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Zur Beurteilung der Situation in der DDR

31. Dezember 1954
Informationsdienst Nr. 2405 zur Beurteilung der Situation in der DDR

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Der Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge steht weiterhin im Vordergrund der Diskussionen über politische Tagesfragen.1 Inhaltlich und umfangmäßig haben sich gegenüber den Vortagen keine Veränderungen ergeben.

Zum 21. Plenum des ZK der SED erklärte ein parteiloser Arbeiter aus dem Fischkombinat Rostock, dass es Zeit wird, den großen Verwaltungsapparat abzuschaffen, da dieser zu den 12 Mio. DM Verlust des Fischkombinates beigetragen habe.2

Im VEB Thräna,3 [Kreis] Borna, [Bezirk] Leipzig, wird über die Normen diskutiert. Ein Arbeiter äußerte als im Betrieb neue Normen festgesetzt wurden: »Wundert euch nicht, wenn ihr Normierer umgekehrt aufgehängt werdet.«

Im VEB Stahlwerk Silbitz, [Bezirk] Gera, Abteilung Formerei, Putzerei und mechanische Abteilung herrscht unter den Arbeitern eine schlechte Stimmung, da eine technisch begründete Arbeitsnorm eingeführt wurde.4 Die alte Norm wurde von den Kollegen mit 180 bis 200 Prozent erfüllt. Aufklärungsmaßnahmen der Partei, BGL und Abteilungsleitung waren bisher erfolglos. Besonders von Formern wird erklärt, dass man den Verwaltungsapparat reduzieren soll, dann würden die Selbstkosten gesenkt werden.

Im VEB Walzwerk Kirchmöser Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, besteht unter den Walzern der Feinstraße eine schlechte Stimmung, da im neuen Jahr verschiedene Normen geändert werden sollen. Unter den Arbeitern besteht die Meinung, dass die Normen nicht verändert worden wären, wenn der ehemalige 2. Vorsitzende der BGL, gleichzeitig Vorsitzender der Wettbewerbskommission sowie im Normenausschuss, nicht entlassen worden wäre. (Dieser war Obersturmführer der SA, was er verschwiegen hatte. Er vertrat immer die Forderungen der Arbeiter, auch wenn die mit den Interessen des Staates nicht übereinstimmten.)

Unter dem Rangierpersonal des Bahnhofs Potsdam besteht eine negative Stimmung, die von einem Rangiermeister hervorgerufen wurde. Dieser war im Dez[ember] 1954 auf einem Lehrgang und verbreitete nach seiner Rückkehr, dass die Rangierer von der Lohngruppe IV auf die Lohngruppe III herabgestuft werden sollen.

Im »Karl-Marx«-Werk Magdeburg5 wurde der komm. Abteilungsleiter vom Werk V nach einem Besuch in Westdeutschland republikflüchtig, unter Mitnahme von Zahlen über die Produktion, Finanzen, Arbeitskräfte und Arbeitsproduktivität aus der Statistik.

Im VEB Espenhain,6 [Bezirk] Leipzig, sind die Arbeiter über Materialschwierigkeiten verärgert. Es wird von ihnen diskutiert, dass »nie eine passende Schraube für die Reparaturen vorhanden ist, sondern diese immer erst auf die entsprechende Länge zugeschnitten werden müssen«. Außerdem sind sie nicht damit einverstanden, dass die Reparaturen von Drehbänken nicht mehr im eigenen Betrieb vorgenommen werden. Dadurch erhöhen sich die Reparaturkosten.

Materialschwierigkeiten

In Riesa, [Bezirk] Dresden, fehlen seit Monaten in den Reparaturwerkstätten Autowinker.

Im VEB Blechwalzwerk Olbernhau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, mangelt es an Platinen, wodurch die Planerfüllung gehemmt ist. Die Arbeiter sind darüber verärgert.

Im VEB Kfz-Reparaturwerk Parchim, [Bezirk] Schwerin, fehlen Ersatzteile für IFA- und BMW-Fahrzeuge.

Vom Kabelwerk Oberspree wurden Anfang Dez[ember] dem VEB RFT Bautzen, [Bezirk] Dresden, 35 kg Wickeldraht geliefert, wovon nur 6 kg verwendbar waren. Der übrige Draht war brüchig oder verschieden stark.

Im Wismut-Schacht 13 in Aue7 wird das Gerücht verbreitet, dass parteilose Normierer, Geologen, Steiger u. a. durch Genossen abgelöst werden sollen. Dies hat negative Diskussionen unter den Kumpels ausgelöst.

