Zur Beurteilung der Situation in der DDR
17. Oktober 1954
Informationsdienst Nr. 2342 zur Beurteilung der Situation in der DDR
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Stimmung unter den Werktätigen über politische Tagesfragen hat sich gegenüber den Vortagen nicht wesentlich geändert. Im Vordergrund der Diskussionen stehen weiterhin die Volkskammerwahlen,1 worüber überwiegend positiv gesprochen wird. Man erklärt sich mit der einheitlichen Kandidatenliste einverstanden und verpflichtet sich, die Kandidaten zu wählen. Ferner werden immer noch Produktionsverpflichtungen zu Ehren des 17.10.[1954] übernommen. Verpflichtungen zur offenen Stimmabgabe sind etwas umfangreicher geworden, jedoch noch gering.
Negative Meinungen traten ganz gering und meist vereinzelt auf. Hierbei herrscht die Forderung nach Listenwahlen vor. In diesem Zusammenhang wird des Öfteren erklärt, dass das Ergebnis bereits feststehe. Vereinzelt wendet man sich gegen das offene Wählen. Ein Lokfahrer vom Wismut-Schacht 4 in Oberschlema:2 »Das Ergebnis der Wahl liegt doch schon lange fest und die Wahl selbst ist doch nur zum Schein. Das ist bei Hitler auch schon so gewesen und ist heute ebenfalls so.«
In den chemischen Werken BUNA erklärten sich 60 Prozent der Kollegen bereit, am 17.10.[1954] offen ihre Stimme abzugeben. Vertreter der BGL der Bau-Union im Buna-Werk sind der Meinung, dass das offene Wählen verfrüht sei und eine Verletzung der geheimen Wahlen bedeute.
Im VEB Süd-Thüringen-Druckerei in Meiningen, Werk II treten in der Abteilung Lichtdruck in den letzten Tagen negative Diskussionen zur Volkswahl auf. Man diskutiert, dass es nach der Wahl »bergab gehe«.
Im Mercedes-Werk Zella-Mehlis sprach sich ein Teil der Kollegen gegen das offene Wählen aus. Zum Beispiel äußerte ein LDP-Mitglied, dass seine Partei die Verfügung erlassen hätte, nicht offen zu wählen.
Im EKB Bitterfeld,3 [Bezirk] Halle, fand eine gesamtdeutsche Chemiearbeiter-Konferenz statt.4 Dazu wird bekannt, dass die Versorgung der Delegierten sehr schlecht organisiert war. Bei den westdeutschen Chemiearbeitern hinterließ dies keinen guten Eindruck.
Zur Arbeitsniederlegung kam es am 15.10.[1954] unter den 13 Monteuren von der Privatfirma Fittner aus Bad Köstritz,5 die zzt. im VEB Kaliwerk »Einheit« in Dorndorf, [Bezirk] Suhl, arbeiten, da ihre Lohnabrechnung nicht in Ordnung war. Nachdem vom Kaliwerk ein Vorschuss gezahlt wurde, nahmen sie nach einigen Stunden die Arbeit wieder auf.
Ebenfalls wegen Lohndifferenzen legten sechs Arbeiter von der Baufirma Sieberts,6 die zzt. im Kaltwalzwerk Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, tätig sind, für kurze Zeit die Arbeit nieder.
