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Lage in der DDR (4) 28.–29.10.

29. Oktober 1956
Information Nr. 286/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (vom 28. bis 29.10.1956, 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr, eingegangenes Material)

1. Lage in der Industrie

Magdeburg: Am 26.10.1956 wollten zwei Krananhänger und ein Kranführer des »Ernst-Thälmann-Werkes« Magdeburg die Arbeit niederlegen, da ihnen durch Verschulden des BGL-Mitgliedes K. die Milch nicht gegeben wurde. Nach Klärung durch die Zentrale Parteileitung kam es nicht zur Arbeitsniederlegung. Seit dem 27.10.1956 fordern die Brenner der Putzerei des »Ernst-Thälmann-Werkes«, die bisher keine Milch erhielten, ebenfalls Milch. Die gleiche Forderung stellten die Putzer der Eisengießerei. Der Brigadier B. aus der Putzerei des »Ernst-Thälmann-Werkes« forderte die Arbeiter der Putzerei auf, an einer Kurzversammlung teilzunehmen. Die Arbeit wurde abgebrochen mit dem Bemerken, aufhören, jetzt wird gestreikt. Zu besonderen Ereignissen kam es nicht. Ein Heizer, Umsiedler aus dem Sudetenland, beschäftigt in der Schiffswerft »Edgar André«, äußerte: »Der nächste Staat, in dem Provokationen stattfinden, ist die ČSR. Auch bei uns brodelt es wieder.«

Rostock: Auf den Baustellen des Bezirkes Rostock, wo insbesondere Tiefbauarbeiter tätig sind, ist die Stimmung wegen zu niedriger Lohngruppe und Lebensmittelkarte schlecht (Lohngruppe II,1 Lebensmittelkarte C).2

Erfurt: Ein Arbeiter aus dem VEB Kaliwerk Bleicherode äußerte: »In der DDR müsste man ebenfalls die Arbeit niederlegen, in Polen wäre auch wieder etwas los. In Posen werden sowjetische Truppen zusammengezogen und er freue sich schon darauf, wenn der Aufruhr nach Deutschland hereinkommt, dann wäre für ihn die Stunde des Angriffs gekommen.« Der BGL-Vorsitzende im VEB Druckerei »Fortschritt« Erfurt, Mitglied der SED, hat dem Parteisekretär am 27.10.1956 die Uniform der Kampfgruppe3 vor die Füße geworfen und einen Parteiauftrag abgelehnt.

Landwirtschaft

Rostock: Der ehemalige Bürgermeister von Allerstorf, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten],4 äußerte: »Es rumort ja überall ganz schön. In Polen stinkt es gewaltig. Man muss ja bei uns in punkto Ablieferung auch schon klein beigeben.« Der LPG-Vorsitzende, Mitglied der SED, aus Ahrenshagen, [Kreis] Ribnitz, brachte zum Ausdruck: »Ich habe noch 40 Morgen Kartoffeln in der Erde und von den Mitgliedern wird in der Form diskutiert, wenn die LPG nicht besser mit Arbeitskräften unterstützt wird, kann es hier genauso kommen wie in Ungarn.«5

Halle: Ein Mitglied der LPG Stößen brachte zum Ausdruck, dass in der nächsten Zeit auch Unruhen in Österreich zu erwarten sind, dies hätte der Westdeutsche Rundfunk mitgeteilt.

Versorgung

Magdeburg: Im Kreis Loburg6 ist die Belieferung mit HO-Frischfleisch und Wurst mangelhaft. In letzter Zeit wird von den Hausfrauen häufig zum Ausdruck gebracht, dass diese Verhältnisse elf Jahre nach Kriegsende nicht mehr bestehen dürften.

Rostock: In der Gaststätte »Darßer Wald«7 in Prerow, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], äußerte der Fleischergeselle H.: »In der DDR kommt es ebenfalls zu Unruhen. Bis Weihnachten gibt es auch bei uns eine neue Regierung. Laut Bekanntgabe des Genossen Ulbricht sollten die Lebensmittelkarten nach der Ernte abgeschafft werden.8 Daraus wird nichts, sondern erst nach Bildung einer neuen Regierung.« In der Gaststätte »Die Faust« und am Strande von Zingst, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], wurden von einigen Fischern Wetten abgeschlossen, dass Genosse Ulbricht bis Weihnachten abgelöst werden soll, da er ein Stalin-Anhänger wäre.

Erfurt: In einigen HO-Lebensmittelgeschäften in der Stadt Erfurt wurde festgestellt, dass in größerem Umfange haltbare Lebensmittel wie Fett usw. gekauft werden. Die Kunden bringen zum Ausdruck, dass man aufgrund der internationalen politischen Lage auch mit einem Ausnahmezustand in der DDR rechnen muss. Auf dem Wochenmarkt Domplatz Erfurt wurden Diskussionen über zu hohe Fleisch- und Gemüsepreise geführt. Es wurde geäußert, dass man die Stände umwerfen sollte. Die Polizei musste eingreifen und zusammen mit bewussten Menschen für Ordnung sorgen.

Übrige Bevölkerung

Magdeburg: Der Elektromeister R. aus Berge, [Kreis] Osterburg, erklärte: »Dass unsere Arbeiter dumm seien, weil sie sich alles gefallen lassen. Sie müssten vielmehr streiken, damit die Verhältnisse bei uns aufhören.« Der Schulleiter der Berufsschule Bismark,9 [Kreis] Kalbe (Milde), äußerte: »Die DDR ist noch der einzige Staat mit einer stalinistischen Regierung. Es würde jedoch soweit kommen, dass dem Ulbricht noch Angst und Bange wird.«

Feindtätigkeit

Magdeburg: Zwei Funktionäre des »Ernst-Thälmann-Werkes« erhielten durch die Post je einen Briefumschlag mit ihrem Bild, welches aus der Tageszeitung entnommen war. Den Bildern war ein Kinnbart eingezeichnet. Sie waren aufgeklebt und mit »Hundsköpfe« bezeichnet. Absender unbekannt. Poststempel Magdeburg.