Wegen Kohlenmangel müssen im VEB Weberei Mittweida, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, die Werke II und III geschlossen werden und im Werk I in drei Schichten gearbeitet werden. Diese Maßnahme hat eine große Missstimmung hervorgerufen.

Handel und Versorgung

Vom Rat des Bezirkes Leipzig wurden bis heute noch keine Unterverteilungspläne für das erste Quartal 1955 in Briketts und Rohkohle an die DHZ Kohle gegeben. Dadurch kann in einigen Kreisen des Bezirkes an die Betriebe in den ersten Tagen des Monats Januar keine Kohle ausgeliefert werden. Ähnlich ist es bei den Berliner Handelsbetrieben (HO und Konsum) mit den benötigten Plänen für die Anfertigung der Umsatz-, Warenbereitstellungs- und Kostenpläne vom Magistrat.

Die DHZ Textil Berlin teilt mit, dass in den Gravieranstalten der DDR nicht genügend Musterwalzen zum Bedrucken der Stoffe vorhanden sind. Der DIA hat deshalb versucht Aufträge an Westdeutschland zu geben, bisher jedoch noch keinen Abschluss gefertigt. Dadurch wird im 1. Halbjahr 1955 nicht genügend Druckware zur Verfügung stehen und zum anderen werden die vorhandenen Stoffe nur in einer begrenzten Anzahl von Mustern erscheinen.

Bei der VEAB Bützow, [Bezirk] Schwerin, sind ca. 370 Ztr. Roggen und ca. 100 t Hafer unbrauchbar geworden, da sie nass eingelagert wurden.

Landwirtschaft

Über die aktuellen politischen Probleme, besonders über den Kampf gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge, wird nur in geringem Umfang diskutiert. Dabei sind inhaltlich gegenüber dem Vortage keine Veränderungen eingetreten.

In der LPG Berkach und Nordheim, Kreis Meiningen, [Bezirk] Suhl, wurden vor einigen Tagen Schädlinge festgenommen. Die Stimmung der LPG-Bauern darüber ist positiv. So äußerte z. B. ein LPG-Mitglied aus Berkach: »In den Tagen nach der Festnahme wurde fast mehr geschafft als unter Anleitung der Festgenommenen in einem viertel Jahr. Jetzt müssen wir mit ganzer Kraft an die weitere Festigung der LPG herangehen.«

Unter den Klein- und Mittelbauern in Klein Marzehns, Kreis Belzig, [Bezirk] Potsdam, besteht eine schlechte Stimmung, da ihnen der Anbauplan für Zuckerrüben entsprechend dem Boden der Gemeinde zu hoch ist.

Unter den LPG-Mitgliedern von Dreetz, Kreis Kyritz, [Bezirk] Potsdam, besteht Beunruhigung, da der Rat des Kreises allen Bürgermeistern mitgeteilt hat, dass LPG-Mitglieder, welche Schweine auf freie Spitzen abliefern,8 keine Lebensmittelkarten erhalten.

Vor kurzer Zeit wurde aus dem ÖLB Glasin, Kreis Wismar, [Bezirk] Rostock, eine LPG geschaffen und zwar durch eine Brigade der Bezirksleitung der SED.9 Bei der Vorarbeit hierzu wurden von der Brigade Versprechungen gemacht, die nicht eingehalten werden konnten. So wollen z. B. jetzt die Bauern vom Rat des Kreises jeder eine Kuh und ein Schwein unentgeltlich haben.

Missstände in LPG und ÖLB

Die LPG Steutz, Kreis Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, hat auf einer Wiese mit hohem Grundwasserspiegel Kartoffelmieten mit ca. 3 000 Ztr. Kartoffeln angelegt, wovon jetzt ca. 30 Prozent der Kartoffeln erfroren sind.

In der LPG Glodchen,10 Kreis Sternberg, [Bezirk] Schwerin, sind bis heute ca. 500 Ztr. Zuckerrüben nicht geerntet. Als Begründung wird angegeben, dass der LPG keine Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden und die MTS sie nicht unterstützt.

In der LPG Fahrenholz, Kreis Altentreptow, [Bezirk] Neubrandenburg, steht seit ca. einem Jahr eine komplette Melkmaschine, die bis heute noch nicht angeschlossen ist.

In der ÖLB Diekhof, Kreis Güstrow, [Bezirk] Schwerin, ist ein Teil der Kornmieten noch nicht eingefahren, sodass bereits das Korn auswächst.