Unter den Arbeitern vom VEB Bergmann-Borsig, die im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« eingesetzt sind, kam es zu Missstimmungen, da in diesem Monat wiederum der Lohnzahlungstag durch Verschulden des Berliner Stadtkontors nicht eingehalten werden konnte. Drei Brigaden (50 Arbeiter) legten deshalb am 14.10.[1954], von 6.00 bis 9.00 Uhr die Arbeit nieder.7
Im Kreisbauhof Putbus, [Bezirk] Rostock, tritt Verärgerung unter den Kollegen auf, da Schwierigkeiten bei der Anfuhr von Baumaterialien bestehen. Ein Maurer äußerte dazu: »Wenn wir kein Material haben, ist das ein Verlust im Verdienst. Deshalb werden wir kündigen.«
Im VEB Glashütte Schönborn, Kreis Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, wird in Diskussionen von den Werktätigen eine einheitliche Lohngestaltung gefordert. Es handelt sich hierbei vor allem um Handwerker, Heizer und Maschinisten, die in allen Betrieben die gleiche Arbeit verrichten müssen.8
Materialmangel
Bei der Bau-Union Bautzen fehlt es an Zement, deshalb verschiedene Baustellen umprojektiert, eventuell sogar stillgelegt werden müssen.9
Im VEB Sächsische-Pianoforte-Fabrik Seifhennersdorf, [Bezirk] Dresden, ist die Planerfüllung wegen Materialmangel gefährdet. Der Betrieb hat zu 90 Prozent Exportaufträge. Besonders fehlt es an Klaviaturen,10 Mechaniken, Rippenhölzern und Holzschrauben.11
In der Privatweberei Großmann in Großröhrsdorf,12 [Bezirk] Dresden, wird dringend 2-zylindrisches Schussgarn benötigt, und wenn bis Ende Oktober kein Material eintrifft, müssen 100 Arbeiter entlassen werden. Die Zulieferbetriebe haben der Weberei mitgeteilt, dass sie wegen Arbeitskräftemangel und schlechten Rohstoffen ihre Lieferungstermine nicht einhalten können.13
In dem VEB Schraubenfabrik Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, besteht ein großer Rohstoffmangel, wodurch der Quartalsplan nicht erfüllt werden konnte.
Waggonmangel besteht im VEB Kalkwerk Ludwigsdorf, [Bezirk] Dresden. Wenn die Waggongestellung weiterhin so ungenügend ist, müssen einige Abteilungen stillgelegt werden, da nicht genügend Silos für die Speicherung von Kalk zur Verfügung stehen.14
Produktionsstörungen
Am 12.10.[1954] kam es im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« zu einem Zusammenstoß zwischen einem Kokszug und drei Talbotwagen.15 Vermutlich hatten unbekannte Täter die Hemmschuhe von den Talbotwagen, die auf einem Abstellgleis standen, entfernt, sodass die Wagen ins Rollen kamen. Sachschaden noch nicht bekannt.16
Im VEB Sächsisches Kunstseidenwerk Pirna wurde eine Schnellschussprobe der EKM Turbine im Kesselhaus I durchgeführt, wobei Störungen innerhalb der Turbine auftraten. Der Läufer wird zum VEB EKM Dresden17 zur Überprüfung zurück[ge]schickt.18
Handel und Versorgung
Schwierigkeiten in der Versorgung mit Kohlen bestehen in fast allen Kreisen des Bezirkes Magdeburg. Der Kreis Klötze z. B. hat einen Fehlbestand von 920 Tonnen vom Jahressoll. Hinzu kommen 545 t Briketts, die für freie Spitzen19 an Bauern zur Ausgabe gelangen sollen. Dieselben Schwierigkeiten ergeben sich mit Rohbrandkohle. Aus den Aufklärungslokalen wird hierzu berichtet, dass verschiedentlich Hausfrauen äußerten: »Die schlechte Belieferung mit Kohlen wird sich bei der Volkswahl auswirken.«
Im Bezirk Rostock fehlt es an Massenbedarfsgütern. Besonders schlecht wird nach wie vor die Insel Rügen damit beliefert. Die Hausfrauen von dort müssen nach Stralsund fahren, um die einfachsten Gebrauchsgegenstände einzukaufen und sind darüber sehr verärgert.
Versorgungsschwierigkeiten bestehen ebenfalls im Kreis Bad Salzungen, die hauptsächlich auf den Mangel an Transportraum zurückzuführen sind. Am 13.10.[1954] z. B. konnte das Großhandelskontor für Lebensmittel von 40 t nur 15 t transportieren, weil nur drei Lkw zur Verfügung standen.20
Mängel in der Belieferung mit Zigaretten, Fisch und Kindernährmitteln sind in den Kreisen Eberswalde, Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder zu verzeichnen. Im Bezirk Magdeburg besteht ein großer Engpass an Hülsenfrüchten, desgleichen fehlen Nährmittel und Fischwaren.
