Direkt zum Seiteninhalt springen

Diskussionen über die Verurteilung des Personenkults

25. Juli 1956
Information Nr. 90/56 – Betrifft: Bericht über die Diskussionen in Versammlungen zur Verurteilung des Personenkults

Zur Einschätzung der Diskussionen in den Versammlungen in den Industrie- und Verkehrsbetrieben, im sozialistischen Sektor der Landwirtschaft, in den Wohngruppen der Partei, an den Universitäten und Hochschulen, in den Gruppen der FDJ sowie in den verschiedensten Institutionen kann gesagt werden, dass sich eine Reihe Unklarheiten zeigen. Diese beruhen aber in der Mehrzahl nicht auf einer negativen Einstellung, sondern sind viel mehr auf Unkenntnis der Tatsachen, wie es möglich war, dass sich in der SU der Personenkult Stalins entwickeln konnte, zurückzuführen. Dabei gilt es aber auch zu erwähnen, dass der Einfluss durch die Westpropaganda, gerade in den Fragen des Personenkults, nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Am stärksten sind bei den Unklarheiten nachstehende Argumente:

  • Warum wird Stalin erst nach seinem Tode kritisiert?

  • Wie konnte es überhaupt zu solchen Fehlern Stalins kommen?

  • Warum haben die Genossen des ZK der KPdSU nicht schon früher etwas gegen den Personenkult getan?

Hierzu einige konkrete Beispiele:

  • Auf einer Aktivtagung mit anschließendem Seminar im Kaliwerk »Marx-Engels« Unterbreizbach, [Bezirk] Suhl, kam in verschiedenen Diskussionen zum Ausdruck: »Warum hat das ZK nicht früher etwas gegen den Personenkult unternommen?« (Darüber wurde im Seminar Klarheit geschaffen.)

  • In der Versammlung des VEB Ölwerk Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, erklärten zwei Genossen: »Die Genossen Chruschtschow und Molotow1 waren Mitglieder des ZK. Warum haben sie nicht schon während dieser Zeit die Politik Stalins kritisiert? Im Gegenteil, sie haben ihn als den großen Feldherrn herausgestellt.«

  • Der Parteisekretär von der MTS Kerkau, [Bezirk] Magdeburg, brachte in den Diskussionen zum Ausdruck: »Es ist schlecht, wenn Funktionäre nach ihrem Tode in den Dreck getreten werden. Damit werden die Leninschen Parteinormen verletzt, da Stalin zu dieser Kritik keine Stellung beziehen kann.«

Diskussionen ähnlichen Inhalts wurden in Versammlungen des Bauhof Eisenach, [Bezirk] Erfurt, beim Rat des Kreises Grevesmühlen, [Bezirk] Rostock, der LPG Kölzow, [Bezirk] Rostock, in der FDJ-Kreisleitung Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, im VEB »Welta« Kamerawerke Freital, [Bezirk] Dresden, VEB Waggonbau Görlitz, im VEB Chemiewerk Greiz-Dölau, [Bezirk] Gera, im VEB EAW »J. W. Stalin« Berlin-Treptow, beim Rat des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg, beim Rat des Stadtbezirkes Berlin-Lichtenberg geführt.

Neben diesen angeführten Argumenten werden vielfach auch Parallelen zur Politik des Politbüros der SED gezogen, wobei es zu offenen feindlichen Meinungen besonders gegenüber dem Genossen Ulbricht kommt. Dies ist nicht zuletzt auch auf die starke Propaganda des Gegners zurückzuführen.

In einer Versammlung der Grundorganisation der Dozenten der ABF in Jena am 9.7.1956 kam es zu folgenden Erscheinungen: In der Diskussion der Dozenten wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Vertrauen mehr zur Parteiführung hätten, »da diese trotz Wissen um die Erscheinungen des Personenkults, diesen mitgemacht hat«. Wörtlich sagte ein Dozent: »Die Genossen der Parteiführung sind keine guten Psychologen. Sie würden sonst die Tatsachen um den Personenkult mit Stalin nicht nur tropfenweise bekannt geben und würden dabei bedenken, dass viele Werktätige bereits über diese Dinge mehr wüssten.« In diesem Zusammenhang wurde auch die Meinung vertreten, dass es offensichtlich notwendig sei, den RIAS zu hören, um einen klaren Überblick zu bekommen. Außerdem wurde den führenden Genossen vorgeschlagen, dass Ohr mehr an der Masse zu haben, da schon jetzt ein solcher Zustand eingetreten sei, dass die Genossen von der Mehrzahl der Arbeiter nicht mehr ernst genommen würden.

Einen ähnlichen Verlauf nahm auch eine Versammlung der Chemiker (Wissenschaftler) der Universität Jena. Auch hier wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Vertrauen mehr zum ZK besitzen würden und dass Umbesetzungen, besonders im Hinblick auf den Genossen Ulbricht, vorgenommen werden müssten. Verschiedentlich wurde auch versucht, dies als die Meinung der »Masse« hinzustellen. Auf Initiative der Universitäts-Parteileitung wurde in dieser Grundorganisation eine zweite Parteiversammlung durchgeführt, die aber wieder in ähnlicher Form wie die vorhergehende verlief. So sagte z. B. ein Genosse: »Walter Ulbricht ist bei der Bevölkerung nicht beliebt und ich schäme mich, wenn ich immer höre, wie ihn die Arbeiter immer betiteln. Die Leunawerke ›Walter Ulbricht‹ werden nur als ›Spitzbarthausen‹2 bezeichnet. Es wird ein Mann gebraucht, der in der heutigen Situation mehr kann. Auch würde die SPD mit uns verhandeln, aber nicht mit Walter Ulbricht. Diese Dinge sollten vom ZK überprüft werden, da sie als Wissenschaftler dies nicht beurteilen könnten.« In beiden Versammlungen, sowohl der Dozenten wie auch der Chemiker, setzten sich die positiven Diskussionen nicht durch.