In der LPG »Florian Geyer« in Helfta, Kreis Eisleben, [Bezirk] Halle, ist im Wirtschaftsgehöft II das dritte Mal im gleichen Stall die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen.

In der LPG »Völkerfreundschaft« Lapitz, [Kreis] Waren, [Bezirk] Neubrandenburg, ist unter dem Schweinebestand (236 Schweine) die Schweinepest ausgebrochen. Drei Schweine verendeten, 79 wurden notgeschlachtet.

Übrige Bevölkerung

Weiterhin steht im Mittelpunkt der politischen Gespräche der Kampf gegen die Pariser Verträge. Es hat sich im Vergleich zum Vortage inhaltsmäßig keine wesentliche Veränderung ergeben. Bei den Diskussionen über die Frage der Aufstellung Nationaler Streitkräfte tauchen immer wieder die gleichen Argumente auf.11 Wie z. B., dass man nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen wolle, beabsichtige die Gestellungsbefehle zu zerreißen u. a. mehr. In diesem Zusammenhang hetzen vereinzelt feindliche Elemente gegen die SU und DDR. Zum Beispiel sagte eine Hausfrau aus Frankfurt: »Unsere Streitkräfte gehen zu 99 Prozent zum Ami, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt. Auch der Iwan wird rennen, dass er die Socken verliert.«

Ein Mühlenbesitzer aus dem Kreis Bischofswerda, [Bezirk] Dresden: »In China wird es losgehen, hier nicht, das wird der Anfang vom Ende. Unsere Streitkräfte werden sicher in Russland ausgebildet.«

Wie bereits berichtet, nimmt die Aktivität der kirchlichen Kreise gegen die beabsichtigte Jugendweihe zu.12 In den Predigten werden sogenannte Hirtenbriefe verlesen, oder in Einzelgesprächen versuchen Pfarrer Schulentlassene zu beeinflussen, nicht an der Jugendweihe teilzunehmen. An folgenden Beispielen zeigt sich die Beeinflussung.

Ein Lehrer (parteilos) aus Karl-Marx-Stadt: »Ich bin mit der Jugendweihe nicht einverstanden. Sie ist mit dem evangelischen Glaube nicht in Einklang zu bringen, denn sie richtet sich gegen die Kirche.«

Eine Hausfrau aus Flöha, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Mein Kind darf niemals zur Jugendweihe gehen. Alle, die ihre Kinder dorthin gehen lassen, sind gottlos und Gegner der Kirche.«

In der Oberschule Salzwedel, [Bezirk] Magdeburg, fand mit dem Lehrerkollegium eine Aussprache statt. Dabei wurde unter anderem zum Ausdruck gebracht, dass es nicht richtig sei, dass unter 60 Jahren in der DDR keine Witwenrente gezahlt würde und dass es in Westdeutschland so etwas nicht gäbe. Dort bekommen die Frauen nach [dem] Tod des Mannes gleich [eine] Pension. Aus diesem Grunde gingen auch viele Lehrer nach drüben. Hinzu käme noch, dass die Gehälter der Oberschullehrer im Westen im Durchschnitt um DM 70,00 höher liegen würden als in der DDR. Des Weiteren wurde die Frage gestellt, warum die Sprachlehrer in der DDR nicht die Möglichkeit haben, in den Ferien ins Ausland zu fahren, drüben würde die Möglichkeit bestehen.

In Cottbus ist die Lehrerschaft drüber ungehalten, dass in letzter Zeit die Gehaltszahlung um 2 bis 3 Tage verspätet erfolgt. Grund dafür ist, dass bei der Notenbank zum feststehenden Termin (16. d. M) kein Deckungsbescheid vorhanden war. Das Gleiche trifft auch auf die Stipendienempfänger zu, die mitunter durch die verspätete Auszahlung bis zu sechs Tagen ohne Barmittel sind.

Aus dem demokratischen Sektor wird bekannt, dass immer wieder von der Bevölkerung Zustimmungserklärungen über die Magistratsverordnung vom 20.12.1954 bekannt werden.13 Jedoch wird auch zum Ausdruck gebracht, dass diese Verordnung Lücken aufweise wie z. B. dass in privaten Gaststätten und an den HO-Kiosken ohne vorzeigen des Personalausweises Speisen und Getränke verabreicht werden. Des Weiteren wird die Ansicht vertreten, dass es besser wäre, wenn die Westberliner, die im demokratischen Sektor arbeiten, nur für eine bestimmte Summe auf ihre Einkaufsbescheinigung Ware erhalten würden. Zum anderen fordert die Bevölkerung immer wieder eine bessere Kontrolle an den Sektorengrenzen und den Endbahnhöfen.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverbreitung

SPD-Ostbüro:14 Halle, Kreis Dessau, 5 000, Kreis Köthen 1 060, Cottbus 30 000, Gera 80, Dresden 28, Erfurt, Kreis Nordhausen, 3 500, Kreis Sömmerda 1 000.