Im Bezirk Potsdam fehlt es in fast allen Kreisen an Packpapier. In Zossen und Luckenwalde z. B. muss das Fleisch in Zeitungspapier verabfolgt werden. Im Kreis Pritzwalk und Wittstock mangelt es an Speiseöl, Nährmitteln und Süßwaren.
Seit einiger Zeit ist im Kreis Jessen, [Bezirk] Cottbus, Mangel an Motorenöl aufgetreten. Das Öl ist zwar vorhanden, es werden jedoch keine Bezugsmarken ausgegeben.
Die DHZ Lebensmittel Niesky erhielt am 15.10.[1954] von der Zuckerfabrik Riesa21 einen Waggon mit 14 t Zucker. In dem Waggon wurden vermutlich vorher Schweine transportiert. Durch die Nässe am Boden der Waggons ist der Zucker angezogen. Die Sackböden sind zum größten Teil braun gefärbt und der Zucker riecht stark nach Ammoniak. Von der Hygieneinspektion wurde der Zucker gesperrt, der Waggon geht an den Absender zurück. Da in Niesky kein Zucker am Lager ist, kommt durch diesen Verfall die Versorgung ins Stocken.22
Landwirtschaft
Weitere zahlreiche Selbstverpflichtungen zur Volkswahl bringen die überwiegend positive Einstellung zum Ausdruck. In ihren Erklärungen sprechen die Bauern den Kandidaten der Nationalen Front23 das Vertrauen aus und sind bereit, zu einem guten Gelingen der Volkswahl beizutragen. Es soll ein Teil des Dankes für die Unterstützung seitens unserer Regierung sein und verhindern, dass sich die alten Verhältnisse wiederholen. Gleichzeitig soll es zur Festigung des Friedens und zum Sturz Adenauers24 beitragen.
Sehr begrüßt wurde im Bezirk Halle, dass der Genosse Molotow25 die Arbeiter und Bauern besuchte und sich nach ihren Sorgen und Nöten erkundigte.26 Desgleichen der Besuch des Ministers Stoph27 im VEB Waschkow, Kreis Röbel,28 [Bezirk] Neubrandenburg.
Zum offenen Wählen sagte auf einer Bauernversammlung in Glienig,29 [Bezirk] Cottbus, ein Bauer: »Bei den Volkswahlen gehört meine Stimme der Liste der Kandidaten der Nationalen Front und das werde ich öffentlich bekunden. Ich brauche keine Wahlkabine.«
Ein werktätiger Bauer aus Neuendorf, Kreis Fürstenwalde: »Mit voller Absicht unterstütze ich unseren Staat der Arbeiter und Bauern, weil ich ihn stärken will. Heute noch erfülle ich den Rest meines Solls. Morgen werde ich gleich Früh abstimmen und offen den Kandidaten der Nationalen Front meine Stimme geben.«
Ein Traktorist aus der MTS Grischow, [Bezirk] Cottbus:30 »Wählt offen die Liste der Nationalen Front.« Außerdem rief er alle Traktoristen des Bezirkes auf, es ihm nachzutun.