Im Stickstoffwerk Piesteritz, [Bezirk] Halle, wurde in einer Beratung der Funktionäre Folgendes zum Ausdruck gebracht: »Wer garantiert uns dafür, dass Walter Ulbricht nicht das Gleiche tut? Es ist doch so, was er sagt, muss gemacht werden.«

In einer Mitgliederversammlung der LPG Berßel, [Kreis] Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg, äußerte ein Genosse: »Aufgrund seiner gemachten Fehler müsste der Genosse Ulbricht abgelöst werden.« Ebenfalls in einer Mitgliederversammlung in Badersleben, [Kreis] Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg, meinte ein Genossenschaftsbauer: »Walter Ulbricht schwimmt im Fahrwasser von Stalin.«

Ein Lehrer der Oberschule in [Bad] Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt/O., äußerte in einer Parteiversammlung: »Wenn wir Fehler machen, dann werden wir bestraft. Wenn aber Spitzenfunktionäre den Personenkult durchführen, dann gehen sie straffrei aus. In den Volksdemokratien mussten führende Funktionäre abtreten und wurden zur Verantwortung gezogen. Bei uns geschieht so etwas nicht. Dass aber Fehler gemacht wurden, zeigen doch die Entlassungen Tausender unschuldig Verurteilter der letzten Zeit.3 An diesen Fehlern hat auch Walter Ulbricht Schuld und es könnte gar nichts schaden, wenn er auch mal als kleiner Parteifunktionär arbeiten müsste.«

In einer Jugendberatung in Streußdorf, [Kreis] Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, erklärten zwei Jugendliche: »Jetzt ist M. Rákosi zurückgetreten.4 Wann kommen nun Ulbricht und die rote Hilde5 dran?« In den FDJ-Gruppen in Hagenow und Gadebusch, [Bezirk] Schwerin, wurde über die Hetzschrift »Steckbrief« (gegen Walter Ulbricht gerichtet) diskutiert. Dabei kam es vereinzelt zu der Meinung, dass W. Ulbricht zurücktreten müsse. Durch einen Einsatz der Bezirksleitung der FDJ war es möglich, diese Meinungen zu korrigieren. Im Kreis Sternberg, [Bezirk] Schwerin, wurde in den FDJ-Gruppen in Wamckow6 und Dessin das Gerücht verbreitet, W. Ulbricht sei republikflüchtig geworden.

Zum anderen tritt in den Versammlungen auch in Erscheinung, dass sich Genossen entweder nicht damit abfinden können, dass Stalin nicht so ein Mensch war, wie es durch den Personenkult dargestellt wurde, oder gar nicht glauben, dass er Fehler gemacht hat. Vereinzelt kommt es dabei zu offenen Sympathieerklärungen. Die hauptsächlichsten Argumente sind dabei:

  • »Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass Stalin solche Fehler gemacht hat.«

  • »Es ist unverständlich, dass jetzt die Politik Stalins so verleumdet wird.«

  • »Stalin hat keine Fehler gemacht, das Ganze wurde nur von seinen Nachfolgern inszeniert.«

  • »Genosse Stalin hat so hohe Verdienste, dass man ihm nichts Übles nachsagen braucht.«

Hierzu einige konkrete Beispiele:

  • Bei einer durchgeführten Versammlung in Altenroda, [Bezirk] Halle, sagte am Schluss ein Parteiveteran: »Es lebe der Genosse Stalin«. Dem schlossen sich noch weitere alte Genossen an, die außerdem noch äußerten: »Walter Ulbricht hat ja erst von unserem Genossen Stalin gelernt und wir lassen auf ihn nichts kommen.«

  • In den Parteiversammlungen im Kalischacht Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, erklärten Genossen: »Man soll nicht von einem Extrem ins andere verfallen. Stalin ist für uns nach wie vor ein Klassiker.«7

  • In einer Lehrerversammlung der Oberschule Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, äußerte ein Lehrer: »Es ist uns unverständlich, warum man Tito8 genauso verleumdet hat, wie heute die Politik Stalins verleumdet wird.«

  • In einer Versammlung des Lehrerinstitutes in Güstrow,9 [Bezirk] Schwerin, erklärte ein Dozent: »Es ist falsch, dass man dem Genossen Stalin alles in die Schuhe schieben will, denn die Genossen Chruschtschow und Mikojan10 waren ebenfalls Mitglieder des ZK

  • Ein anderer sagte: »Es gibt eine Reihe von Filmen, wie ›Der Fall von Berlin‹11 und ›Stalingrader Schlacht‹,12 die beweisen, dass Stalin im Kollektiv gelenkt und demzufolge auch gearbeitet hat.«

Abschließend sei noch bemerkt, dass die Versammlungen zu dem Thema Personenkult und seine Folgen in der nächsten Zeit erst größeren Umfangs durchgeführt werden. [sic!]

  1. Zum nächsten Dokument Absatzschwierigkeiten bei Möbeln

    25. Juli 1956
    Information Nr. 91/56 – Betrifft: Möbelstau

  2. Zum vorherigen Dokument Hochwasserkatastrophe

    24. Juli 1956
    Information Nr. 89/56 – Betrifft: Hochwasserkatastrophe