Karl-Marx-Stadt: 840, Auerbach 2 500.
- –
Halle: Bernburg 1 000, Artern 141, Gräfenhainichen 540, Dessau, Nebra, Quedlinburg und Weißenfels insg[esamt] 75.
- –
Dresden: 457.
- –
Gera: 84.
- –
Schwerin: Ludwigslust 25 000.
KgU:25
- –
Groß-Berlin: Weißensee, Prenzlauer Berg, Lichtenberg, größere Mengen.
- –
Potsdam: 32.
- –
Frankfurt: 19 000.
- –
Dresden: 540.
- –
Halle: Eisleben, Köthen, Hettstedt, Bernburg, Saalkreis, Halle insg[esamt] 23.
- –
Karl-Marx-Stadt: 111 329.
- –
Gera: 20 000 und 42 Ballons gesichtet.
NTS:26
- –
Potsdam: 110.
- –
Frankfurt: 3 000.
- –
Rostock: Ribnitz 10 000, Wismar 200.
- –
Dresden: 33.
- –
Karl-Marx-Stadt: 64.
»Der Tag«27
- –
Halle: Querfurt, Nebra, Dessau, Artern 18.
- –
Dresden: 154.
Versch[iedener] Art:
- –
Cottbus: 93 064.
- –
Groß-Berlin: S-Bahn Teltow-Oranienburg ca. 1 Ztr. »Tarantel«28 u. a. Hetzschriften.
Die Hetzschriften wurden meistens mit Ballons eingeschleust. Zum Beispiel wurden am 15.10.1954 entlang der Demarkationslinie zahlreichen Ballons gesichert, die in Richtung der DDR flogen (z. B. Magdeburg 14). Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt.
Abreißen von Plakaten bzw. Beschädigen von Plakaten, Transparenten und Fahnen: In den letzten Tagen ist das Abreißen bzw. Beschädigen von Plakaten stark angestiegen und wird aus allen Bezirken gemeldet.
Anschmieren von Hetzlosungen: Hetzlosungen, Hakenkreuze und teilweise Zeichen der NTS29 wurden in den Bezirken Potsdam, Suhl, Dresden, Cottbus, Rostock und Leipzig festgestellt. Die Hetzlosungen richten sich gegen die Volkswahl und vertreten offen den Krieg.
Diversionen: Vor der DHZ Lebensmittel in Döbeln, [Bezirk] Leipzig, wurden am 15.10.1954 ca. 70 Stück Reifentöter ausgelegt.
In der Nacht vom 14. zum 15.10.1954 wurden in der Gemeinde Dreilützow und Pogreß im Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, je ein Dreschkabel mit einem Beil durchschlagen.
Auf der Schiffswerft Boizenburg, [Bezirk] Schwerin, wurden die Kabel zu der Echolotanlage auf dem Gefrierschiff »15/13« abgerissen.
Terror: Der Leiter der Grundschule Arnsdorf, [Kreis] Görlitz, [Bezirk] Dresden, Mitglied der LDP und Kandidat des Bezirkstages wurde von einem Fleischermeister niedergeschlagen. Vorher hatte der Täter geäußert: »Du mit deinen kommunistischen Ideen verseuchst uns doch alle Kinder in der Schule.«
Gerüchte: In Probsthain, [Kreis] Torgau, [Bezirk] Leipzig, wird das Gerücht verbreitet, dass in der Gemeinde zwölf Bauern enteignet werden sollen.
Ein Großbauer aus Cunnewitz, [Kreis] Kamenz, [Bezirk] Dresden, äußerte: »Wann kommen denn die Rubel. Ich habe gehört, nach der Wahl würde die Rubelwährung in Kraft treten.«
In Jänkendorf, [Kreis] Niesky, [Bezirk] Dresden, verbreitet ein Bauer das Gerücht, dass am Wahltag die Bevölkerung vor dem Wahllokal von zwei SED-Mitgliedern nach ihrer Stimmenabgabe befragt würde.
In der Abteilung Fuhrpark des VEB Waggonbau Niesky kursiert das Gerücht, dass in einem Görlitzer Betrieb Panzerspähwagen produziert werden.
In Biederitz, [Bezirk] Magdeburg, wird das Gerücht verbreitet, dass die Sowjetarmee dort in den nächsten Tagen Manöver durchführt und deshalb die Felder geräumt werden müssten und die Bevölkerung nach 21.00 Uhr nicht mehr auf die Straße darf.
Zur Sabotierung der Wahlhandlung werden an Mitglieder der LDP, die in den Wahlausschüssen arbeiten, gefälschte Schreiben gesandt, dass gegen sie ein Parteiverfahren läuft und sie deshalb sofort ihre Funktion niederlegen müssten (Abs. Der Vorsitzende der LDP).30
Am 17.10.1954 will der westdeutsche Geflügelzüchterverband ein gesamtdeutsches Kleingärtnertreffen veranstalten. An diesem Treffen nehmen ca. 15 000 Personen teil. Die Einladungen haben die Kleingärtner erhalten.