Ein Großbauer aus Schönermark, Kreis Angermünde: »Ich ziehe doch freie Wahlen vor. Als Großbauer muss ich ja offen abstimmen, denn wenn ich in die Kabine gehe, denken alle Leute ich habe dagegen gestimmt. In Wirklichkeit bin ich aber nicht für und auch nicht gegen eine solche Regierung.«
Die negativen Stimmen sind nur vereinzelt und werden hauptsächlich von Groß- und Mittelbauern vertreten, was sich in den Forderungen nach »freier Listenwahl« und »freier Wirtschaft« ausdrückt. Ein Großbauer aus Wollenhagen, Kreis Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg: »Ich müsste mich direkt verpflichten als erster zur Wahl zu gehen, denn ich möchte für meine Stimme für Adenauer und gegen die SED gern einen Blumenstrauß haben.«
Unter den Großbauern der Gemeinde Audorf, Kreis Klötze,31 in welcher die CDU vorherrschend ist, brachte ein Großbauer zum Ausdruck: »Wann hört die Zwangswirtschaft endlich auf, denn die Ablieferung ist weiter nichts als Zwang. Wir sind gewöhnt, frei zu wirtschaften.« Ähnlich diskutierten die anderen Großbauern in der gleichen Gemeinde. Ein Großbauer aus Audorf sagte: »Die Maßnahmen der Regierung sind gut. Bloß die Durchführungen in der Kreisverwaltung sind schlecht. Dort sitzen Menschen, die nichts verstehen. Anstelle von 300 Personen sollte man 30 Fachleute hinsetzen.«
Ein Großbauer aus Großhennersdorf, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden: »Wir brauchen doch nicht erst zur Wahl zu gehen. Die Bestätigung für die Kandidaten der Nationalen Front kann doch der Gemeindebote einziehen und in die Urne stecken. Es sind doch bloß Leute als Abgeordnete, die für den Kommunismus und für ihr Gehalt schreien. Ich als Mensch zweiter Klasse brauche doch nicht zur Wahl zu gehen. Die Wahl ist doch bloß Auslandspropaganda für das kommunistische Regime. Der RIAS hat uns sehr gut aufgeklärt. Nach der Wahl beginnt wieder der alte Kurs.«32
In der Ortschaft Gerthausen, Kdo-Bereich Helmershausen, ist unter der Bevölkerung eine sehr schlechte Stimmung. Der Grund dafür ist, dass der ehemalige Landwirt [Name], der 1952 ausgesiedelt werden sollte,33 damals nach dem Westen ging und jetzt wieder zurück will. Dies ist jedoch abgelehnt worden. Der Kandidat des Bezirkstages Jacoby34 (LDP) gab auf einer Wählerversammlung die Versprechung ab, sich um diese Sache zu kümmern. Bisher aber wurde nichts unternommen und die Bevölkerung sagt: »Da sieht man ja, wie es mit den Kandidaten und ihren Versprechungen aussieht.« Ein großer Teil der Einwohner will nicht zur Wahl gehen, wenn [Name] nicht zurückkehren kann.
Negativ zu den Stimmzetteln äußerte sich ein werktätiger Bauer aus Hottendorf, [Kreis] Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg, wie folgt: »Das ist doch jetzt ein richtiges Betrugsmanöver mit der Wahl. Sonst haben wir schon lange vorher in der Zeitung den Stimmzettel abgedruckt gesehen, wo man das Kreuz hinmachen soll. Diesmal sieht es so aus, als bekäme man die fertige Liste in die Hand gedrückt. Mit einer solchen Wahl möchte ich nichts zu tun haben.«
In fast allen Kreisen der Bezirkes Frankfurt/Oder diskutiert man negativ zu der schlechten Arbeitsorganisation der MTS, die Erntehelfer und Bauern warten lassen und nicht nach ihren Plan arbeiten. Desgleichen z. T. über die Bevorzugung der Groß- und Mittelbauern seitens der MTS. Ein werktätiger Bauer aus dem Kreis Freienwalde äußerte:35 »Die MTS ist ein Sauhaufen. Wenn die Maschinen über den Berg in unser Dorf rollen, dann sind sie schon kaputt. Währenddessen arbeiten aber die anderen Maschinen bei den Mittelbauern und wir sitzen mit unseren Melkern da.« Ähnliche Diskussionen gab es im Kreis Beeskow, wo die MTS bei einem Großbauern arbeitete, während die werktätigen Bauern auf die MTS warteten. Demzufolge wurden Meinungen über die »freie Wirtschaft« ausgetauscht.
Die Traktoristen der MTS Staschwitz,36 Kreis Zeitz, besonders die Schlosser dieser MTS klagen über die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Ersatzteilen.
Von der Traktoristenschule Großraschütz, [Bezirk] Dresden, Kreis Großenhain, wird die Kartoffelrodemaschine sehr stark kritisiert. Das Herstellungsmaterial ist so schlecht, dass die Maschine nach einer Leistung von 40 Ar nicht mehr zu gebrauchen ist. Ersatzteile werden vom Institut für Landmaschinentechnik in Barnim nicht geliefert.