  • In der Nacht zum 27.10.1956 wurde in der HO-Bäckerei Stendal, Bahnhofstraße, das sich im Büroraum befindliche Bild von Wilhelm Pieck umgedreht. Des Weiteren wurde auf einem DIN A Blatt handschriftlich geschrieben: »Weg mit Ulbricht, Russen raus«.

  • Der Bezirkssekretär der LDPD Magdeburg erhielt am 27.10.1956 einen Brief mit 21 provokatorischen Fragen wie z. B.: Rücktritt Ulbrichts, Benjamins10 usw. Freilassung der politischen Gefangenen und anderes. Absender des Briefes ist ein Dr. H. aus Magdeburg, der bereits mehrmals negativ aufgefallen ist.

Hetzlosungen

Magdeburg: In der Nacht zum 27.10.1956 wurde an eine Hauswand der Käthe-Kollwitz-Schule Schönebeck, Jacobistraße, die Hetzlosung: »Iwan go-mou« [sic!], mit Nitrofarbe Größe 10 × 15 cm angeschmiert. Am 27.10.1956 wurde im »Ernst-Thälmann-Werk« in der Toilette des Betriebes 03 die Hetzlosung: »Streiken, wie in Ungarn gestreikt wird« festgestellt. Die Losung war mit weißer Kreide geschrieben, Buchstaben 15 cm groß.

Rostock: In Ribnitz, [Bezirk] Rostock, Nizzestraße,11 wurde an die Hauswand in 10 cm hoher Blockschrift »Nieder mit der SED« geschrieben.

Halle: Im VEB Zemag, Zeitz, wurde an der Tür der Toilette mit Bleistift folgende Hetzlosung geschrieben: »Der Russe ist ein schwarzes Schwein, der Ungar ist ein Engelein.«

Erfurt: In den Abendstunden des 28.10.1956 wurde eine Hetzlosung an die Betriebstür des VEB Anlagenbau »Mao tse tung« Ring Erfurt12 angeheftet. Wortlaut: »Helft Ungarn! Deutsche Arbeiter, Bauern, Soldaten und Wissenschaftler helft Ungarn. Soldaten schießt nicht auf uns, führt Streiks durch. Noch wird in Ungarn gestreikt. Kämpft und streikt für Deutschland und Ungarn. Unsere Forderung:

  • 1.

    Abzug der Russen

  • 2.

    Ein freies, unabhängiges, einiges Deutschland

  • 3.

    Weg mit dem Kommunismus

  • 4.

    Eine neue Regierung

  • 5.

    Einen höheren Lebensstandard.«

Berlin: Am 28.10.1956 wurde bekannt, dass im S-Bahnzug die BEB 167 097, PS 1685 H 5 mit Ölfarbenstift folgende Hetzlosung angebracht war: »Nieder mit Wilhelm Pieck.«

Hetzschriften

Magdeburg: Am 27.10.1956 wurden in der Feldmark Brumby, Kreis Haldensleben, ca. 100 Hetzschriften vom »Freiheitsrat« gefunden. Inhalt: »Arbeite Langsam«. Wurden vermutlich durch Ballon eingeschleust.

Halle: Am 28.10.1956 02.02 Uhr wurde in Halle, Ludwig-Wucherer-Straße,13 eine Hetzschrift in Handschrift mit der Hetzlosung »Weg mit dem Zuhälter Ulbricht« gefunden.

Gerüchte

Magdeburg: In der Gemeinde Gladigau,14 Kreis Osterburg, wurde das Gerücht verbreitet, dass auf der nächsten Volkskammersitzung darüber abgestimmt wird, ob die enteigneten Bauern ihre Höfe wiederbekommen sollen.15 Eine Angestellte der VEAB Magdeburg erzählt, dass zur Tagung des ZK der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei die sowjetische Delegation aufgefordert worden wäre, sofort das polnische Territorium zu verlassen.16 Polen habe sich wegen wirtschaftlicher Hilfe an Adenauer17 gewandt.

Besondere Vorkommnisse

Magdeburg: In der Gastwirtschaft »Lücke« Langenweddingen, Kreis Wanzleben, werden laufend Fernsehsendungen von westdeutschen Sendern empfangen. Vor einigem Tagen sahen ca. 35 Personen den Film »Tanz in die Freiheit«.18 Dieser Film beinhaltet eine starke Hetze gegen die Sowjetunion und die ungarische Regierung.

Am 27.10.1956, gegen 23.00 Uhr, brannte die Motormühle des [Vorname Name] in Tangerhütte, [Bezirk] Magdeburg. Ursache bisher unbekannt. Schaden ca. 120 000 DM.

Erfurt: In den Abendstunden des 28.10.1956 sprach eine Person in verschiedenen Straßenbahnen das Fahrpersonal an, ob sie nichts unternehmen wollten, um in Ungarn die Aufstände zu unterstützen.

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    29. Oktober 1956
    Information Nr. 287/56 – Betrifft: Stimmung zum Vierbrigadesystem und 10.00 Uhr-Ablösung bei der Deutschen Reichsbahn

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    29. Oktober 1956
    Information Nr. 284/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (27.10.1956, 14.00 Uhr, bis 28.10.1956, 22.00 Uhr, eingegangenes Material)