Am 17.10.1954 veranstalteten die »Wanginer« (Pommersche Landsmannschaft) im »Haus Buhr« Berlin-Lichtenrade ein »Jubiläumstreffen«.31
Einschätzung der Situation
Die Anteilnahme der Bevölkerung an der Vorbereitung der Volkswahlen hat sich verbessert. Die Stimmung ist überwiegend positiv. Trotz ständig zunehmender Feindtätigkeit und Feindpropaganda sowie der fortbestehenden Mängel in Handel und Versorgung hat der Gegner keinen größeren Einfluss auf die Bevölkerung genommen. Dabei zeigt sich im Demokratischen Sektor von Berlin ein wesentlich stärkerer Einfluss der Feindpropaganda als in der DDR.
Anlage vom 16. Oktober 1954 zum Informationsdienst Nr. 2341
Abreißen bzw. Beschädigen von Plakaten, Transparenten und Fahnen
Potsdam:
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Oranienburg acht Plakate,
- –
Sieversdorf, [Kreis] Kyritz, ein Plakat,
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Kremmen, [Kreis] Oranienburg, drei Plakate,
- –
RAW Brandenburg/West ein Plakat,
- –
Luckenwalde 100 Plakate,
- –
Im Stadtzentrum Oranienburg wurden Plakate der Nat[ionalen] Front mit Plakaten der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde überklebt.
- –
In der Gemeinde Grüneberg, [Kreis] Gransee, wurden Plakate abgerissen und in die Briefkästen von Funktionären gesteckt.
Frankfurt: In vier Gemeinden wurden Plakate, zwei Fahnen und eine Sichtagitation abgerissen.
Suhl: In Schwallungen 90 Prozent der Plakate abgerissen.
Erfurt: Brehme, [Kreis] Worbis, vier Plakate, Sömmerda größerer Teil Plakate, Erfurt verstärktes Abreißen von Plakaten.
Dresden: Kreis Bischofswerda 35 Plakate.
Karl-Marx-Stadt: 17 Plakate beschädigt und 16 abgerissen.
Gera: Eisenberg mehrere Plakate.
Neubrandenburg: Waren 24 Plakate, Woldegk, [Kreis] Strasburg, Fahnen abgerissen.
Groß-Berlin: Friedrichshain sechs Plakate, Pankow mehrere Plakate, Hohenschönhausen, Berliner Straße sämtliche Plakate, O 11232 vom Stadtkontor zwei Fahnen abgerissen.
Rostock: Stralsund einige Plakate und zwei Fahnen abgerissen.
Magdeburg: Karl-Marx-Schule zwei Fahnen abgerissen, Güsen, [Kreis] Genthin, eine Fahne, Langenweddingen Plakate.
Leipzig: Zschepplin, [Kreis] Eilenburg, zwei Plakate, Pötzschau, [Kreis] Borna, wurden alle Plakate von den Wänden entfernt und auf den Boden gelegt.
Schwerin:
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Schweez, [Kreis] Güstrow, sämtliche Plakate,
- –
Liessow,33 [Kreis] Güstrow, mehrere Plakate,
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Bandenitz, [Kreis] Hagenow, Plakate,
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Ludwigslust Plakate,
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Bernitt, [Kreis] Bützow, Plakate.
Anschmieren von antidemokratischen Losungen
Potsdam: Friesack, [Kreis] Nauen, Plakate beschmiert, Schildow, [Kreis] Oranienburg, zwei Hakenkreuze auf Fußweg, Nackel, [Kreis] Kyritz, zwei Hakenkreuze an das Haus eines Brigadiers.
Suhl: Sonneberg drei Hakenkreuze.
Dresden: Oberrödern, [Kreis] Großenhain, Wahlplakate mit dem Zeichen der NTS beschmiert, Coswig, [Kreis] Meißen, Pappschild an Baum: »Wir wählen so, dass wir uns nicht schämen müssen«, Gaswerk Görlitz: »Wählt nicht die Kommunisten«, Hainewalde, [Kreis] Zittau, Hakenkreuz an Hauswand.
Leipzig: Pöhsig,34 [Kreis] Grimma, ein Plakat mit Schmutz beschmiert, Rathendorf, [Kreis] Geithain, ein Plakat mit »Unrecht Gut gedeiht nicht« beschmiert.
Schwerin: Bandenitz, [Kreis] Hagenow, am Wahllokal »EVG ist das Richtige für uns«.35
Rostock: In der Toilette der Tischlerei der örtlichen Industrie Greifswald: »Der Krieg ist in Gefahr, wählt nicht die Kandidaten der Nationalen Front. Macht den 17. Oktober zu einem 17. Juni.« In Kühlungsborn, [Kreis] Doberan, wurden zehn aus Papier geschnittene Hakenkreuze auf der Straße gefunden.