Im Bezirk Rostock stößt die Kartoffelernte auf Schwierigkeiten, weil die nötigen Arbeitskräfte fehlen und der Maschinenpark beschränkt ist. Bei schweren Böden fallen häufig die Kartoffelroder »Schatzgräber« aus, da es dafür keine Ersatzteile gibt. Von verschiedenen MTS des Bezirkes Rostock wird berichtet, dass in diesem Jahr mehr Ausfall an Maschinen als im Vorjahr ist, weil das Material so schlecht ist.
Beim VEB Kreisbetrieb Wismar bestehen Schwierigkeiten in der Lagerung des Getreides. Seit Sechs Wochen werden mit dem Rat der Stadt Verhandlungen ohne Erfolg geführt, um Lagerraum für 1 000 t Getreide zu schaffen. So ist in einzelnen Gemeinden z. B. das Getreide bis zu 2 m aufgeschüttet und es besteht die Gefahr, wegen des überdurchschnittlichen Feuchtigkeitsgehaltes, dass das Getreide verdirbt.
Schwierigkeiten treten im Transport der Zuckerrüben und Kartoffeln im Bezirk Rostock auf. Der VEB Kraftverkehr hat in einzelnen Kreisen zu wenig Fahrzeuge.37
Die Betriebe und VEAB, [Bezirk] Potsdam, werden durch die Transportraumschwierigkeiten behindert. Die VEAB Belzig bekommt z. B. von der Reichsbahn nicht die notwendigen Waggons für die Kartoffelverladung. Dadurch liegen auf dem Bahnhof Wiesenburg 120 t Kartoffeln im Freien.
In den Kreisen Neuruppin und Zossen wurde das Gerücht verbreitet, dass nach der Volkswahl die freien Spitzen wegfallen bzw. die Preise dafür herabgesetzt werden sollen. Im Kreis Gransee trat das Gerücht auf, dass nach der Volkswahl der Rest des Solles gestrichen wird und das Soll nur mit 70 Prozent erfüllt werden braucht.
Übrige Bevölkerung
Die Stimmung zur Volkswahl ist auch unter der übrigen Bevölkerung weiterhin positiv. Der Inhalt der Stellungnahmen ist im Vergleich zu den Vortagen unverändert. Teilweise kommt es zu Äußerungen, dass die Betreffenden ihre Stimme offen für die Kandidaten der Nationalen Front abgeben wollen. Zum Beispiel äußerte ein Bürger aus Hildburghausen, [Bezirk] Suhl: »Was unsere Regierung für uns alles geschaffen hat, ist einmalig und noch nicht dagewesen. Wir haben deshalb am Wahltag nichts zu verheimlichen. Ich werde deshalb meine Stimme den Kandidaten der Nationalen Front offen abgeben.«
In der Gemeinde Eichenberg, [Bezirk] Suhl, vereinbarten sämtliche Haus- und Hofgemeinschaften, geschlossen zur Wahl zu gehen und offen ihre Stimme für die Kandidaten der Nationalen Front zu geben. Des Weiteren verpflichteten sie sich, bis 10.00 Uhr eine 100-prozentige Wahlbeteiligung zu melden.
Demgegenüber gibt es verschiedentlich Stimmen, die sich gegen eine offene Abstimmung mit der Begründung aussprechen, dass dadurch der demokratische Charakter der Wahl nicht gewahrt bleibt. Zum Beispiel sind mehrere Beschäftigte der Bahnmeisterei Langensalza, [Bezirk] Suhl, der Meinung, dass unsere Wahlen durch ein offenes Abstimmen nicht demokratisch seien.38
Ein Rentner aus Reichenbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »In der Zeitung liest man laufend, dass sich Hausgemeinschaften und Einzelpersonen verpflichten, ihre Stimme offen den Kandidaten der Nationalen Front zu geben. Meiner Meinung nach ist diese Form der Wahl nicht in Ordnung und man kann nicht von einer geheimen Wahl sprechen«.