NTS:15 wenige.

KgU:16 Halle, Kreis Bitterfeld, 1 000.

In tschechischer Sprache: Dresden, Kreis Bautzen, 1 000.

Im VEB Plasta in Sonneberg, [Bezirk] Suhl, ist eine Tablettenpressmaschine ausgefallen, weil sich in der Maschine eine leere Blechdose befand. Die Pressmaschine wurde vom VEB Plasta, Pressmassenfabrik Erkner geliefert.

Anlage vom 31. Dezember 1954 zum Informationsdienst Nr. 2405

Auswertung von Westsendungen

In einer Sendung gegen die FDJ befasst sich RIAS mit der 9. Tagung des FDJ-Zentralrats.17 Dabei spricht man von »Remilitarisierungsabsichten«, die auf der 9. Zentralratstagung beschlossen worden seien und hetzt, dass die FDJ eine vormilitärische Organisation sei. Man bezweckt damit, dass unaufgeklärte, pazifistisch eingestellte Jugendliche aus der FDJ austreten und fordert auch dazu auf, indem es wörtlich heißt: »… Die Jugendlichen können sich praktisch dem Verbandsauftrag (in die KVP einzutreten)18 durch Austritt aus der Organisation entziehen.«

In einer anderen Sendung gegen die VP-Werbung19 unter Jugendlichen wird aufgefordert, in Schulen, Lehrwerkstätten und Universitäten kleine Interessengemeinschaften zu gründen, die sich nicht mit militärischen Fragen beschäftigen.

Gegen die Nichtbeteiligung am FDJ-Schuljahr richtet sich eine Sendung zu Beginn des FDJ-Schuljahres 1954/55. Nach Aufzählung von Mängeln bezüglich der Vorbereitung zum Schuljahr in einigen Betrieben heißt es wörtlich: »… Der Zentralrat hat mit seinen Schulungsplänen für 1954/55 das dritte Mal vor euch kapituliert. Bei jedem neuen Schuljahr ging er einen Schritt zurück. Und wer ihn zur Aufgabe der letzten Position zwingen will, darf sich am Schuljahr nicht beteiligen. Natürlich müssen wir eine Einschränkung machen, sobald Repressalien ergriffen werden, solltet ihr es nicht darauf ankommen lassen.«

Um das Ansehen der FDJ zu schädigen, wird in einer Sendung »Briefe von FDJler0n« behauptet, dass bei den zzt. stattfindenden BGL-Wahlen Jugendfreunde die Aufgabe haben, die Stimmung in den Betrieben zu den Wahlen festzustellen. Dazu heißt es: »Wir sollen uns besonders in den Kasinos der Betriebe aufhalten und unsere Ohren spitzen. Es ist also für die Kollegen nicht ratsam, wenn sie allzu offen über ihre Ansichten bei den BGL-Wahlen sprechen.«

In einer Sendung des RIAS versucht man die Jugendlichen von der Jugendweihe und dem Vorbereitungsunterricht dazu abzuhalten. Man appelliert besonders an kirchliche Anschauungen, indem man erklärt, dass sich die Jugendweihe gegen die Kirche richtet und im Widerspruch zur Kommunion und Konfirmation stehe. Man will damit erreichen, dass besonders kirchlich eingestellte Menschen die Jugendweihe ablehnen. In einem Hirtenbrief des katholischen Bischofs werden ebenfalls die Eltern und Jugendlichen aufgefordert, die Jugendweihen abzulehnen. Wörtlich heißt es dort: »… Nun habt Mut und sagt Nein, wenn man euch zu einer anderen Jugendweihe holen will. Ihr braucht nicht viel zu reden, sagt nur euer klares Nein.«

In dieser Sendung versucht man noch die Jugendlichen von der Teilnahme an FDJ-Gruppenabenden abzubringen, indem man sagt, »dass dort die Jugendlichen erfasst werden, die durch das Elternhaus gehindert werden, am Vorbereitungsunterricht zur Jugendweihe teilzunehmen«.

Zur Beeinflussung der pazifistisch eingestellten Jugendlichen wird erklärt, »dass der Vorbereitungsunterricht zur Jugendweihe der militärischen Ausbildung diene«.

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