Briefe mit Stellungnahmen zu den Ereignissen in Ungarn und Polen

Datum so im Original. Da der Bericht vom 13.12.1956 stammt, kann das Datum nicht stimmen.

Im Original durchgehend: »Ganze«. Robert Ganse, Jg. 1909, Arzt und Hochschullehrer, 1933 Inhaftierung im KZ Brauweiler, Hochverratsprozess und Freispruch, 1945–47 Assistenzarzt bzw. Leiter der Universitäts-Frauenklinik in Erlangen, Eintritt in die KPD, Vorsitzender der VVN Bayern, 1947 politisch motivierte Entlassung aus dem Hochschuldienst und Übersiedlung nach Dresden, Chefarzt der Frauenklinik des Krankenhauses Dresden-Friedrichstadt, 1951–52 Abgeordneter des Sächsischen Landtags, 1954–72 Direktor der Frauenklinik und 1955–72 Professor an der Medizinischen Akademie Dresden.

Die Stellungnahme ist ohne Überschrift erschienen in: Sächsische Zeitung. Organ der Bezirksleitung Dresden der SED v. 8.11.1956, S. 2. Sie hat folgenden Wortlaut: »Mit Genugtuung habe ich von der Bildung der neuen ungarischen Regierung erfahren und begrüße ihre revolutionäre Entschlossenheit, mit der sie sich gegen den weißen Terror wendet. Es wirkt grotesk, daß in diesem Augenblick der entschlossenen Rettung der ungarischen Republik französische und englische Staatsmänner eine unglaubliche Schimpfkanonade – natürlich zusammen mit Bonn – gegen die sowjetischen Truppen beginnen, die den ungarischen revolutionären Arbeitern und Bauern auf deren Bitten zu Hilfe eilten. Niemand hat England und Frankreich nach Ägypten gerufen, während die revolutionären Arbeiter und Bauern Ungarns die Sowjetunion um Hilfe baten. Das ist ein gewaltiger Unterschied! Es ist das Pech der Imperialisten, daß ihre Heuchelei und ihre Lügen sehr kurze Beine haben und von den Völkern schneller, als ihnen lieb ist, durchschaut werden. Der von langer Hand vorbereitete Putsch in Ungarn ist zusammengebrochen. England und Frankreich werden aus ihrem verbrecherischen Versuch, einen Weltbrand zu entfesseln, nichts Gutes ernten. Gewiß, die Toten werden davon nicht mehr lebendig; die unschuldigen Opfer in Ägypten werden dennoch den Untergang der Imperialisten beschleunigen: die erschlagenen Patrioten in Ungarn starben nicht umsonst. Noch enger und von tiefer brüderlicher Solidarität erfüllt, werden die Arbeiter und Bauern des sozialistischen Lagers zusammenstehen. Der blutrünstige Imperialismus aber wird für Millionen in einer ganzen Schändlichkeit sichtbar. Er muß seinen schmutzigen Krieg in Ägypten verlieren.«

Hier geht es um den Volksaufstand in Ungarn, der am 23.10.1956 mit Demonstrationen in Budapest begann, die sich in den folgenden Tagen auf das ganze Land ausweiteten. Bereits am Abend des 23.10. bat Parteichef Ernő Gerő die sowjetische Armee um Hilfe. Am 24.10. wurde die Forderung der Demonstranten nach der Berufung des reformorientierten Kommunisten Imre Nagy zum Ministerpräsidenten erfüllt, am 25.10. wurde Parteichef Gerő durch Janos Kádár ersetzt. Zeitgleich kam es zu Angriffen auf die Demonstranten, bei denen etwa 200 Personen getötet wurden. Am 30.10. bildete Nagy eine Mehrparteienregierung und am 1.11. erklärte er die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Am 4.11. wurde Nagy als Ministerpräsident abgesetzt und durch Kádár ersetzt, die sowjetische Armee griff erneut ein. Bis zum 15.11. gab es heftige Kämpfe im Land, denen aufseiten der Aufständischen etwa 2 500 Menschen zum Opfer fielen. In den folgenden Wochen wurden Oppositionelle scharf verfolgt, etwa 200 000 von ihnen flohen ins westliche Ausland. Vgl. dazu u. a. Varga, László: Der Fall Ungarn. Revolution, Intervention, Kádárismus. In: Engelmann, Roger; Großbölting, Thomas; Wentker, Hermann (Hg.): Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen. Göttingen 2008, S. 127–136.

Władysław Gomułka, Jg. 1905, polnischer kommunistischer Politiker, 1942 Mitbegründer, 1943–48 Generalsekretär der Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza – PPR) sowie 1945–49 stellvertretender Ministerpräsident Polens und Minister für die wiedergewonnenen Gebiete, Ende 1949 aus der PVAP ausgeschlossen, 1951 verhaftet, Ende 1954 aus der Haft entlassen, am 21.10.1956 zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt.

Am Tag nach seiner Wahl zum Ersten Sekretär der PVAP hielt Gomułka eine Rede vor dem Plenum des ZK, in der er u. a. Systemänderungen ankündigte, die Möglichkeit »verschiedener Wege zum Sozialismus«, die Abkehr vom Personenkult und die Unabhängigkeit eines jeden sozialistischen Staates postulierte sowie die Einschätzung des Posener Aufstandes im Juni als »Werk imperialistischer Agenten« revidierte. Die Rede Gomułkas ist gekürzt dokumentiert in: Ost-Probleme 8(1956)45, S. 1553–1567.