Ein Angestellter (parteilos) vom Staatssekretariat für Schifffahrt, Berlin, sagte, dass er nicht damit einverstanden sei, seine Stimme zur Wahl offen abzugeben.39
Der Geschäftsführer der NDPD in Meiningen, [Bezirk] Suhl, erklärte, dass er gegen die offene Wahl sei und seine Stimme, falls jemand im Wahllokal sein sollte, nicht offen abgeben kann, da dies falsch wäre.
Ein Angestellter aus dem Demokratischen Sektor von Berlin sprach seine Bedenken wegen der offenen Abstimmung mit der Begründung aus, dass dies nur vom Klassenfeind in seiner Hetze gegen die Volkswahl ausgenützt würde, und dass wir eine offene Abstimmung gar nicht notwendig hätten.
Negative Diskussionen treten weiterhin vorwiegend in den bürgerlichen Kreisen, in den Reihen der bürgerlichen Parteien sowie bei Personen, die durch den Klassenfeind beeinflusst sind, in Erscheinung. Bezeichnend ist nachstehendes Bespiel für einen Teil der Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien. Zum Beispiel lehnten in den Gemeinden Knau und Mölbitz,40 [Kreis] Pößneck, [Bezirk] Gera, die CDU-Mitglieder eine Mitarbeit bei den Wahlvorbereitungen ab, waren jedoch an der Besetzung des Wahlausschusses interessiert. Unter anderem stimmten sie im Wahlausschuss gegen den Vorschlag der SED-Mitglieder – die Wähler selbst entscheiden zu lassen und sie nicht aufzufordern, in die Wahlkabinen zu gehen. Sie erklärten, dass sie jeden Wähler auffordern wollen, in die Kabine zu gehen.
Neben positiven Stellungnahmen aus den kirchlichen Kreisen kommt es immer wieder zu negativen Erscheinungen. Bezeichnend ist weiterhin, dass die Geistlichen oftmals von ihrer übergeordneten Kirchenbehörde beeinflusst werden. Das wird an Beispielen deutlich, wo Pfarrer zur Volksbefragung41 aktiv mitgearbeitet haben und sich jetzt zurückhaltend zeigen oder offen erklären, dass ihre Mitarbeit nicht gewünscht wird. Zum Beispiel setzte sich ein Pfarrer aus Kassieck, [Kreis] Gardelegen, [Bezirk] Magdeburg, aktiv zur Vorbereitung der Wahlen ein. Daraufhin wurde er vom Superintendenten aus Gardelegen aufgesucht, der ihm anheimstellte, seine Friedensarbeit im Friedensrat sofort einzustellen, da er sich sonst gezwungen sähe, ihn in einen anderen Kreis zu versetzen.
Vor einigen Tagen fand in Westberlin ein Ephorenkonvent statt, der dort in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird und an dem alle Superintendenten der Kirchenprovinz Berlin-Brandenburg teilnehmen.42 Meist wird dieser Konvent vom Bischof Dibelius43 geleitet. Die Teilnehmer erhielten keine schriftlichen Unterlagen, wurden jedoch aufgefordert, sich Notizen zu machen und die Ergebnisse ihren Pfarrern und Kirchenältesten zu übermitteln. Im Verlauf der Aussprache wurde der Beschluss gefasst, dass die Pfarrer sich nicht an der Wahl beteiligen. Der Beschluss wurde mit 39 gegen 31 Stimmen angenommen. Die Superintendenten wurden aufgefordert, in ihren Kirchenkreisen eigene Beschlüsse fassen zu lassen, damit die Verantwortung nicht bei der Kirchenleitung liegt.
In der Gemeinde Kühndorf, [Bezirk] Gera,44 gibt es nur ein Versammlungslokal, welches der Kirche gehört. Da der Pfarrer darin jeden Abend Bibelstunden abhält, konnte keine Versammlung der Nationalen Front durchgeführt werden. Aus diesem Grunde fand nicht eine Wählerversammlung in dieser Gemeinde statt.
Aus dem demokratischen Sektor von Groß-Berlin
Am 14.10.1954 wurden von Aufklärern des Aufklärungslokales in der Zionskirchstraße 7 die Wahlaufforderungen verteilt. Dabei wurde festgestellt, dass im Haus Nr. 52 der gleichen Straße sowie in anderen Häusern dieses Wirkungsbereiches die Mieter schon im Besitz einer Wahlaufforderung waren. Es wird vermutet, dass es sich dabei um Fälschungen handelt.
Der Bezirk Köpenick/Nord ist in der Agitationsarbeit sehr vernachlässigt worden. Es gibt z. B. ganze Straßenzüge, die nicht von Aufklärern der Nationalen Front aufgesucht wurden. Aus dem Grunde können die »Zeugen Jehovas«,45 die in dieser Gegend vielfach vorhanden sind, ungestört arbeiten.
Im Bezirk Prenzlauer Berg wollten Bürger Wahlscheine ausgehändigt haben, weil sie sich über das Wochenende auf ihren Grundstücken außerhalb von Berlin aufhalten. Als ihnen dies verweigert wurde, waren sie verärgert und brachten zum Ausdruck, dass sie dann gar nicht zur Wahl gehen werden.
Bei einem Agitationseinsatz in Weißensee äußerten die Mieter eines kircheneigenen Hauses in der Charlottenstraße – an der evangelischen Kirche –, dass sie der Pfarrer aufgefordert habe, nicht zur Wahl zu gehen, was sie befolgen werden.
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:46
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Gera: Lobenstein, Zeulenroda, Jena, Eisenberg, Schleiz und Saalfeld 20 000.
- –
Erfurt: Eisenach 128.
- –
Karl-Marx-Stadt: 1 300.
- –
Neubrandenburg: Faulenhorst,47 [Kreis] Malchin, 15, Demmin 15.
- –
Frankfurt: 23 000.
- –
Dresden: 385.
- –
Halle: Würchwitz48 und Kayna, [Kreis] Zeitz, 300, Hettstedt, Nebra 154, Naumburg, Thale, Ballenstedt 70.
- –
Leipzig: 1 373.
- –
Suhl: Schmalkalden 2 100, Hildburghausen 3 000, Kaltenlengsfeld, [Kreis] Salzungen, 2 000.
- –
Cottbus: Finsterwalde 75 000, Stachow,49 [Kreis] Lübben, 200.
- –
Magdeburg: Wanzleben 100, Havelberg 43, Tangerhütte 150, Seehausen 48.
KgU:50
- –
Karl-Marx-Stadt: 23 088.
- –
- –
Frankfurt: 25 000.
- –
Dresden: Radeberg 10 000, Commerau-Königswartha, [Kreis] Bautzen, 10 000, Naunhof, [Kreis] Großenhain, 100.
UFJ:53 Neubrandenburg: Friedland 17.
FDP-Ostbüro: Dresden 32.
»DER TAG«:54 Halle: Hettstedt, Nebra 123.
NTS:55 Dresden 35, Karl-Marx-Stadt 368.
Versch[iedener] Art: Frankfurt: 62 000.
Die Hetzschriften richten sich in den meisten Fällen mit den bekannten Argumenten gegen die Volkswahlen. Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen mittels Ballons eingeschleust und sichergestellt.
Abreißen bzw. Beschädigen von Plakaten, Transparenten und Fahnen
Gera: Eisenberg, Stadtroda, Zeulenroda Plakate.
Erfurt: Förtha, [Kreis] Eisenach, acht Plakate.
Neubrandenburg: Goldenbaum Plakate, Strasburg vier Plakate.
Cottbus: Calau, Senftenberg, Liebenwerda, Spremberg, Lübben Plakate.
Dresden:
- –
Königsbrück zwei Plakate,
- –
Steindörfel, [Kreis] Bautzen, von einem Transport in deutscher und sorbischer Sprache wurde die Losung in sorbischer Sprache entfernt,
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Niesky fünf Plakate,
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Kamenz fünf Plakate abgerissen und zwei Transparente beschädigt,
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Königshain, [Kreis] Großenhain, eine Sichtwerbung beschädigt,
- –
Großenhain fünf Plakate und eine Fahne heruntergerissen,
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Meißen sieben Plakate.
Karl-Marx-Stadt: 142 Plakate in verschiedenen Kreisen.
Frankfurt: In neun Gemeinden Plakate abgerissen, Greiffenberg, [Kreis] Angermünde, ein Transparent von einer Brücke in den Fluss geworfen.
Rostock:
- –
zwei Fahnen in der Stadt Rostock entfernt,
- –
Stralsund zwei Fahnen,
- –
Behnkendorf56 ein Plakat,
- –
Neegrat,57 [Kreis] Stralsund, ein Plakat,
- –
Wolgast zwei Fahnen,
- –
Lassan, [Kreis] Wolgast, vier Plakate.
Leipzig: Grimma 15–20 Plakate, Waldheim Plakate, Kitzscher und Steinbach Plakate.
Suhl: Hildburghausen Plakate.
Magdeburg: Havelberg, Parchim,58 [Kreis] Genthin, Herdelben, [Kreis] Halberstadt,59 21 Plakate, Quenstedt, [Kreis] Halberstadt, Oschersleben, Magdeburg, Calbe, Derenburg, [Kreis] Wernigerode, 25 Plakate.
Anschmieren von antidemokratischen Losungen
Gera: Orlamünde, [Kreis] Jena, Hakenkreuz an Hauswand.
Erfurt: Sömmerda VEB Rheinmetall »Der 17. Juni 1953 ist der Feiertag der Arbeiter, nieder mit der SED-Regierung«.
Halle: FDJ-Kreisleitung drei Hakenkreuze.
Dresden:
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Personenzug Neukirch – Bautzen Wahlplakate mit Hetzlosungen beschmiert,
- –
Hainewalde, [Kreis] Zittau, Wahlplakate durchkreuzt,
- –
Freital Wahlplakate mit schwarzer Ölfarbe überstrichen,
- –
Oelsen, [Kreis] Pirna, ein Schild mit Hetze gegen die dort eingesetzten Instrukteure »Hinaus aus Oelsen mit den zwei Parteibonzen, die sich auf Kosten der Arbeiter ein gutes Leben machen«.
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Telefonzelle in Zittau Hetzlosung gegen Genossen Pieck,60 Grotewohl61 und Ulbricht.62
- –
Personenzug Königshain – Görlitz »Nieder mit Walter Ulbricht«.
Groß-Berlin: In zwei Hörsälen der Humboldt-Universität wurden die Hetzlosungen »Rapoport – Jude Raus«63 und »Hitler wählen war schlimm, die SED wählen noch schlimmer« geschrieben.
Suhl: VEB Kammgarnspinnerei Niederschmalkalden »Heil Hitler, das ist richtig«.
Diversionen: In der Nacht zum 15.10.1954 wurde die Kartoffelrodemaschine der MTS Niemegk, [Kreis] Belzig, [Bezirk] Potsdam, umgekippt und die Spindel zum Tief- und Flachstellen des Pfluges dadurch abgebrochen.
Am 16.10.1954, gegen 5.45 [Uhr] wurde am Ortsausgang von Steinheid, [Kreis] Neuhaus, [Bezirk] Suhl, eine Straßensperre festgestellt.
Gerüchte: Görlitz, [Bezirk] Dresden: Alle Personen, welche die Wahlkabinen aufsuchen, werden registriert.
Tharandt, [Kreis] Freital, [Bezirk] Dresden: Die Regierung beabsichtigt, nach der Wahl die Renten um 20,00 DM zu kürzen.
Einschätzung der Situation
Die Anteilnahme der Bevölkerung, besonders der Arbeiter, an den Vorbereitungen zu den Volkswahlen hat sich weiterhin verbessert, trotzdem lässt noch ein großer Teil kein oder nur geringes Interesse an politischen Fragen erkennen.
Die negativen und feindlichen Stimmungen haben weiterhin nur verhältnismäßig kleinen Umfang.
Sonst ergeben sich keine wesentlichen Veränderungen in der Lage gegenüber dem Vortag.